Frühgeburt
Frühchen: Wenn das Baby 3 Monate zu früh kommt
Luana kommt drei Monate zu früh zur Welt. Sie wiegt lediglich 860 Gramm. Für die Mutter Ishema Ewanga-Nde beginnt die Zeit des Bangens und Wartens. Eine Reportage aus der Neonatologie im Inselspital Bern.
Inselspital Bern, 20. November 2019, 17.30 Uhr. Es ist ein niesliger Novemberabend, Autos fahren mit eingeschalteten Scheinwerfern am Gebäude der Frauenklinik vorbei. Hier, im Theodor-Kocher-Haus, ist die Neonatologie untergebracht. Vorübergehend. Ein Provisorium für drei Jahre. Bis die Sanierungsarbeiten fertig sind.
Die Frühgeborenen-Station befindet sich im zweiten Stock. Um diese Uhrzeit wird es langsam ruhig. Vereinzelte Eltern sind noch hier, andere sind nach Hause gegangen. Zurück in einen Alltag, der sich noch vor Kurzem anders angefühlt hat. Durch die lange Fensterfront scheint blass der Mond.
Winzlinge in Isoletten
Zwölf Isoletten stehen verteilt in drei Kojen. So nennt man hier die offenen, durch Glaswände getrennten Räume. In den sperrig scheinenden Bettchen liegen kleine Wesen, wie von einem anderen Stern. Winzige Babys, roh, unfertig, wie durchscheinend die Haut. Sie tragen nichts ausser einer Mini-Windel, doch selbst die scheint zu gross. Sie liegen auf dem Bauch, feine Schläuche in Mund und Nase, Sonden auf der Haut.
Die Isoletten regeln Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Sauerstoff im Innern. Alle Babys sind zu früh geboren, einige wiegen lediglich ein paar Hundert Gramm. Ein sanfter Gong-Ton durchbricht in unregelmässigen Abständen die Ruhe. Ein Alarmsignal, wenn eines der Frühchen Probleme mit der Atmung hat.
Ishema Ewanga-Nde verabschiedet sich von ihrer Tochter. Seit etwas mehr als drei Wochen verbringt die 36-Jährige jeden Nachmittag auf der Neonatologie. Zuerst auf der Intensivstation, dann auf der Zwischenstation IMC, der Abteilung, auf die Frühchen verlegt werden, die selbstständig atmen können. Ishema Ewanga-Nde erzählte uns an diesem Nachmittag, wie es war, als ihre Tochter am 27. Oktober zur Welt kam. Viel zu früh.
♦ Als Frühgeborene gelten Babys, die unter der vollendeten 37. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen.
♦ Unter der 35. Woche werden alle Kinder auf der Neonatologie am Monitor überwacht.
♦ Als extreme Frühgeborene gelten Kinder unter der 27. Schwangerschaftswoche.
♦ Unter 22 Wochen ist ein Kind nicht lebensfähig.
♦ Das Berner Inselspital behandelt jährlich rund 600 bis 700 Neugeborene.
♦ Davon sind etwa 140 bis 150 Frühgeborene jünger als 32 Wochen oder mit einem Gewicht unter 1500 Gramm.
♦ In der Regel bleiben frühgeborene Kinder bis zum errechneten Geburtstermin auf einer der Neonatologie-Stationen.
♦ Die Richtlinien der Schweizerischen Gesellschaft für Neonatologie sehen vor, dass nach vollendeter 24. Woche Frühgeborene medizinisch versorgt werden müssen. Sind sie jünger, entscheiden grundsätzlich die Eltern, unterstützt von einem Ärzteteam, über lebensverlängernde oder palliative Massnahmen.
♦ Die Richtlinien über lebenserhaltende Massnahmen wurden gerade überarbeitet. Denn entscheidend seien nicht nur die derzeit geltende Grenze von 24. Wochen, sondern verschiedene Faktoren wie der Zustand des Babys, das tatsächliche Gestationsalter (die Zeit im Bauch der Mutter), das Gewicht und die Lungenreife. «Das Beste zu tun im Interesse des Kindes steht bei den Abwägungen im Zentrum», sagt Jane McDougall, Ärztin und Abteilungsleiterin Neonatologie.
Schock Frühgeburt
«Es war 14.28 Uhr, als sie meine Tochter aus meinem Bauch hoben. Sie musste per Kaiserschnitt geholt werden. In der 26. Woche. 860 Gramm leicht. 36 Zentimeter klein. Ich konnte sie nur kurz sehen. Später sagen die Ärzte, sie habe leise geschrien. Ich habe es nicht gehört. Sie brachten sie weg. Und ich wusste nicht, wie es ihr geht, was sie durchmachen muss. So ganz alleine. Und ich konnte nicht bei ihr sein, ihr beistehen.
Das war so furchtbar. Erst am Abend konnte ich zu ihr. Meine Schwester Maithe war bei mir. Ich weiss nicht, ob ich es allein geschafft hätte. Durch die seitliche Öffnung der Isolette berührte ich den winzigen Arm meines Babys. Meine Hand zitterte, ich hielt die Luft an. Aus Angst, ihr weh zu tun. Sie war doch noch gar nicht bereit für diese Welt. Sie hätte noch in meinem Bauch sein sollen, ich hätte sie beschützen wollen, sie hätte in mir wachsen und gedeihen sollen.
Doch nun ist da, wo sie sein sollte, nichts. Nur eine grosse Leere. Ich konnte mein Kind nicht in die Arme schliessen, an ihr riechen, sie liebkosen, so wie ich mir das vorgestellt hatte. Sie hatte noch nicht mal einen Namen.»
Alltag in der Neonatologie
- November, 9.30 Uhr, Neonatologie Intensivstation. Um diese Zeit herrscht hier emsiges Treiben. Stimmengewirr, Lachen, vermischt mit elektronischen Geräuschen erfüllen die Räume. Ärzte stehen gebeugt über Tabellen, kontrollieren Daten, untersuchen Babys, entscheiden über weitere Therapien. Auf Frühgeborene spezialisierte Pflegefachfrauen versorgen die Babys.
In zwei Kojen sind sechs Bettchen besetzt, vier Buben und zwei Mädchen. «Hallo Lieblingsmensch!» «Willkommen im Leben!» «Hurra! Heute bin ich ein Kilo schwer!» Liebevoll gestaltete Bilder und Karten hängen hinter den Isoletten an den Wänden. Zeichnungen und Fotos von Geschwistern, Wünsche von Opa und Oma, Mama und Papa.
Bevor die Pflegefachfrauen mit der Morgenroutine beginnen, begrüssen sie die Babys mit liebevollen Worten, streicheln sanft über den Kopf, die Füsschen. Sie trösten, wenn die Kleinen weinen, machen Mut, summen leise Lieder. Mit flächigen, langsamen Bewegungen waschen sie Gesichter, Körper, die Händchen, die oft nicht viel grösser sind als der Fingernagel eines Erwachsenen.
Belastend für die Pflegenden
«Körperkontakt, klare Berührungen und Nähe sind wichtig, damit die Babys sich spüren und Kontakt zur Welt ausserhalb der künstlichen Atmosphäre bekommen», sagt die Leiterin der Intensivstation, Claudia Zimmermann. Wenn man lange liege, verliere man die Wahrnehmung zum eigenen Körper. Das sei auch bei Frühchen so.
Es ist ganz schön viel, was diese kleinen Menschen ertragen müssen: Blutabnahmen bis zu acht Mal am Tag, Infusionen setzen, Temperatur messen, intubieren, Nasensonde stecken. «Sind sie noch sehr jung, ist die Haut noch nicht richtig gereift, dann verursacht jede Berührung Schmerzen», so Claudia Zimmermann. Manche Babys sind schwer krank und müssen bereits in den ersten Lebenstagen operiert werden.
Claudia Zimmermann ist in Deutschland aufgewachsen. In die Schweiz kam sie wegen der Berge, wegen des Skifahrens. Seit 29 Jahren arbeitet sie auf Intensiv-Neonatologien, seit 15 Jahren im Inselspital. Unzählige Babys hat sie auf ihrem schweren Start ins Leben begleitet. Oder in den Tod.
«Manchmal kämpft man bis zur letzten Sekunde, und dann reicht es trotzdem nicht.» Die Arbeit sei schön und schwer zugleich, sagt Claudia Zimmermann. «Du musst nach Schichtende die Tür hinter dir zuziehen, musst dir einen guten Ausgleich im Privatleben schaffen.» Könne man das Schwere nicht zurücklassen, mache man diese Arbeit nicht sehr lange.
Die meisten Frühchen überleben
Oft sind die Frühchen dem Tod näher als dem Leben. Doch die meisten überleben. Ob sie jedoch mit einer schweren Behinderung leben müssen, ob sie bleibende Schäden erleiden oder alles mit leichten oder ganz ohne Beeinträchtigungen überstehen, kann zu diesem Zeitpunkt meist niemand sagen.
«Das zeigt sich erst, wenn die wichtigsten Entwicklungsschritte abgeschlossen sind, meist nach zwei bis vier Jahren», sagt Jane McDougall, Ärztin und Abteilungsleiterin Neonatologie.
«Hallo Maus, na, wie geht es meiner Süssen?», begrüsst Ishema Ewanga-Nde ihre Tochter. Prompt beginnt die Kleine, die gerade noch tief zu schlafen schien, sich zu regen.
Nach der Geburt hatte sich die Mutter ein paar Tage Zeit gelassen, ihre Tochter kennenzulernen. Dann wusste sie den Namen für ihr Baby. Luana. Was nach albanischer Herkunft so viel wie «starke Kämpferin» oder «Löwin» bedeutet. «Ich war so beeindruckt von diesem willensstarken kleinen Mädchen. Sie hat mir Mut gemacht, und ich dachte, wenn sie, so winzig klein wie sie ist, so kämpfen kann, dann kann ich das auch.»
Schuldgefühle nach Frühgeburt
Bei vielen Eltern bricht mit einer unerwarteten Frühgeburt alles zusammen. Das war auch bei Ishema Ewanga-Nde so. «Bin ich schuld? Was habe ich falsch gemacht? Habe ich mir zu viel zugemutet?»
Ishema Ewanga-Nde lebt in Lübeck (D). Gemeinsam mit ihrem fünfjährigen Sohn Elijas war die Altenpflegerin von der norddeutschen Stadt in die Schweiz gefahren, nach Freiburg, um ihre Schwester zu besuchen, elf Stunden Zugfahrt. Geplant war eine Woche Ferien. Ein paar Stunden nach der Ankunft ging schwallartig das Fruchtwasser ab.
Stark sind ihre Emotionen, als Ewanga-Nde die Ereignisse Revue passieren lässt: die ersten Tage auf der Geburtenabteilung, dann der Entscheid der Ärzte, das Kind zu holen, weil die Werte schlecht waren. Und nach dem Kaiserschnitt die Nachricht, dass Luana an einem schweren Infekt erkrankt war. «In dieser Zeit war ich total blockiert», sagt sie. Sie habe Luana zwar berühren, aber nicht wickeln oder waschen können. Es war alles zu viel.
Fühgeburt: Niemand kann etwas dafür
Und da war noch die Trennung von ihrem Sohn, der nach Lübeck zurückgereist war, zur Familie, damit er einen möglichst geregelten Alltag hat, in den Kindergarten gehen kann. Während sie, die Mutter, in Bern festsitzt, mit der Sehnsucht nach einem ganz normalen Alltag mit ihren Kindern. Jeden Tag fragt Elijas: «Mama, wann kommst du?» Sie weiss es nicht.
«Eltern machen sich oft schwere Vorwürfe», sagt die Ärztin Jane McDougall. Doch warum es zu Frühgeburten kommt, sei meist nicht zu eruieren. «Es gibt schon Faktoren, die das Risiko erhöhen, wie etwa Mehrlingsschwangerschaften oder Vorerkrankungen», so Jane McDougall. «Doch Frühgeburten geschehen. Niemand kann etwas dafür.»
Um den Eltern zu helfen, bietet das Inselspital das Programm «Cope» an. Betroffene lernen, mit ihren Schuldgefühlen, Ängsten und mit ihren Frühchen umzugehen. Zudem kümmern sich bei Bedarf hausinterne Psychologinnen um die Eltern. Ishema Ewanga-Nde hatte das Bedürfnis. «Die Gespräche mit der Psychologin haben mir sehr geholfen, mit meiner tiefen Trauer besser umzugehen», sagt sie.
Känguruhen stimuliert Frühchen
Zwei Wochen später: 3. Dezember, 13 Uhr, Neonatologie Abteilung IMC. Fast sechs Wochen sind nach dem Kaiserschnitt vergangen. Luana sieht nun rosig aus, die Bäckchen sind voller geworden. Doch noch immer ist ihre Haut faltig, so, als trüge sie einen viel zu grossen Pyjama. 37 Tage nach ihrer Geburt ist sie 1330 Gramm schwer. Seit fast zwei Tagen atmet sie selbstständig, ohne unterstützende Atemmaske.
Die Mutter strahlt. Stolz. Sie hat zudem gute Nachrichten: Die Ärzte sind mit der Klinik in Lübeck im Gespräch, Luana soll schon bald in ihre Heimatstadt überführt werden. Zwar wird das Baby auch in der Lübecker Klinik auf der Neonatologie bleiben müssen. Wahrscheinlich bis zum errechneten Geburtstermin, dem 30. Januar. Ishema Ewanga-Nde freut sich trotzdem. Denn dann ist sie wieder zu Hause, bei ihrem Sohn, ihrer Familie. Der ganz normale Alltag rückt näher.
Sie holt sich draussen auf dem Gang eine Liege, rückt diese neben Luanas Isolette, bis es passt und macht sich bereit fürs Känguruhen. Die Känguruh-Methode, ursprünglich aus Kolumbien, wurde Anfang der 1990er-Jahre auf der Neonatologie des Inselspitals eingeführt. «Sobald es der Zustand der Kinder erlaubt, ermuntern wir die Eltern, mit dem Känguruhen zu beginnen. Idealerweise innerhalb von 24 Stunden», sagt Therese Bärfuss, Co-Leiterin der IMC-Station. Die Babys werden auf die nackte Brust ihrer Eltern gelegt und könnten sie so spüren, fühlen, riechen und hören, alle Sinneswahrnehmungen der Kinder würden stimuliert.
«Für eine positive Entwicklung ist das sehr wichtig. Zugleich wird ein schöner Ausgleich zur technischen Reizüberflutung des mühevollen Alltags geschaffen», so Bärfuss. Doch auch für die Eltern sei Känguruhen wichtig und tröstlich. Denn das Kind, sonst in der Isolette isoliert, sei spürbar und ganz nah. Das Abstrakte wird real.
Ärzte geben Luana gute Chancen
An diesem Tag sind es fast ausschliesslich Väter, die mit ihren Babys eingekuschelt daliegen. Auch Luana wird sachte auf Ishema Ewanga-Ndes Brust gehoben. «Anfangs war Luana so leicht, hätte ich ihr Herzchen nicht klopfen gespürt, ich hätte sie gar nicht wahrgenommen», erzählt die Mutter.
Den kleinen, feinen Babykörper zu spüren, ist für sie jedes Mal ein äusserst emotionaler Moment. «Ich weine viel, denn die Leere in meinem Bauch, klaffend und dunkel, ist dann jeweils sehr präsent. Ich krieg die Zeit ja nicht zurück. Doch mittlerweile kann ich die Trauer zulassen. Und mag die Kuschelzeit sehr.»
Luana geniesst es auch, sie liegt zufrieden da, ruhig, entspannt. Die Mutter nimmt einen Spiegel zur Hand. Damit sie Luanas Gesicht anschauen kann. «Die Augen hat sie von meinem Vater. Die Nase von ihrem Papa. Die Ohren auch», sagt sie und lächelt.
Laut den Ärzten hat Luana eine gute Prognose. Gut möglich, dass sie sich ganz normal entwickeln wird. Was bleibt von dieser Geschichte? Ishema Ewanga-Nde überlegt. Und meint dann: «Ja unglaublich viel. Zumindest hat man was zu erzählen.» Für sie hat alles auch eine spirituelle Komponente. «Luana ist einen Tag vor dem Geburtstag meines Vaters geboren. Er ist letztes Jahr in Freiburg gestorben, am 19. November. Muss ich deswegen hier sein? Nochmals alles durchleben?»
Sie schliesst die Augen. Geniesst die Ruhe, ihr Baby. Dann schläft sie ein. Wie immer, beim Känguruhen.
WhatsApp 21. Dezember 2019: «Wir fliegen nach Hause! Morgen um 11 Uhr startet der Ambulanzjet ab Bern-Belp. Danach gehts zum Universitätsklinikum Lübeck. Meine Nervosität steigt. Doch ich bin erleichtert und sehr glücklich. Bald werde ich Elijas in die Arme schliessen!»
Als Quereinsteigerin in den Journalismus schreibt Anita Zulauf erst für die «Berner Zeitung», die Migrationszeitung «Mix», nun bei «wir eltern» und als freie Journalistin bei dem Kulturmagazin «Ernst». Sie mag Porträts und Reportagen über Menschen-Leben und Themen zu Gesellschaft und Politik. Als Mutter von vier Kindern hat sie lernen müssen, dass nichts perfekt, aber vieles möglich ist.