Familiengeheimnisse
Warum Familiengeheimnisse belasten
Es gibt Dinge, über die wir nicht gerne sprechen, weil wir Scham empfinden oder jemanden schützen wollen. So entstehen Familiengeheimnisse. Sie schaffen jedoch emotionale Verwirrung und Distanz, besonders bei Kindern.
Wer in einer geselligen Runde den Versuch wagt, das Gespräch aufs Thema Familiengeheimnisse zu lenken, darf damit rechnen, von allen Seiten in kleinere und grössere Geheimnisse eingeweiht zu werden.
So scheint fast jede Familie einen Onkel zu haben, der sich nach einer gescheiterten Ehe und erst mit weit über 40 als schwul geoutet hat – zur Erschütterung der eigenen Eltern, die es vorgezogen hätten, das Geheimnis wäre nie gelüftet worden. Auch Abtreibungen sind Gegenstand von Geheimnistuerei.
Eine Frau berichtet von zwei Schwangerschaftsabbrüchen, die sie den später geborenen und mittlerweile erwachsenen Kindern bis heute verschwiegen hat – und selber nicht so genau weiss wieso. «Die Abtreibungen an sich belasten mich nicht, aber dass ich es meinen Kindern nie gesagt habe, stört mich», sagt die Mitfünfzigerin.
Beschämendes verstecken
Die meisten Menschen zeigen nach aussen hin nur, worauf sie stolz sind. Alles Abweichende, alles Schambehaftete oder Schmerzliche hingegen behalten wir für uns, denn das ist privat. So privat sogar, dass wir manchmal nicht mal mit den eigenen Angehörigen darüber sprechen.
«Jede Familie hat ihre Geheimnisse», sagt Anna von Senger, Paar- und Familienberaterin IKP in Zürich. «Weil Moral und Normen der Gesellschaft einem steten Wandel unterliegen, sind manche Dinge heute weniger tabu als früher.» Abtreibung etwa, oder auch Homosexualität, die lange Zeit als Krankheit galt.
Immer noch fällt es vielen Leuten aber schwer, über berufliche Misserfolge wie Stellenverlust oder Konkurs zu sprechen, über Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken, Entzugs- oder gar Haftanstalten – so schwer, dass oft nur die nächsten Familienmitglieder eingeweiht sind.
Auch aussereheliche Beziehungen werden oftmals über lange Zeit «weggeschwiegen» – vor dem Partner, vor den Kindern. Ebenso kompliziertes und dunkles Terrain sind Suizide und Fälle von Missbrauch oder Gewalt in der Familie, weil diese zutiefst scham- und schuldbehaftet sind.
Das Geheimnis soll schützen
Es ist das Recht des Einzelnen, nicht mit allen über alles zu reden. Jeder Mensch entscheidet für sich selbst, wie offenherzig er oder sie sich in die Karten blicken lassen will. Wer Angst davor hat, wie das Umfeld auf eine Tat oder einen Sachverhalt reagiert, wird sich nicht gern zeigen, wird versuchen, der Kritik oder Bewertung der anderen auszuweichen, um sich nicht angreifbar zu machen, sich keine Blösse zu geben.
Geheimnisse haben deshalb die Funktion, etwas zu schützen. Sie wirken aber auch trennend und verursachen damit Leid und Irritation für den Geheimnisträger selbst wie auch für die Personen, die aussen vor bleiben.
Wie bei dieser Familie: In den Ferien beobachtet eine 14-Jährige, wie Angehörige der Grossmutter ein Glas Wein verweigern. «Ich wunderte mich und hatte ein ungutes Gefühl», erinnert sich die heute 44-Jährige. Dass die Oma über Jahrzehnte alkoholsüchtig gewesen war und mehrmals in Entzugskliniken war, hatte dem Teenager niemand gesagt. «Als ich viel später von ihrer Sucht und den Entzügen erfuhr, machte die Szene plötzlich Sinn. Gleichzeitig empfand ich es als beleidigend, dass man mir nicht früher zugetraut hatte, mit der Realität umzugehen.»
Klarheit schafft Vertrauen
Von nahestehenden Erwachsenen Klarheit und Gewissheit zu bekommen, erzeugt im Innern der Kinder Sicherheit und Vertrauen. Je näher ein Kind mit der Person verbunden ist, um die es bei der Geheimhaltung geht, desto belastender erlebt es die Situation.
«Ich war etwa acht, als meine Mutter psychisch erkrankte», erzählt eine junge Frau. Obwohl sich die Krankheit über mehrere Jahre hinweg zog, wurde nicht darüber geredet. In der schlimmsten Zeit stand die Mutter am Morgen nicht mehr auf, um Frühstück zu machen und in der Küche die Vorhänge zu öffnen. Das Mädchen geriet in innere Not: «Ich wollte unter allen Umständen verhindern, dass meine Gspändli, die mich am Morgen für die Schule abholten, die geschlossenen Vorhänge sehen. Ich hätte nicht gewusst wie ich ihnen erklären sollte, dass meine Mutter immer noch im Bett lag.» Alleingelassen habe sie sich gefühlt, als wäre die Krankheit der Mutter nicht schon belastend genug gewesen.
Vertrauen schwindet
«Wird einem Kind eine bittere Wahrheit verschwiegen, die es selbst oder seine Eltern betrifft, wird häufig mehr seelischer Schaden angerichtet, als wenn ihm liebevoll und altersgemäss dosiert die Wahrheit vermittelt wird», sagt die deutsche Familientherapeutin Irmela Wiemann.
Die Kinder neigen dann dazu, das geheimnisumwitterte Schweigen mit Vermutungen und ihrer eigenen Fantasie auszufüllen. Erwachsene tun das übrigens auch und eigentlich wissen wir genau, wie unangenehm es ist, zu ahnen, dass etwas nicht in Ordnung ist, jedoch nicht darüber aufgeklärt werden, was gerade passiert. «Wer Wichtiges verschweigt, reisst einen Graben auf zwischen sich und dem andern», sagt Anna von Senger.
Das Geheimnis ist keine Lüge
Das Geheimnis selbst ist allerdings keine Lüge. Um es aufrechtzuhalten, muss aber oft gelogen werden. «Und beides, Geheimnis und Lüge führen dazu, dass das Vertrauen schwindet», so die psychologische Beraterin.
Für die Kinder hat dies Auswirkungen auf ihr weiteres Leben: Sie wachsen in einem Raum auf, in dem Wegschauen, Verschweigen und Lügen als tragende Strategien des Zusammenlebens erlernt werden. Schaffen es Eltern, mit ihren Kindern über schwierige Lebenssituationen zu reden, lernen die Kinder, dass Herausforderungen gemeistert werden können.
Es ist nicht so, dass es die Eltern schlecht meinen mit den Kindern, wenn sie unangenehme, ernste oder schwere Dinge verschweigen. Im Gegenteil. Sie möchten die Kinder schonen und verhindern, dass sie unter den unangenehmen Tatsachen leiden oder Angst bekommen, gerade wenn es um Krisen, Sucht oder Krankheit geht. «Was ich nicht weiss, macht mich nicht heiss», sagt der Volksmund und gibt denjenigen recht, die nicht den Mut aufbringen, offen und ehrlich zu sein.
Emotionen lügen nicht
Doch das Sprichwort blendet die Zwischentöne aus. «Fakten können verschwiegen werden, Gefühle nicht», sagt Anna von Senger. «Wir alle haben ein Gespür dafür, ob ein Mensch aufrichtig, eine Erklärung stimmig ist. Wir nennen es den sechsten Sinn. Bei Kindern ist er sogar noch ausgeprägter vorhanden.»
Da ist ein diffuses Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Es verunsichert und macht Kindern ganz besonders zu schaffen. Manche Menschen reagieren sensibler als andere auf eine ihnen vorenthaltene Wahrheit. «Unerklärliche Ängste und Zwänge können auftauchen, rätselhafte Bilder, die nicht einzuordnen sind, bis zu Gefühlen von Selbstentfremdung», sagt Anna von Senger.
Wenn der Vater Krebs hat und die fünf- und neunjährigen Kinder nichts von der lebensbedrohlichen Krankheit erfahren sollen, spüren die Kinder trotzdem, dass die Eltern in Sorge sind. Sie merken vielleicht, dass die Mutter unter Menschen fröhlicher ist als zu Hause, wo sie häufig bedrückt wirkt. Stimmung und Verhalten des Vaters sind sehr wechselhaft.
Allein gelassen und überfordert
«Nicht die verschiedenen Verhaltensweisen sind das Problem, sondern das Verschweigen der Gründe für dieses Verhalten», schreibt die dänische Familientherapeutin Karen Glistrup in ihrem Buch «Sag mir die Wahrheit». Sie möchte Eltern helfen, mit Kindern altersgerecht über Krankheit und Krisen zu sprechen.
Unterlasse man dies, müsse das Kind die Ursachen des elterlichen Verhaltens alleine ergründen, was eine Überforderung sei. Kinder seien instinktiv auf der Suche nach Zusammenhängen. Herrsche in ihrem Umfeld Schweigen, so sei es für sie nahezu unmöglich, sinnvolle Zusammenhänge herzustellen. «Das kann dazu führen, dass die Kinder in einem konstanten Stresszustand sind», so Glistrup.
Reaktion: Überangepasstheit
Kinder gehen oft vergessen, wenn Eltern mit einer schwierigen Situation beschäftigt sind. Ganz besonders, weil Kinder ihr Unwohlsein oft nicht so zeigen, damit es nach aussen hin sichtbar ist – das tun Erwachsene ebenso und die Kinder lernen von ihnen. Sie spüren, dass auffälliges oder problematisches Verhalten die Eltern belasten würde und reagieren deshalb mit Überangepasstheit. Später sagen dann diese Kinder Dinge wie «Niemand hat mich gesehen» oder «Keiner wusste, wie es mir ging».
Glistrup ist deshalb überzeugt: «Durch das Schweigen schont man Kinder nicht, man lässt sie im Stich.» Doch Geheimnisse entstehen nicht immer nur, weil wir etwas verheimlichen wollen. Manchmal wissen wir ganz einfach nicht, wie wir schwierige Geschehnisse in Worte fassen können, ganz besonders Kindern gegenüber. Gerne schieben wir darum ein solches Gespräch vor uns her – mit der Folge, dass die Aufgabe immer grösser und komplizierter wirkt und es immer unmöglicher scheint, einen Anfang zu finden.
Gefühlsdurcheinander ordnen
Wenn wir Schwieriges mitteilen wollen, müssen wir deshalb Vorarbeit leisten und unser Gefühlsdurcheinander ordnen. Das bedeutet, dass wir den mit dem Geheimnis verbundenen, oft höchst ungeliebten Gefühlen wie Scham, Schuld, Wut oder Angst nicht aus dem Weg gehen.
«So kann eine klare innere Haltung, ein innerer Standort entwickelt werden», sagt Irmela Wiemann. «Erst wenn wir das Schwere als zu unserem Leben dazugehörig annehmen können, sind wir stark genug, einen komplizierten Sachverhalt so weiterzugeben, dass er für das Kind zu verstehen und einzuordnen ist.»
Geheimnis offenlegen?
Einfach ist das nicht. Deshalb kann es hilfreich sein, psychologische Begleitung in Anspruch zu nehmen, auch weil die Offenlegung eines Geheimnisses beim Gegenüber unter Umständen eine Krise auslösen kann. «Es gilt aber auch zu respektieren, wenn jemand sich ausser Stande sieht, über ein Geheimnis zu reden», sagt Anna von Senger.
Doch oft ist es ebenso schwer, mit einem Geheimnis zu leben wie darüber zu sprechen. «Wer es schafft, Licht ins Dunkel zu bringen, fühlt sich befreit und erleichtert», sagt Familienberaterin von Senger. «Vertrauen kann sich wieder bilden, Vergebung ist möglich.» Allerdings nur dann, wenn die Geheimnisträger* innen es schaffen, beim Gegenüber Verständnis für ihr Handeln zu erhalten. Dazu sind manchmal viel Zeit und lange Gespräche nötig. «Gelingt dies, kann eine neue Nähe entstehen, und Nähe ist, was uns glücklich macht», sagt Anna von Senger.
Veronica Bonilla wollte früher Fallschirmspringerin werden. Seit sie den freien Fall bei der Geburt ihrer Kinder erlebt hat, hat sich dieser Wunsch in Luft aufgelöst. Übergänge und Grenzerfahrungen faszinieren sie bis heute. Dabei liebt sie es, um die Ecke zu denken und sich davon überraschen zu lassen, was dort auftaucht. Und stellt immer wieder fest, dass ihr Herz ganz laut für die Kinder schlägt. Sie war bis 2022 auf der Redaktion fest angestellt, seither als Freie für das Magazin tätig.