Elternkolumne
Warum diese Hektik, liebe Schweizer?
Von Camilla Landbø
Echt jetzt! Camilla Landbø war in der Schweiz alles zu hektisch. Deshalb zog die Journalistin mit ihrem Sohn nach Bolivien. Auch dem Kindswohl zuliebe.
zvg/Christian Lorbardi, Gabriela Gründler
Camilla Landbø (44) lebt seit anderthalb Jahren mit ihrem Sohn Amaru (5) in La Paz. ➺ camillalandboe.com
Vor rund zwei Jahren sass ich in meiner Wohnung in Bern und dachte: Und so geht es jetzt bis zur Pensionierung weiter? Hierhin rennen, dorthin rennen. Jeden Morgen im Eilschritt zur Kita, in den Kindergarten oder zur Arbeit stolpern. Dies erledigen, das abarbeiten, jenes abhaken.
In der Schweiz kriegen wir fast keine Luft, aber keiner merkts! Erst wenn man wieder in Freiheit ist und der Druck weg, stellt man fest, dass man mehr aushält als gewollt. Ein Hundeleben. In der Duldungsstarre.
Da wurde mir klar: Nicht nur für mich möchte ich das nicht. Ich will auch nicht, dass mein Kind mit dem Satz aufwächst: «Chum Amaru, mach, mir müesse pressiere!» Pressiere, pressiere, pressiere.
Also habe ich meine Arbeit als freie Journalistin in Südamerika wieder aufgenommen. Klar, die ersten vier Jahre waren für Amaru in der Schweiz ideal: Schöne Spielplätze, Parks, Schwimmbäder, gut fabrizierte Spielsachen, tolles Gesundheitssystem, Velo mit Anhänger inklusive Velowege, Ruhe, Sicherheit. Wenn man ganz klein oder ganz alt ist, ist die Schweiz super.
Bolivien. Als wir in La Paz ankamen, hetzte ich die ersten Tage noch völlig obsessiv mit meinem Sohn in die neue Kita. Damit wir auf keinen Fall zu spät kommen. Eine Todsünde. Aber schon bald bemerkte ich, dass mir in der Kita gar niemand tief und intensiv in die Augen schaute, wenn wir ein wenig zu spät eintrafen. Wissen Sie, dieser Blick, der sagt: Mmm, nid so guet, söt auso de nümmä passiere, gällät si. Dass man davor das Kind, das die Nacht durch schlecht geträumt hatte, nur mühsam in die Kleider quetschen konnte und es hinter sich herziehen musste, damit man statt zwanzig nur zehn Minuten zu spät kommt – interessiert niemanden.
In La Paz schaute mich also keiner eulenhaft an. Was mich erst irritierte und dann bei mir einen eigenartigen Mechanismus auslöste: Lust aufs Abchecken, wo die Schmerzgrenze liegt.
Pubertär? Mag sein. Aber würden Sie nicht auch gerne mal wieder unvernünftig sein? Ausschweifend? Wir gingen also jeden Tag ein bisschen später zur Kita. Am Ende brachte ich ihn eine Stunde vor Abholzeit. Immer noch keine vorwurfsvollen Blicke. Es war herrlich! Kein Stress, kein Druck, keine Drohungen. Da renkte ich mich wieder ein. Mein Durst nach Selbstbestimmung war gestillt.
Die Kita-Episode zeigte mir: Legt man ein zu enges Korsett ab, flippt man erst aus. So stelle ich mir übrigens auch die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommen vor. Erst drehen wir alle durch, hängen nur noch auf dem Sofa ab, dann pendelt es sich wieder ein – und wir werden in einer zufriedeneren und kreativeren Gesellschaft leben, zumindest ein bisschen.
Wir Auslandschweizer machen gerne den Witz: Wenn du dich in der Schweiz aufhältst und dich jemand anruft, sag nie, dass du auf dem Sofa herumhängst und nichts tust. Das wäre ein Affront. Antworte immer mit: «Ach, ich habe grad so viel zu tun, bin total kaputt.»
Als ich noch in der Schweiz lebte, fragte ich mich manchmal: Wo genau fängt das Kindswohl an, wo hört es auf? Über extreme Belange wie Verwahrlosung oder Misshandlung müssen wir nicht sprechen. Aber wie viel Stress und Druck mag eigentlich ein Kind ertragen? Auf SRF sah ich die Sendung «Jugendliche unter Druck». Sie berichtete davon, dass immer mehr Heranwachsende die Notfallstation der Psychiatrie aufsuchen. Kein Wunder! Denn bei aller Perfektion wird manchmal vergessen, dass der Mensch Mensch bleibt und Perfektion nun mal nicht kompatibel mit dem Menschsein ist.
Amaru und ich, wir leben in La Paz auf 3600 Metern über Meer. Die Luft ist dünn. Trotz allem haben wir endlich wieder Luft zum Atmen – im Alltag.