Familienleben
Gehetztes Familienleben: Wie Entschleunigung gelingt
Von Simone Steiner / Fotos: Dan Cermak
Familienalltag ist wuselig, laut, lebendig. Vieles lässt sich in so einen Alltag hineinpacken. Hektik zwischendurch darf sein. Aber fühlen sich Eltern und Kinder nur noch gestresst, ist es höchste Zeit zu entschleunigen.
«Sarah bitte beeil dich, du bist knapp dran!» Kurz darauf ein zweites Mal: «Mach jetzt endlich!» Morgendlicher Alltag bei Lienhards in Rombach (AG). Die 6-jährige Sarah soll pünktlich aus dem Haus. Mutter Katja wird ob ihrer trödelnden Tochter zur Kommandantin mit imaginärer Peitsche, darum bemüht, sich das innere Brodeln nicht anmerken zu lassen. Nicht nur das tägliche Antreiben führt bei der fünfköpfigen Familie zu einer gewissen Hektik, sondern auch die vielen Termine der ältesten Tochter, der 10-jährigen Nathalie. Sie spielt Klarinette, geht in die Jugendriege und besucht mit Familienhund Spike wöchentlich die Hundeschule. «Dorthin muss ich sie fahren», sagt Katja Lienhard, «für die Hobbys, die im Dorf sind, nimmt sie hingegen meistens das Velo oder das Trotti.»
Viele Familien gerade mit jüngeren Kindern, die noch nicht die Verantwortung für sich und ihre Termine übernehmen können, empfinden ihr Leben als gehetzt. Eltern fühlen sich im durchgetakteten Alltag angesichts immer wiederkehrender, nervenaufreibender Szenen wie im Film «Und täglich grüsst das Murmeltier», in dem Protagonist Bill Murray in einer Zeitschleife festsitzt und denselben Tag immer und immer wieder durchleben muss. Dass Mütter und Väter dabei nicht immer Haltung bewahren und die Nerven blank liegen, ist menschlich. «Wenn ich selbst arbeiten muss oder viel zu erledigen habe, ist es besonders schlimm», sagt Cornelia Pasinelli aus Unterkulm (AG) über die Stimmung in den Morgenstunden, wenn sie die Töchter Jaël und Maria in den Kindergarten schicken soll. Cornelia und ihr Mann Mario arbeiten beide als Lehrpersonen, er Vollzeit, sie im Teilzeitpensum. Belastend sind für Familie Pasinelli vor allem die vielen Sitzungen, die zum Schulpensum hinzukommen, die eigenen hohen Erwartungen an einen gepflegten Haushalt und die schlaflosen Nächte. Die Jüngste, die 2-jährige Lina, hat nämlich noch nicht ganz herausgefunden, wie das mit dem Durchschlafen genau funktioniert. In Vorahnung eines künftig wahrscheinlich noch erhöhten Gefühls der Hektik sagt Cornelia Pasinelli: «Regelmässige Hobbys und Termine haben die drei Mädchen zum Glück noch nicht, das kommt wohl noch.»
Den Wunsch, mehr Ruhe in den Familienalltag zu bringen, teilen viele Familien. Und finden individuelle Lösungen – oder auch nicht. Wenn es frühmorgens bei Familie Schmidlin in Oensingen (SO) zugeht wie in einem Bienenhaus, kann sich Mutter Nicole nur auf die Stille freuen, die einkehren wird, sobald alle drei Kinder das Haus verlassen haben. «Alle wollen etwas, alle reden gleichzeitig, ein einziges Tohuwabohu», schildert die 49-Jährige. Gegen den turbulenten Morgenstress hat Nicole Schmidlin noch kein Rezept gefunden. «Vielleicht würde es helfen, wenn die Kinder gestaffelt aus dem Haus müssten», meint sie. Mit den Blockzeiten an der Schule sei dies aber kaum möglich. Ansonsten sorge sie dafür, dass sie selbst zur Ruhe komme. «Unsere Kinder spielen sehr viel draussen, das verschafft mir Verschnaufpausen», sagt die Service-Angestellte, die oft abends zur Arbeit muss. Dann übernimmt ihr Mann Abdelmoula das Zepter, macht Abendessen und bringt die Kinder zu Bett.
Hektik fühlt sich nicht gut an. Hektik schadet. Der Spruch «Stress schlägt auf den Magen» hat durchaus seine Berechtigung. Die Auswirkungen eines stressigen Alltags machen sich schon im Kindesalter gesundheitlich bemerkbar. Durchschnittlich einmal im Monat hat der in Aarau niedergelassene Kinderarzt Piero Bianchi ein Kind in seiner Praxis, das über Bauchschmerzen klagt. Ohne medizinische Ursache. «Immer wieder können dann mit gezieltem Nachfragen und einem offenen Ohr Stress und Überforderung als Gründe für solche somatischen Beschwerden gefunden werden», so der Kinderarzt, «das kann vom gelegentlichem Bauchweh bis zur kompletten Schulverweigerung gehen.» Oft helfe es, mit den Eltern darüber zu reden und mehr Ruhe zu verordnen. Bei gravierenden Fällen rät Piero Bianchi zu einer Erziehungsberatung oder verweist an einen Kinderpsychologen.
Kinder zu haben, ist das Schönste auf der Welt. Ein Satz, den viele Eltern unterschreiben würden. Doch warum fehlt ihnen die Zeit, das Schönste einfach zu geniessen? Wie oft wünschen sich ausgelaugte Mütter mitten am Nachmittag, es wäre schon abends um Neun und sie hätten – die Kinder im Bett – etwas Zeit für sich? «Wenn Eltern bemerken, dass ihr Alltag nur noch hektisch ist, dann sollen sie sich überlegen, welche Tätigkeiten wirklich erledigt werden müssen und welches die Tätigkeiten sind, die entspannen und Freude machen», sagt Psychologin Annette Cina vom Familienforschungsinstitut der Universität Freiburg. Sie rät, unbedingt «Nichtstun-Tage» einzuplanen. Für Eltern und Kind.
Kinder mögen Routine und vorhersagbare Abläufe und auch genügend Zeit dazwischen, um einmal nichts tun zu müssen. Oftmals gehts von einem Termin zum nächsten. Kommt etwas Unvorhergesehenes dazwischen, steigt der Stresspegel enorm. Nicht alles, was in einen Terminkalender passt, ist in der Realität wirklich machbar. «Gestresste Eltern reagieren in einzelnen Erziehungssituationen weniger gelassen und ruhig. Damit wird der Stress auf die Kinder übertragen», sagt die Psychologin. Aggressivität, Ängste und geringere Konzentrationsfähigkeit seien nur einige der Folgen.
Stress könne sogar schon im Kindes- oder Jugendalter zu depressiven Symptomen führen wie Freudlosigkeit, Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit. Nicht selten wirke sich dies dann auf die schulischen Leistungen aus oder führe zu Nervosität und schlaflosen Nächten. Deshalb empfiehlt Cina: «Unverplante Zeit muss in jedem Familienalltag Platz finden.» Zauberwort Entschleunigung.
Für ein Familienleben nach dem Prinzip «Slow» haben sich Julia Dibbern und Nicola Schmidt entschieden. Es klappt nicht immer, manchmal scheitern sie. «Stress kommt von alleine. Loslassen und entspannen können, das müssen viele von uns wieder lernen», haben die beiden festgestellt. Wie sie es geschafft haben, ihr Familienleben angenehmer zu gestalten, erzählen sie in ihrem Buch «Slow Family». Das Buch bietet kein Patentrezept zur Entschleunigung. Aber Zutaten für ein einfacheres Leben mit Kindern, wie sie es selbst nennen.
Die beiden Mütter aus Deutschland hatten genug von einer Welt, die nach dem Prinzip «immer schneller, immer weiter, immer besser» funktioniert. «Viele Mütter rennen wie im Hamsterrad. Und versuchen alles unter einen viel zu engen Hut zu bringen. Bis sie ausbrennen», schreiben Dibbern und Schmidt. Warum die beiden Frauen wissen, wie wichtig es ist, langsam und achtsam zu sein und gut für sich zu sorgen? «Ganz einfach. Wir haben es früher anders gemacht. Und es war nicht schön.»
Bereits kleine Veränderungen wie beispielsweise die wöchentlichen Haushalts- und Freizeitaktivitäten reduzieren, handyfreie Stunden festlegen und bewusst Zeit mit den Kindern einplanen, würden das Familienleben entschleunigen und naturnah machen. Und die Natur sei ein wichtiger Bestandteil in einem entspannten Familienalltag. «Wenn wir in unserer artgerechten Umgebung sind, werden wir ruhiger, auch wenn wir es nicht merken. Natur reduziert Stress und macht gute Laune.»
Sie raten zudem zu mehr Liebe und Achtsamkeit. Mit Achtsamkeit meinen sie, man solle sich bewusst dem Jetzt widmen, vom Erledigungsmodus in den Wahrnehmungsmodus wechseln. Und der Materialismus habe heutzutage einen viel zu grossen Stellenwert in der Gesellschaft. Jedoch nur bei den Erwachsenen: «Kinder brauchen keine Sachen. Kinder brauchen Menschen. Gesunde Menschen möglichst. Genug Zeit für einander zu haben, ist ein ebenso wichtiger Bestandteil unseres Wohlhabens wie das Einkommen», schreiben sie in ihrem Buch. Doch nur von Luft und Liebe lässt sich ja bekanntlich nicht leben. Arbeit muss manchmal einfach sein. In ihrem Dorf haben sich die beiden Frauen deshalb ein eigenes «Dorf» geschaffen. Einen Kreis aus Freunden, Nachbarn und Verwandten, in dem man sich gegenseitig hilft, unterstützt, Kinder hütet und für einander einkauft.
Die drei Schweizer Familien Lienhard, Pasinelli und Schmidlin gehen unterschiedlich mit dem Thema Stress um. Sie schaffen sich Inseln, in denen sie als Elternpaar Kraft tanken können, holen sich Unterstützung durch Grosseltern, Nachbarn oder Eltern im Freundeskreis der Kinder, reduzieren die Anzahl Termine, bestimmen Zeiten, die unverplant bleiben sollen, machen Abstriche bei den eigenen Ansprüchen an den Haushalt. Die drei Familien sind sich mit den Experten einig: Damit man im Alltag nicht überhitzt und ausbrennt, muss man oftmals und regelmässig einen, wenn nicht zwei Gänge herunterschalten. Weg vom Gas. Entschleunigen halt.