
Steffi Drerup
Langes Stillen
Wieso tust du dir das an?
Von Ann-Kathrin Schäfer
Mütter, die ihre Kinder mehrere Jahre stillen, müssen sich viel anhören und aushalten. Über ein Tabu, das längst keines mehr sein sollte.
Die Bilder zu diesem Artikel stammen aus dem Fotoprojekt «Mamma» der Berliner Künstlerin Steffi Drerup. Sie hat ihre vier Kinder insgesamt über 76 Monate gestillt und wurde dabei selbst mit dem Stigma des Langzeitstillens konfrontiert. 2019 bis 2022 fotografierte sie Mütter aus Deutschland, Dänemark, den Niederlanden, USA und Australien bei sich zu Hause während des Stillens.
«Dillen?» So fragte mein erster Sohn jeweils, als er langsam zu sprechen begann. Vor dem Einschlafen stillte ich ihn, bis zu jenem Winterabend, anderthalb Monate vor seinem zweiten Geburtstag. Er schaute mich mit seinen grossen braunen Augen an. «Wir versuchen das heute mal ohne», sagte ich und öffnete meine Arme. «Komm her.» Er nickte, kuschelte sich an mich und schlief ein, als hätte er nie was anderes gemacht.
Die einzige, die später auf dem Sofa weinte, war ich. Ich war plötzlich dankbar, dass ich ihn erst jetzt abgestillt hatte, mit 22 Monaten. Und nicht kurz nach dem ersten Geburtstag, als mir eine Psychologin nahelegte, dass die Bindung sonst zu eng würde. Oder als die Kinderärztin erstaunt bemerkte, ich habe ja nun lange genug durchgehalten.
WHO empfiehlt, zwei bis sieben Jahre zu stillen
Dabei empfiehlt die WHO auch in unseren Breitengraden, zwei Jahre oder länger zu stillen. Das natürliche Abstillalter liegt gemäss Studien sogar erst bei zwei bis sieben Jahren. Und doch sprechen hierzulande viele schon vor dem ersten Geburtstag von Langzeitstillen, weiss Kathrin Burri. Die Doula, zweifache Mutter und Autorin, setzt sich für die Begriffe «ausgedehntes Stillen» oder «Normalzeitstillen» ein. Alles unter der WHOEmpfehlung von zwei Jahren entspreche dem Kurzzeitstillen.
In ihrem Buch «Langes Stillen» hat sie Ergebnisse einer Umfrage unter mehreren Tausend Müttern und deren Partner:innen aus dem deutschsprachigen Raum veröffentlicht. Die Mehrheit gab an, dass ihnen schon zum Abstillen geraten wurde: Das Kind habe ja schon Zähne, könne nun ja alles essen, Kuhmilch tue es auch, ohne Muttermilch werde es besser schlafen, die Mutter verliere zu viele Nährstoffe und sei dadurch erschöpft.
Die Kommentare sind respektlos und verletzten
Neben anderen Eltern und Grosseltern reden Müttern oft auch medizinische Fachpersonen ins Stillen hinein. Dabei seien die meisten von ihnen gar nicht qualifiziert dafür, bemängelt Burri. «Auch Kinderärzt:innen verfügen selten über eine Ausbildung in Stillberatung, was viele Eltern aber nicht wissen.»
Auch wenn oft zum vorzeitigen Abstillen geraten wird – viele Mütter machen es anders. «Frauen stillen viel häufiger als gedacht weit über den ersten Geburtstag hinaus», sagt Kathrin Burri, «aus Angst vor Reaktionen aber oft nur im Verborgenen.» Unter #langzeitstillen und #extendedbreastfeeding findet man etwa auf Instagram Posts von stillenden Müttern, die im Zug mit abschätzigen Blicken und Würgegeräuschen konfrontiert werden.
Steffi Drerup stillte ihr erstes Kind nach zehn Monaten und einem verletzenden Kommentar aus Scham ab und bereut das bis heute. Ihre vier weiteren Kinder stillte sie länger, das letzte zweieinhalb Jahre lang, bis es von sich aus nicht mehr wollte. Schade fand sie dabei nur, dass sie kein Erinnerungsfoto gemacht hatte. So kam ihr die Idee zu einem Kunstprojekt: Sie lichtete Mütter ab, die ihre Kinder länger als zweieinhalb Jahre stillen. Und traf damit ein Tabu, das längst keins mehr sein sollte. «Die Betrachter:innen finden die Fotos entweder wunderschön – oder furchtbar», erzählt mir die Fotografin. Einige der Kommentare im Gästebuch der Erstausstellung und im Internet sind respektlos, gar von «pädophil» und «krank» ist die Rede. Zahlreiche Rückmeldungen von stillenden Frauen sind dafür umso dankbarer.
Die Brust ist sexualisiert, das Stillen irgendwie obszön
«Mich ärgert, dass der Körper der Frau als Allgemeingut betrachtet wird», sagt Drerup. Die fünffache Mutter ist überzeugt, dass die Polarisierung des längeren Stillens mit der Sexualisierung der weiblichen Brust zu tun hat. «Die Brust ist in unserer Kultur seit Jahrzehnten allgegenwärtig – als Sexobjekt auf Werbeplakaten und in Filmszenen», sagt sie. Drerup nennt ihre Fotoreihe «Mamma», was auf Latein «Brust» heisst. Der Name steht sinnbildlich für die Funktion, die die Brust seit jeher hat: dem Kind Nahrung und Geborgenheit schenken.
Als ich mit meinem zweiten Sohn kurz nach seinem ersten Geburtstag ratsuchend eine Craniosacral-Therapeutin aufsuchte, weil er nachts oft schreiend erwachte, war auch für sie die Ursache schon vor der ersten Untersuchung klar: nächtliches Stillen! Aber mein Kind wachte nicht auf, weil er trinken wollte. Er wachte auf, weil er Schmerzen hatte. Ihn in so einem Moment, wenn er nachts in Not ist und das Stillen ihn noch am besten beruhigt, abzustillen, widerspricht meinem mütterlichen Instinkt fundamental. Auch wenn ich in solchen Nächten natürlich an meine Grenzen komme. Durch das Stillen hängt viel Verantwortung an mir: Unser Kind stillen kann wirklich nur ich. Nach Schwangerschaft und Geburt noch etwas, das mein Partner und ich uns nicht aufteilen können.
Stillen ist nicht das Problem, sondern oft die Lösung
Die Ratschläge, die ich höre, sind gut gemeint. Meine Mitmenschen wollen mir einen Weg aufzeigen, wenn ich erschöpft wirke. Auch anderen Müttern wird sehr oft geraten, abzustillen, wenn ihr Kind nachts häufig erwacht. Stillberaterin IBCLC Sandra Schmid hingegen sagt, auch Stillkinder könnten durchschlafen und auch nicht gestillte Kinder wachten nachts auf. Meist gibt es andere Gründe, warum ein Kind oft wach wird. Vielleicht zahnt es, verarbeitet einen Wachstumsschub, hat einen zu unruhigen Tagesablauf oder bekämpft einen Infekt. Das Stillen hilft dann zum einen durch seine beruhigende Wirkung und zum anderen natürlich durch die in der Muttermilch enthaltenen Antikörper.
«Abstillen als Lösung aller Probleme anzupreisen, greift zu kurz», sagt Sandra Schmid. In ihren Stillberatungen schaut sie sich immer zuerst die gesamte Familiensituation an. Bei Erschöpfung empfiehlt die Stillberaterin nicht abzustillen, sondern sich Entlastung zu suchen. Sich Zeiten allein und als Paar herauszunehmen. «Ich wage zu behaupten, dass eine Frau, die stillt, aber auf ihre Bedürfnisse achtet, erholter ist als eine Frau, die nicht stillt, aber zu wenig Hilfe hat.» Um ein Kind grosszuziehen, brauche es das berühmte Dorf. Bei näherer Betrachtung spreche dann selten etwas gegen das längere Stillen, solange sich Mutter und Kind damit wohlfühlten. Auch Arbeit, Partnerschaft und eigene Interessen könne man unabhängig vom Stillen pflegen.
Ann-Kathrin Schäfer

Still-Infos
In der Schweiz haben Frauen drei kostenlose Stillberatungen zugute, während ihrer gesamten, auch mehrjährigen Stillzeit. Stillberaterin Sandra Schmid empfiehlt auch, ein Beratungsgespräch zum Besprechen eines runden Abstillprozesses in Anspruch zu nehmen. Ein gutes Ende sei genauso wichtig wie ein guter Anfang, sagt sie. Ausserdem berät die La Leche Liga kostenlos zu Stillthemen und bietet eine Plattform zur Vernetzung unter Stillenden. Ein Lesetipp ist das Buch «Langes Stillen» von Kathrin Burri mit vielen Informationen und Erfahrungsberichten.
«Nach der Geburt müssen Mütter unbedingt stillen und nach ein paar Monaten müssen sie aber bitte unbedingt schnell abstillen. Das erwartet die Gesellschaft so», sagt Schmid, die selbst dreifache Mutter ist. Dabei sei individuell verschieden, was ein Kind, eine Mutter, eine Familie brauche. «Allgemeingültige Ratschläge gibt es nicht. Manche haben auch gute Gründe, gar nicht zu stillen. Das sollte genauso akzeptiert werden, wie lange zu stillen.» Auch buntes Stillen könne ein Weg sein: manchmal stillen, manchmal den Schoppen geben. Wichtig sei, auf die innere Stimme zu hören: Was tut mir und meinem Kind gut?
Mein zweiter Sohn ist nun anderthalb. Er erkundet die Welt, läuft am liebsten da lang, wo er eben lang will, lernt sprechen, möchte alles allein machen. Ich freue mich über seine grösser werdende Selbstständigkeit. Aber manchmal, müde von all den Eindrücken, möchte er eben noch mal Mama tanken. «Ba» ist sein Wort für Stillen. Er kuschelt sich bei mir ein, schliesst die Augen oder schaut mich an, nuckelnd, zufrieden, manchmal noch mit einem Tränchen auf der Wange, weil gerade etwas wehtat, das nun wieder vergessen ist. Auch für mich Momente der Ruhe mit meinem kleinen Kind. In den Worten der Stillberaterin Schmid: «Stillen ist die nächste Verbindung von Kind und Mutter nach der Nabelschnur im Bauch.» Wann es Zeit wird, die zu kappen, werde ich dann schon spüren. Und das wird allein meine Entscheidung und die meines Kindes sein.