
Sina Diehl
Stillen
Druck zum Stillen - woher kommt das?
Ob eine Mutter ihr Kind stillt und wie lange, ist nicht nur ihre persönliche Entscheidung, sondern hängt auch stark von ihrem Umfeld und von der Gesellschaft ab. Eine Rückschau mit Ausblick.
Als Cristina Marinello 1983 im Spital Bülach auf der Wöchnerinnenabteilung ihre Ausbildung zur Krankenschwester machte, begannen ihre Arbeitstage so: «Jeweils um sieben Uhr versammelte sich das Team im Stationszimmer. Während des ganzen Rapports hörten wir die Neugeborenen im Säuglingszimmer weinen. Manche Babys gaben irgendwann erschöpft auf, andere brüllten von Neuem los. Wir unternahmen nichts.»
Frühestens um acht Uhr habe man die Säuglinge ihren Müttern zum Stillen gebracht; viele weinten genauso bitterlich wie ihre Kinder. «Man hat die Mütter damals beim Stillen nicht unterstützt», erinnert sich die 60-Jährige, die heute in Bremgarten (AG) und Zürich als freischaffende Hebamme arbeitet und Frauen durch Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett begleitet. «Entweder klappte es auf Anhieb oder man gab dem Kind die Flasche.» Kein Wunder, dass viele Mütter damals glaubten, nicht stillen zu können und schnell auf Ersatzmilch umstiegen.
1983 und ebenso in den Jahrzehnten davor, war man sich des Werts der mütterlichen Milch für das Neugeborene kaum bewusst. Der technische Fortschritt in der Nahrungsmittelindustrie Anfang des 20. Jahrhunderts hatte dazu geführt, dass künstliche Säuglingsmilch so gut und günstig wurde, dass es offenbar keinen Grund mehr gab, das Kind mit Muttermilch zu ernähren.
Besonders ab den 1950er-Jahren galt hierzulande als modern und aufgeschlossen, wer seinem Kind statt der Brust einen Schoppen mit Pulvermilch gab – zugunsten der eigenen Unabhängigkeit, aber auch weil es in manchen Kreisen unanständig wirkte, das Kind am Busen, diesem weiblichen Sexualobjekt, saugen zu lassen.
Parallel dazu setzte sich eine rigide Still- und Fütterungspraxis durch: Auf den geburtshilflichen Abteilungen wurden Mutter und Kind nach der Geburt getrennt, es gab strikte Fütterungszeiten und wenn das Baby nach der Muttermilchmahlzeit nicht genug wog, erhielt es Säuglingsersatzmilch.
Wenn Frauen stillen, produziert ihr Körper das Bindungs- und Wohlfühlhormon Oxytocin. Dieses mindert Stressund Angstgefühle und sorgt dafür, dass sich die Mütter entspannen können. Stillen fördert die innige Beziehung zwischen Mutter und Kind und bedeutet für das Baby Zuwendung, Wärme und Nähe.
Die Stillkampagne 2022 ermuntert die Mütter deshalb, ihre Kinder auch nach Einführung von Beikost weiter zu stillen. Mehr Infos ➺ stillkampagne.ch
Der Mensch, ein Säugetier
Im aufrührerischen Geist der 1968er-Bewegung setzte langsam ein Umdenken ein. Nach jahrelanger fast schon blinder Fortschrittsgläubigkeit wurde klar, dass Technik Erstaunliches kann, aber nicht alles, und die Natur ihr in vielem überlegen ist. Ein durchaus vernünftiger Gedanke in Anbetracht der Tatsache, dass Muttermilch die Substanz ist, die unserer Spezies den Fortbestand, ja, den entscheidenden Evolutionsvorteil gesichert hat: Das Stillen ist nämlich so alt wie die Säugetiere, also rund 180 Millionen Jahre.
Trotz dieser klaren Beweislage waren die Frauen der westlichen Welt in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts auf dem besten Weg dazu, das Stillen zu verlernen: «Mit der sinkenden Stillhäufigkeit nahmen Stillerfahrung und -vorbilder immer weiter ab», schreibt Irène Hösli, Chefärztin an der Universitätsfrauenklinik Basel, 2007 mit zwei Kolleginnen in der Zeitschrift «Gynäkologie». «Damit hat sich bei den Frauen ein Gefühl von Unsicherheit bezüglich Stilltechnik und Stillerfolg etabliert.»
Ersatzmilch wurde zudem offensiv beworben – bis die WHO 1981 einen an die Säuglingsmilchhersteller gerichteten Verhaltenskodex verabschiedete, der strenge Werbe- und Marketingeinschränkungen für deren Produkte vorsah. Nur wenige Jahre später lancierte die WHO zusammen mit der Unicef weltweit die Baby-Friendly-HospitalInitiative und definierte die «10 Schritte für das erfolgreiche Stillen», einer davon das Rooming-in für Neugeborene. Hebammen und Pflegefachfrauen liessen sich zu Stillberaterinnen ausbilden, stillfreundliche Geburtskliniken wurden die Norm.

Schliesslich war es die Wissenschaft, die mit der Erforschung der Muttermilch entscheidend dazu beitrug, dass das Stillen wieder den Stellenwert erhielt, der ihm gebührt. Mehr noch, ein regelrechter Umdenkprozess setzte ein, als man durch intensive Forschung realisierte, dass Muttermilch weit mehr ist als Ernährung.
Nicht nur wurde klar, dass Proteine, Zucker, Vitamine und Mineralstoffe in der Muttermilch jederzeit perfekt auf die Bedürfnisse des Säuglings mit seinem noch nicht ausgereiften Verdauungssystem abgestimmt sind.
Mit dem Aufkommen von Fachrichtungen wie Immunologie, Molekular- und Zellbiologie entdeckten die Forschenden, dass Muttermilch zum Beispiel aktive Antikörper enthält oder zahlreiche komplexe Zuckermoleküle, die helfen, das Mikrobiom im Darm mit gesunden Bakterien zu besiedeln.
Thierry Hennet, Professor am physiologischen Institut der Uni Zürich, schreibt in einer Uni-Publikation von 2020: «Mütter übertragen ihr Immunsystem auf den Säugling. Vor Infektionen, die die Mutter durchgemacht hat, ist darum auch das Neugeborene geschützt.»
Muttermilch-Hype
Darüber hinaus scheint Muttermilch langzeitpräventive Effekte zu haben. Verschiedene Untersuchungen sind in den vergangenen Jahren zum Schluss gekommen, dass Menschen, die während der ersten Lebensmonate gestillt wurden, im Erwachsenenalter seltener übergewichtig sind und ein kleineres Risiko haben für Allergien, Herzkreislaufkrankheiten, Typ-2-Diabetes, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, Tumorleiden und Osteoporose. Das junge Feld der Epigenetik erklärt, wieso das so ist: Die Ernährung mit Muttermilch hat einen Einfluss darauf, wie die Gene, die wir haben, im Körper bis zum Lebensende verwendet werden.
Nicht weiter verwunderlich deshalb, dass Muttermilch mittlerweile als eine Art Zaubertrank gilt, den die WHO seit einigen Jahren mit dem Slogan «Breast is best» bewirbt. Empfohlen wird, Säuglinge in den ersten vier bis sechs Lebensmonaten ausschliesslich zu stillen und danach, sobald das Baby Interesse zeigt, Beikost anzubieten.
In der Schweiz halten sich die meisten Mütter indessen nicht daran. Bei der letzten nationalen Studie zum Stillen gaben zwar 95 Prozent der Mütter an, das Neugeborene nach der Geburt zu stillen. Im Alter von fünf bis sechs Monaten erhielten aber nur noch 26 Prozent der Kinder ausschliesslich Muttermilch.
Unnötiger Stillzwang
«Es ist falsch, wenn wir das Stillen einzig auf die Frau reduzieren», sagt Katharina Lichtner (54) im Gespräch mit «wir eltern». «Natürlich ist die Mutter die Person, die das Kind stillt – oder eben nicht. Doch ihre Entscheidung hängt sehr stark vom gesellschaftlichen Kontext ab, in dem sie sich bewegt.»
Die promovierte Immunologin ist seit sechs Jahren Geschäftsleiterin der Familie Larsson-Rosenquist-Stiftung. Sie hat ihren Sitz in Frauenfeld (TG) und gehört weltweit zu den wenigen gemeinnützigen Organisationen, die sich ausschliesslich für die wissenschaftliche Erforschung der Muttermilch und deren öffentliche Anerkennung einsetzen. Seit 2015 finanziert die Stiftung an Universitäten weltweit Lehrstühle, die sich mit dem Stillen befassen; bisher sind es sechs Forschungszentren, wovon zwei an der Uni Zürich.
Die Mittel der Stiftung kommen von Dividenden aus den Aktien der Olle Larsson Holding; der Gründer von Medela, Herstellerin von Stillzubehör, hat sie der Stiftung 2013 übertragen. So sehr Katharina Lichtner von den Vorteilen der Muttermilch überzeugt ist – sie selber hat ihre beiden Söhne neun Monate gestillt und mit ihrem heutigen Wissen würde sie es noch deutlich länger tun, wie sie sagt – betont sie doch: «Entscheidet sich eine Frau, ihr Kind nicht zu stillen, ist das ihr Recht, und es gilt, dies zu akzeptieren, denn es ist wichtig, dass wir im Grundrechtskontext bleiben.» Anderseits sei es durchaus gerechtfertigt, sich zu bemühen, bezüglich Stillen in der Gesellschaft einen möglichst hohen Grad an Bildung und Akzeptanz zu erreichen.
Es genügt nämlich nicht, wenn sich nur die Mütter und Gesundheitsfachleute klar darüber sind, wie wichtig Muttermilch für das Kind ist. Auch Väter, Schwiegermütter, Arbeitgeberinnen, Politiker, ja, alle, die einer Mutter mit Säugling im Laufe eines Tages begegnen, müssen wissen, dass Muttermilch nicht nur Nahrung für das Kind ist, sondern eine Investition in sein Wohlbefinden und seine zukünftige Gesundheit.
Vielleicht ändert sich dann die Haltung auch bei den Leuten, die immer noch finden, Stillen im öffentlichen Raum sei unangebracht. Laut einer Umfrage des Milchpumpenherstellers Elvie von 2021 sind dies schweizweit nämlich 60 Prozent. Und wenn wir schon dabei sind: Schwierig ist für alle Frauen, die auf ein Erwerbseinkommen angewiesen sind, dass sie nur 14 Wochen bezahlten Mutterschutz erhalten. Abpumpen am Arbeitsplatz ist in vielen Berufen eine Herausforderung.
Ökonomischer Nutzen des Stillens
Katharina Lichtner weist auf eine weitere Ungereimtheit hin: die «relativ hohe ökonomische Asymmetrie». Beim Stillen trägt die Investition die Familie beziehungsweise die Frau: indem sie Zeit aufwendet, ein Engagement erbringt und meist auch Lohnausfall in Kauf nimmt. Der Nutzen hingegen ist erst viele Jahre später sichtbar. Er kommt dem Kind zugute, aber ebenso der Gesellschaft – weil ein gesünderer Mensch das Gesundheitssystem weniger belastet und in der Regel produktiver ist.
«Ich glaube, daher kommt zu einem Teil der Druck, den heutige Mütter spüren: Aus Gesundheitsgründen wird etwas propagiert, doch unterstützt werden die Frauen nur ungenügend», sagt Lichtner. «Doch Stillen geht letztlich jeden an, es muss ein gemeinsames Projekt sein. Man kann es nicht auf die Frauen allein abwälzen.»
Veronica Bonilla wollte früher Fallschirmspringerin werden. Seit sie den freien Fall bei der Geburt ihrer Kinder erlebt hat, hat sich dieser Wunsch in Luft aufgelöst. Übergänge und Grenzerfahrungen faszinieren sie bis heute. Dabei liebt sie es, um die Ecke zu denken und sich davon überraschen zu lassen, was dort auftaucht. Und stellt immer wieder fest, dass ihr Herz ganz laut für die Kinder schlägt. Sie war bis 2022 auf der Redaktion fest angestellt, seither als Freie für das Magazin tätig.