Singen
Singen hat viele Vorteile
Hoffentlich ist Corona bald vorbei. Denn dies hier ist ein flammendes Plädoyer fürs Singen. Das hat viele gute Gründe.
Ein Klick ins Inhaltsverzeichnis führt direkt auf ein spannendes Unterthema im Text:
1. Singen ist gesund
2. Singen macht schlau
3. Singen macht sozial
4. Singen hat etwas Spirituelles
Singen in Coronazeiten
Vieles, was sonst so schön ist, ist derzeit schlecht: Umarmungen, Partys – und auch gemeinsames Singen.
Der Bundesrat hat Ende Oktober zu Chören und Laienchören neue Regeln erlassen. Unsere Recherche fand vor diesem Zeitpunkt statt. Bei all unseren Sängerinnen und Sängern, die wir für unseren Artikel besucht haben, wurden jedoch sämtliche damals gültigen Covid-19-BAG-Empfehlungen streng eingehalten und sehr sorgsam auf genügend Distanz, Masken wo nötig und Lüften zu jeder
Gelegenheit geachtet.
Weihnachtszeit ist die Zeit der Lieder
Wann, wenn nicht jetzt, im Dezember. Selbst die grämlichsten Menschen, die Chöre doof, Karaoke peinlich und Koloratur-Sopran für eine Wandfarbe halten – jetzt singen sie. Mögen sie auch den Rest des Jahres sogar unter der Dusche nur stumm an sich herumschrubben: Für kurze Zeit sind nun alle mit an Bord. Die Weihnachtszeit ist die Zeit der Lieder. Superspreading hin, Aerosole her, jetzt wird gesungen. Gemeinsam mit der Familie unterm Baum, leise für sich allein beim Guetzli-Backen oder die Kinder – mit schützendem Abstand, aber so denn doch gemeinsam – in der Schule.
Nur – warum muss es darüber Winter werden? Warum singen wir nicht eigentlich viel häufiger wie noch die Generation unserer Eltern und Grosseltern? Bei denen, so Studien, konnten noch 27 von 30 Kindern einer Klasse eine einfache Melodie nachsingen, heute schaffen das noch 3 von 30. Fehlende Übung darf man vermuten. Okay, dann singen sie halt schräg, ist doch nicht schlimm, könnte man sagen. Und: Das macht doch nichts, dass nur noch 15 bis 20 Prozent der Kindergarten-Erzieherinnen regelmässig zum Singen anleiten, könnte man sagen. Könnte man. Allerdings nur als Laie.
Denn Hals-Nasen-Ohren-Ärzte sehen das anders. Schon 2002 berichtete die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» von den Klageliedern, die Mediziner auf einem Kongress anstimmten: über zunehmend «verhauchte» Kinderstimmen und verkürzte Stimmbänder. Der Grund: fehlendes Training der Stimme.
Tja. Lieder anzustimmen, statt sie nur anzuhören, würde helfen.
Warum also nur ist Singen – in nüchternem Zustand und ausserhalb des Autos – irgendwie unangenehm geworden? Druckst herum, wer aufgefordert wird, vorzusingen, brummelt möglichst leise, wer mit einstimmen soll? Und reicht der Mut doch mal, dann nur beim Refrain, abgetaucht in der Klangwelle der grossen Gruppe oder zugedeckt vom Soundteppich einer Orgel. Dumm und schade ist das. Ist doch Singen, man kann es nicht anders sagen, so eine Art per Stimmband bedienbare Superkraft. Und das nicht nur zur Weihnachtszeit. Denn:
Singen ist gesund
Singen ist gesund «Haribol nitaigaur, nitaigaur haribol», wer – wenn auch zaghaft – in Winikon die fremd klingenden Mantras mitsingt; sich in Beromünster bei der Chorprobe auch als Zuschauer
aufrechter hinsetzt und mitsummt; oder beim Nachhause-Fahren vom Kindermusical in Cham die gehörten Melodien vor sich hin trällert, der merkt gleich: Da passiert etwas mit einem. Etwas Schönes.
Aber was passiert da genau? Wissenschaftler sagen: Der Atem wird tiefer und die Sauerstoffversorgung des Körpers besser; in den Basalganglien des Gehirns wird das Bindungshormon Oxytocin ausgeschüttet und irgendwo hinter der Stirn das Belohnungssystem aktiviert. Kurz: Die Stimmung
steigt, der Stress sinkt, Angst- und Einsamkeitsgefühle haben plötzlich einen schweren
Stand. Doch nicht nur das:
- Das Immunsystem wird verbessert. So stellten etwa Forscher der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität in Frankfurt am Main fest, dass der Speichel von ChorsängerInnen nach der Probe mehr Immunglobine A aufwies als vor der Probe.
- Bei Babys sinkt der Spiegel des Anspannungshormons Cortisol, wenn ihnen die Mutter vorsingt.
- Sänger und Sängerinnen haben eine kräftigere Kehlmuskulatur, weshalb sie seltener schnarchen und ruhiger schlafen.
- Und tougher macht Gesang auch, wie der Münsteraner Musikpsychologe Karl Adamek beweisen konnte. Bei seinem Versuch liess er Probanden 500-Gramm-Gewichte mit ausgestreckten Armen halten. Eine Gruppe sollte dabei stumm bleiben, die andere singen. Und siehe: Die stillen Stemmer schafften 10 Minuten, diejenigen jedoch, die dabei ein Liedchen angestimmt hatten, hielten 15 Minuten durch.
Aber nicht nur die Muskeln, auch das Gehirn wird durch Gesang fitter. Denn:
Singen macht schlau
Ja, es ist wahr, Singen pusht das Gehirn. Und dabei ist es ziemlich wurscht, ob man sich an Mozarts Arie der Königin der Nacht versucht oder an Helene Fischers «Atemlos durch die Nacht». Sicher ist: Singend lernt sichs leichter auswendig, die Konzentration wird geschult und nicht umsonst heisst es «Sprachmelodie». Schöne Sprache und schöne Texte haben einen Rhythmus; dafür ein Gespür entwickelt
zu haben, kann dem nächsten Aufsatz sicher nicht schaden.
Das alles ist unbestritten, bei Schulbehörden aber offenbar ungehört verhallt. Seit Jahren ist es der Musikunterricht, der vom Schulstunden-Streichkonzert betroffen ist.
Klug ist das nicht. Zumindest dann nicht, wenn man den zahlreichen internationalen Folgeforschungen glaubt, die allesamt die Untersuchungsbefunde des Schweizer Sekundarschullehrers Waldemar Weber bestätigen. Der nämlich hatte in den 1990er-Jahren in seiner Schule in Muri bei Bern einen Versuch gestartet, seinen Schülern sämtliche Kernfächer – also Mathe, Deutsch und Französisch – um 20 bis 25 Prozent gekürzt und durch Musikunterricht ersetzt, der vor allem aus Singen und Tanzen bestand.
Das Fazit nach drei Jahren: Die Schüler waren fachlich auf exakt dem gleichen Niveau wie die normal unterrichteten Kinder, ihre Leistungsmotivation jedoch war deutlich höher; und wohler im Klassenverband fühlten sie sich auch. Denn:
Singen macht sozial
Gemeinsame Lieder stärken den Zusammenhalt in der Gruppe. Das wissen alle, die in einem der rund 1500 Schweizer Chöre mittun. Das wissen auch die, die verbindende Traditionen beim Jodeln weiterleben lassen. Das wusste zu allen Zeiten das Militär (und missbrauchte das Wissen zuweilen auch), das wussten früher die Menschen, die bei der Feldarbeit zusammen sangen und heute weiss das jeder Fussballfan. Ob FC Basel, FCZ oder «You’ll never walk alone» vom FC Liverpool… Ohne Fussball-Lieder, wie wir seit den stillen Corona-Fussballspielen im Fernsehen ahnen, ist Fussball sonderbar fad und blöd. Aber Fussball-Lieder ohne Fussball, die sind zuweilen gar nicht so blöd. Manchmal können sie sogar Leben retten beziehungsweise das Lebenswerte eines Lebens, wenn nicht mehr viel Lebenszeit übrig bleibt.
In der Geriatrie in einer Altenwohnanlage im Gelsenkirchener Stadtteil Bulmke-Hüllen stand in der «Zeit» zu lesen, halten sich jedenfalls jede Woche die Bewohner an den Händen und singen «Steh auf, wenn du ein Schalker bist», «Blau und Weiss, wie lieb ich dich» und «Glück auf, der Steiger kommt». Bei vielen
von ihnen hat längst die Demenz die Vergangenheit geschluckt, die Namen der Kinder, die Gesichter der Ehepartner … Die Fangesänge aber sind geblieben. Vielleicht, weil Melodien sich auf eine besondere Art in die Seele gravieren. Vielleicht, weil der FC Schalke in Gelsenkirchen, Fussball im Ruhrgebiet,
Religion ist. Wahrscheinlich alles zusammen. Denn:
Singen hat etwas Spirituelles
«Heile heile Säge, drü Tag Räge, drü Tag Sunneschy
…» Finger hoch, wer das nicht als Kind von seiner Mutter gehört und sich gleich besser gefühlt hat.
Ist das Aberglaube? Ja.
Und: Nein.
Denn überall auf der Welt wird immer dann gesungen, wenn die Menschen hoffen, dass da mehr ist oder, bitte, mehr sein sollte als nur das direkt vor unseren Augen: bei Geburt und Tod, in Kirchen, von Moscheen herunter, bei Mantras im Freundeskreis oder in der Familie zu religiösen Festen wie Weihnachten.
Und zurückbleibt, egal ob gläubig oder nicht, ein warmes, tröstliches Gefühl.
Grund genug, vielleicht mit «Stille Nacht» den Anfang zu wagen – von hoffentlich künftig weniger stillen Zeiten.
Caren Battaglia hat Germanistik, Pädagogik und Publizistik studiert. Und genau das interessiert sie bis heute: Literatur, Geschichten, wie Menschen und Gesellschaften funktionieren – und wie man am besten davon erzählt. Für «wir eltern» schreibt sie über Partnerschaft und Patchwork, Bildung, Bindung, Erziehung, Erziehungsversuche und alles andere, was mit Familie zu tun hat. Mit ihrer eigenen lebt sie in der Nähe von Zürich.