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Elisabeth Real
Reportage
Seltene Krankheiten sind häufig
Mia ist lustig, furchtlos, quirlig – und von einer seltenen Krankheit betroffen. Wir haben sie begleitet und gelernt, was das im Alltag bedeutet.
Papageien mögen keine Auberginen. Peperoni – ja, die schon. Aber Auberginen? Igitt. Mia ist sich da sicher und deshalb versteckt sie statt der Stoffaubergine lieber eine Peperoni unter ihrem Körper, den die Physiotherapeutin Sibylle gerade mit einem Plüsch-Vogel absucht. Mia lacht ihr grübchenverziertes Lachen: Auf dem Rücken zu liegen und von einem flauschigen Papagei auf Futtersuche abgeknabbert zu werden, findet die Fünfjährige lustig. Dabei dient das kitzelige Geknabber einem ernsten Zweck. Mia soll ihre Atmung und ihren Körper durch den Druck des Gemüses besser spüren lernen. Einen Körper mit Charcot-Marie-Tooth-Syndrom. Charcot-Marie-Tooth, kurz: CMT, ist genetisch bedingt und bedeutet, dass die Nerven nicht das tun, was sie sollten, nämlich Signale an die Muskeln übertragen. Das heisst: Doch, sie tun es schon, allerdings nur langsam und unzuverlässig und manchmal auch gar nicht.
Die Folge: Nicht stimulierte Muskeln schwinden. Besonders davon in Mitleidenschaft gezogen sind Arme und Beine. Laufen, Schreiben, Sitzen – das alles ist schwierig. Und oftmals, anders als bei Mia, unmöglich. Charcot-Marie-Tooth – darunter leidet etwa einer von 2500 Menschen. 1 : 2500. Aber irgendwer muss die 1 sein. Mia beispielsweise. Mit dieser Wahrscheinlichkeit und Fallhäufigkeit zählt das Syndrom zu den seltenen Krankheiten. Doch seltene Krankheiten sind häufig. 500 000 Menschen in der Schweiz leiden, laut Bundesamt für Gesundheit, unter einer Beeinträchtigung, die wenig bekannt ist. Etwa zehnmal so viele wie an Diabetes Typ 1 Erkrankte. Eine Heerschar von Seltenen sozusagen. Laut Schätzungen existieren weltweit 7000 bis 8000 dieser raren Krankheiten und Jahr für Jahr kommen zwei neu entdeckte hinzu. Jede Erkrankung davon ist so unterschiedlich wie die Kinder und Familien, die damit zu tun haben. Und doch ist vieles ähnlich.
Leben in Ordnern
Die Sache mit den Ordnern beispielsweise. Mias Ordner ist blau. Eleonora, 39, Mias Mutter, schleppt ihn an den grossen Tisch in ihrer Zürcher Küche. Beide Hände braucht sie, um die Krankenakte ihrer Fünfjährigen zu wuchten. Ordentlich darin abgeheftet: Mias Leben – erfasst in Anträgen, Diagnosen, Kostengutsprachen, Versicherungsnummern. In Briefen vom Kinderspital und vom Triemli-Krankenhaus. Von Orthopäden und Orthesen-Herstellern, die Mias Korsett und Beinschienen bauen. Schreiben von Krankenkasse und IV, HNO-Arzt und Optiker, Physiotherapeutin, Ergotherapeutin. Korrespondenz, in der es darum geht, ob Mia im Sommer auf die reguläre Quartierschule gehen kann oder doch nicht. Von der neuen Reittherapie. Noch irgendwas vergessen?

Seltener gleich komplizierter
Wer ein Kind mit Beeinträchtigung hat, geht im Dschungel von Anträgen und Behörden leicht verloren. Ist es zudem eine Beeinträchtigung, die nicht ins Schema F passt, wird eine hohe Kunst daraus, sich durchs Dickicht zu hacken. Schliesslich gilt es dann zusätzlich noch, in Endlosschleife zu begründen, zigmal zu erklären, Nachfragen zu beantworten, immer wieder aufs Neue Notwendigkeiten zu beweisen und zu belegen. Denn: Nur für eine Krankheit mit Namen und Kennziffer werden Therapien, Hilfsmittel und Gelder bewilligt.
Je seltener die Krankheit, desto komplizierter wird das mit der Kennziffer und den statistisch belegbar hilfreichen Therapien. Schliesslich muss sich eine wissenschaftlich anerkannte Therapie in Studien bei sehr vielen Menschen als wirksam erwiesen haben. Vertrackt, wenn es nur sehr wenige Betroffene gibt. Noch vertrackter wirds, wenn an der Krankheit, wie bei Mias CMT, das Label «progredient» oder «unheilbar fortschreitend» pappt. Dann steht – wenn auch meist unausgesprochen – die Frage im Raum: «Lohnt sich das ?» Ohne Dokumente gibts kein «Ja» als Antwort. Deshalb hält Eleonora penibel Ordnung. Jeder Brief ist datiert und in einer Sichtschutzmappe abgeheftet. Alles wird festgehalten. Auch, weil es gut ist, etwas zum Festhalten zu haben, wenn das Leben schwankt.
Manuela Stier, Gründerin des Vereins «Kinder mit seltenen Krankheiten»
Und das tut es bei der Familie seit dem 22. Juni 2019 um 16.45 Uhr. Da bekommt die damals elfjährige Deva ein Schwesterchen. Mia kommt zur Welt. 3220 Gramm, 49 niedliche Zentimeter. Mario, Mias Papa, zeigt Fotos auf seinem Handy: 17 Uhr, da liegt sie: rosig, friedlich, ein hellgelbes Mützchen auf dem Kopf. Neues Foto, 19 Uhr: kein gelbes Mützchen mehr, stattdessen ein rotes Baby voller Kabel und Venenzugänge. «Wir wussten überhaupt nicht mehr, was los war. Irgendwas mit schneller Atmung », erzählt der 38-jährige Mario. Mario und Eleonora, beide aus Sizilien, sprechen gut deutsch.
Aber jetzt, in dieser Situation, sind alle Vokabeln wie weggeblasen: der Stress, die Gefühle, das Medizinerkauderwelsch, die Aufregung. «Wir haben gar nichts verstanden», sagt Mario und wischt ein paar Mal hin und her zwischen Mützchenbild und Schläuchebild. Von jetzt auf gleich gab es Gerenne, blinkende Geräte, ein «ab ins Kinderspital», diese Sauerstoffsonde. Was war passiert ? Was ist los ? Warum ? Unsicherheit und Rätsel sind von da an ständige Begleiter. «Wir wissen es nicht» ist der häufigste Satz, den die Familie in den folgenden Monaten hört.
Mensch, wir sind ja gar nicht allein!
Viereinhalb Jahre, das hat eine Studie der deutschen «Eva Luise und Horst Köhler Stiftung» ermittelt, dauert es im Schnitt, bis Menschen mit einer seltenen Erkrankung eine gültige Diagnose haben. Und selbst wenn diese ein Schock ist, folgt doch meist Erleichterung. Endlich hat der Gegner ein Gesicht, das Anderssein einen Namen. Man kann googeln, lesen, suchen und finden: etwa den « Schweizer Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten ». 860 Familien haben sich in dem Verein zusammengetan. Seit zehn Jahren treffen sie sich regelmässig, verraten sich Kniffs beim Umgang mit Anträgen, reden darüber, wie man Tage durchhält, wenn man in der Nacht Sonden mit flüssigem Essen befüllt hat, empfehlen sich Therapien, wie etwa die, die Mia in Ägypten besucht hat (Kosten: 5000 Franken aus eigener Tasche) und von der sie wiederkam und plötzlich mithilfe ihrer Beinschienen laufen konnte.
Und ausserdem haben die Familien bei den Vereins-Events das, was bei ihnen allzu schnell in Vergessenheit gerät: unbeschwerten Spass. Endlich starrt mal niemand, weil das Kind im Rollstuhl sitzt, ein Korsett trägt oder im Teeniealter gefüttert werden muss. Keine mitleidigen Blicke, keine Sensationsgier, kein Sonderstatus, keine Erklärungen. Stattdessen Verständnis und das warme Gefühl: Mensch, wir sind ja gar nicht allein! Nicht mal besonders selten, sondern viele.
Mario, Mias Vater

An diesem Montagabend hat Vereinsgründerin Manuela Stier zur Abwechslung nur die Väter eingeladen: zu einer Werftbesichtigung im Zürcher Seefeld, zu Apéro und Schwatz. Warum nur die Väter ? «Die Väter gehen oft ein wenig vergessen», erzählt die 62-Jährige. Meist seien es ja, wie bei Mia, die Mütter, die ihre Berufstätigkeit aufgeben oder stark reduzieren, um sich um das betroffene Kind kümmern zu können. Ja klar, trügen die Mütter oft die Hauptlast. «Aber», sagt sie, «ist der Druck der Väter wirklich geringer, nur weil sie mehr Zeit auf der Arbeit verbringen und mehr mit sich selbst ausmachen?» Seit sich 2018 einer der Väter das Leben genommen hat, hat der Verein die Männer verstärkt auf dem Radar. Andreas aus Luzern ist einer der 22 Papas, die jetzt hier in der Werfthalle stehen. Sein vierjähriger Sohn Magnus leidet an Morbus Fabry, einer Stoffwechselerkrankung. Seine Frau leidet an – Morbus Fabry. «Morgens um sechs sitz ich meist schon im Büro und das bis abends sechs, weil ich ja relativ oft ausfalle wegen der Familie. Zum Glück habe ich einen verständnisvollen Chef.»
Danach geht es daheim weiter: Kind pflegen, an schlechten Tagen Frau pflegen. Wann sie das letzte Mal allein als Pärchen im Ausgang waren, daran kann er sich «beim besten Willen» nicht erinnern. «Erstens wärs kompliziert zu organisieren und zweitens würde das ja schon wieder etwas kosten.» Zusatzkosten sind nicht gut. Das Armutsrisiko steigt bei einem Kind mit Behinderung steil an, auch das Scheidungsrisiko verdoppelt sich. Geschätzte 80 Prozent der Partnerschaften knicken unter dem Gewicht von Stress und Sorgen ein.
Wolfgang, Vater einer Tochter mit «Pitt-Hopkins-Syndrom»
Selbstaufopferung hilft niemandem
«Ja, da muss man schon sehr bewusst gegensteuern», lacht Wolfgang, 49, aus Zollikon. Er und seine Frau haben sich entschieden, beide zu 100 Prozent zu arbeiten. Trotz zweier Kinder, eines davon mit «Pitt-Hopkins-Syndrom». «Sich aufzuopfern und nachher selbst keine Kraft mehr zu haben, das hilft niemandem», ist der Maschinenbauingenieur überzeugt.
«Wir können nur mit unseren Kindern glücklich sein, wenn wir Eltern es auch sind.» Deshalb die Nanny, deshalb gehen die beiden regelmässig zum Sport, mal allein, mal gemeinsam. «Aber seit Valentina in der Schule ist, ist es sowieso einfacher», erzählt er. Und auch, wie die zweieinhalb Jahre waren, bis sie endlich die richtige Diagnose für Valentina hatten. «Von unserer damaligen Kinderärztin haben wir immer gehört: ‹Das ist okay, jedes Kind hat sein eigenes Entwicklungstempo›, ‹das kommt schon›.» Nein, nicht immer, wie er heute weiss. Erst vor zwei Jahren, mit acht, machte Valentina ihre ersten Schritte. Wolfgang zuckt die Achseln. Mediziner-Bashing ist nicht sein Ding. «Aber – wir hätten uns manchmal schon mehr Unterstützung von ihnen gewünscht.»

Allzu gut fällt das Zeugnis insgesamt nicht aus, das Eltern mit von seltenen Krankheiten betroffenen Kindern dem Gesundheitswesen stellen. Bei einer vom Förderverein in Auftrag gegebenen Studie gaben von 835 befragten Familien exakt 8 Prozent an, dass sie von den Fachpersonen darauf hingewiesen wurden, dass es in der Schweiz neun Zentren für Kinder mit seltenen Erkrankungen gibt. Gerade bei 51 Prozent übernahmen Krankenkasse und IV die Kosten für den Gentest, mithilfe dessen die Krankheit eindeutig identifiziert werden konnte. Ebenfalls nur 8 Prozent kreuzten an, dass sie sich ausreichend betreut gefühlt hätten, 67 Prozent der Eltern antworteten, sie hätten keinerlei psychische Unterstützung erfahren.
Immer am letzten Tag im Februar ist «Tag der seltenen Krankheiten». Zum «Rare Disease Day» machen Menschen weltweit auf die oft vergessenen Bedürfnisse der Betroffenen aufmerksam.
Infos zu seltenen Krankheiten unter
→ kmsk.ch
→ proraris.ch
→ kosekschweiz.ch
→ elhks.de
→ stiftung-seltene-krankheiten.ch
«Eis, zwei, drü: Mosi hü!»
«Ich habe nach Mias Diagnose erstmal nur geweint. Gefühlt drei Jahre in einem durch», sagt Eleonora so leise, dass Mia, die gerade vergnügt summend einen knallroten Christstern auf ein Blatt Papier – und ein bisschen auch auf den Küchentisch – malt, es möglichst nicht hören kann. «Ich konnte ihre Erkrankung absolut nicht akzeptieren und war deshalb jahrelang in Therapie.» Erst danach und durch den Kontakt mit den anderen Eltern hätte sie gelernt, nicht mehr länger nur zu sehen, was Mia nicht kann, sondern zu sehen, was sie alles kann: tolle Christsterne malen beispielsweise. Zur Musik, die sie in ihrem Zimmer gerne voll aufdreht, wippen, dass die blonden Locken fliegen. Sich verstecken. Wunderbar ansteckend lachen. In zwei Sprachen so schnell sprechen, dass den Ohren des Zuhörers ein Schleudertrauma droht. Und seit Neustem kann sie: reiten.
Ohne auch nur ein Fünkchen Angst geht sie an diesem Donnerstagnachmittag auf «Mosi», ihr Therapie-Pony, zu. Jeanne von Gunten, die Reittherapeutin, hilft ihr in den Sattel. Die Balance zu halten, die Bewegungen des Pferdes mit dem Rumpf abzufedern, mit den Oberschenkeln Druck auf die Flanken zu geben, all das trainiert schwache Muskulatur. Mia ist begeistert. Sie lacht, dass ihre Grübchen tiefe Kuhlen bilden, streichelt den Ponyhals, krault die braune Mähne. Und dann heisst es: «Eis, zwei, drü: Mosi, hü !» Das Pony zuckelt los, Mia strahlt. Mia reitet. Sie schafft es, sich gerade zu halten, sogar die Arme waagerecht wegzustrecken und ihr Körper bleibt trotzdem stabil. Ein kleiner Fortschritt, aber riesige Freude. Mia mag eine seltene Krankheit haben, aber jetzt gerade ist sie einfach ein glückliches kleines Mädchen auf ihrem Pferd. Eines von vielen.