
Sascha Montag / Zeitenspiegel
Bildung / Indien
Schulbeginn um 19 Uhr
Von Andrea Jeska
Tagsüber hüten sie Ziegen oder arbeiten auf den Feldern, abends drücken sie die Schulbank: Die Nightschools in Indiens armen Gegenden versorgen die Kinder mit dem nötigen Rüstzeug für ein selbstbestimmtes Leben.
«Premierministerin?» Saroj zieht die Schultern hoch und versteckt ihren Kopf dazwischen, wie sie es immer tut, wenn ihr etwas unangenehm ist. Dann wedelt sie abwehrend mit der Hand. Nein, das könne sie sich nicht vorstellen. Aber vielleicht Erziehungsministerin, so wie Sonu, die fünf Häuser weiter wohnt und schon 12 Jahre alt ist? Saroj schweigt schüchtern. «Saroj», sagt ihr Vater Ram. «Man hat dir eine Frage gestellt. Bist du nicht mutig genug, zu antworten?» Da macht Saroj den Hals lang und sagt mit der ganzen Würde ihrer neun Jahre: Klar doch, Erziehungsministerin, das könnte sie auch. «Na also. Man sollte immer Ziele haben», sagt Ram.
Am Morgen dieses Tages war Saroj nur mit der Kuh und dem Kalb losgezogen. Die störrischen Ziegen, die mal hierhin, mal dorthin springen und die Neunjährige den ganzen Tag auf Trab halten, blieben im Verschlag. Saroj war spät dran, sie hatte noch ein paar Matheaufgaben gerechnet. Der Vater war längst zu seinem Maurerjob gefahren, Bruder Vinod mit dem Bus zur Schule und die beiden älteren Schwestern Pinky und Poonam, 17 und 19 Jahre alt, hatten sich gleich nach Sonnenaufgang ein Tuch um die Haare gebunden und waren hinaus auf die Felder gegangen, um Mungobohnen zu pflücken. Mit schmerzendem Rücken vom vielen Bücken, mit rissigen Händen werden sie am Abend wieder kommen und doch fröhlich lächeln, sich das Tuch von den Haaren ziehen, in die langen Strähnen Öl reiben, sie wieder hochbinden und dann ohne Unterbrechung das Abendbrot bereiten.
Nur Prem, Sarojs schöne Mutter, war zu Hause geblieben und hatte Dutzende von Chapati gebacken, die Saroj den Schwestern bringen und selber auch zum Mittag essen sollte. Chirr, ihr Fünfhundert-Seelen-Dorf in Indiens Bundesstaat Rajasthan, war schon fast menschenleer, als die Geschwister die beiden Tiere an den Fluss trieben. Sonu, die Erziehungsministerin, war schon dort und Prianca vom Haus nebenan, deren Eltern Wanderarbeiter sind und die deshalb bei Verwandten aufwächst. Und Monica, die beste Freundin, die sich die schönsten Spiele ausdenken kann und Sanju, die so herrlich lachen kann.

Kleine Hirtenmädchen
Sieben Stunden täglich treiben die Kinder von Chirr sowie die Kinder anderer Gebiete im ländlichen Indien die Tiere. Bringen sie zum Fluss und von Weide zu Weide. Diejenigen, die mit den riesigen Wasserbüffeln unterwegs sind, werden Wasserlöcher und kleine Seen suchen. Die meisten der kleinen Hirten sind Mädchen. Erst wenn der Nachmittag spät ist, werden sie in ihr Dorf zurückkehren. Werden vom Brunnen Wasser holen und im Hof ihres Hauses Mehl und Wasser in einer flachen Schale so lange mit den Händen kneten, bis ein geschmeidiger Teig entstanden ist. Den werden sie zu flachen Fladen rollen und über dem Feuer zu Chapati backen. Das sind ihre Pflichten.
Was, Saroj, möchtest du tun, wenn du erwachsen bist? Es ist nicht leicht, mit einer Neunjährigen, die so ganz in der Gegenwart lebt, über die Zukunft zu sprechen. Saroj hat die Kühe in ihren Verschlag gebracht, die Ziegen mit Heu gefüttert. Sie hat für alle Tee gekocht, Wasser zum Spülen geholt und die Tassen wieder gewaschen. Prem und die Schwestern schneiden das Gemüse, Ram hat sich eine Zigarette angezündet und hört dem Gespräch belustigt zu. «Ich möchte Tiere hüten. Oder auf den Feldern arbeiten», sagt Saroj. Und was würdest du tun, wenn du Erziehungsministerin bist? «Ich würde allen Kindern sagen, dass sie zur Nightschool gehen sollen.»
Nightschools, in der Übersetzung Abendschule, heissen die 700 Schulen in 670 entlegenen Dörfern in sieben Provinzen von Indien, in denen der Unterricht am Ende des Tages stattfindet, immer von 19 bis 22 Uhr. Der Name ist dort und in weiteren 13 Ländern, die zu den ärmsten und unterentwickelsten Ländern der Welt gehören, längst zum Synonym für eine menschennahe und menschenwürdige Bildung geworden, die wenig mit dem klassischen Konzept von Schule zu tun hat, aber dafür ganz nahe dran ist am Alltag und der Wirklichkeit der Schüler. 670 000 Kinder aus armen Schichten lernen in diesen Nightschools, was sie für ein selbstbestimmtes Leben brauchen. Kinder, die aus den untersten Kasten kommen, aus Familien, die von weniger als einem Dollar am Tag leben müssen, die grossgezogen wurden von Eltern, die selber wenig oder keine schulische Bildung erfahren hatten. Kinder, die nicht in eine staatliche Schule gehen können, weil sie am Tag arbeiten müssen. So wie Saroj und all ihre Freundinnen. So, wie rund 60 Prozent aller indischen Kinder, die in ländlichen Gegenden leben. Denn nur die Statistik der indischen Regierung besagt, dass fast alle 6- bis 14-jährigen Kinder des Landes zur Schule gehen. Tatsächlich aber ist es nicht einmal die Hälfte.
Kein Pult, kein Stuhl
Sarojs Nightschool war einmal eine staatliche Schule. Die aber wurde lange aufgegeben und nur eine Tafel, auf der der Menüplan für die Woche steht, erinnert noch an den Ursprung des inzwischen heruntergekommen Gebäudes. Stühle gibt es nicht, alle Kinder sitzen, lernen, schreiben auf dem Boden. Niemand in einem westlichen Land würde seinem Kind eine solche Schule zumuten wollen. Einerseits. Und andererseits vielleicht doch. Denn Nightschools sind ein Ort, an dem die Kinder vieles dürfen, fast nichts müssen und an dem der Lehrstoff in direktem Zusammenhang mit ihrem Alltag steht. Wenn man Saroj fragt, was Mathe ist, dann wird sie erzählen, Mathe sei die Menge an Heu, die ihre Kuh frisst oder die Anzahl von Holzscheiten, die sie brauche, um das Wasser für den Tee zu wärmen. Und wenn man sie fragt, was Biologie ist, dann wird sie erzählen, wie sie ihre Kuh gesund halten kann und welche Kräuter die Ziegen essen sollten und was ein Kind wie sie, Saroj, zu Essen braucht, um gesund aufzuwachsen. Sie wird sagen, diese Schule, das sei ihre, sie und die anderen Kinder würden darüber bestimmen. Und das ist nicht übertrieben. Zum Bildungskonzept der Nightschools gehört Basisdemokratie. Deshalb wird unter den Kindern von jeweils drei Schulen ein Parlament gewählt. Mit allen Ämtern, die auch ein Landesparlament hat: Von der Premierministerin, die Saroj nicht werden möchte über die Erziehungsministerin, die sie sich vorstellen kann bis zu den Sprechern und anderen Ministern. Die Verwaltung der Schulen obliegt diesem Parlament. Es kann Lehrer entlassen und einstellen. Es kann Empfehlungen für die Lehrpläne abgeben. Jeder Minister hat das Recht, alle Schulen zu besuchen und zu beurteilen.







Amtsdauer: drei Jahre
Sonu, die im Kinderparlament ihres Bezirks Erziehungsministerin ist, wurde vor vier Monaten gewählt. Drei Jahre dauert die Amtszeit eines Parlaments, dann gibt es Neuwahlen. Dass Sonu ins Parlament kommt, sagt ihre Lehrerin Kishan Kanwa, war klar. «Die meisten Mädchen in unserer Schule haben viele Pflichten und tragen schon früh Verantwortung. Aber Selbstbewusstsein haben sie deshalb nicht. Das ist bei Sonu ganz anders.»
Für die Kinder der Dörfer sind die Nightschools aber nicht nur Bildungsstätte, sondern auch ein Ort, an dem sie vor Beginn des Unterrichts spielen können, pflichtenfrei sind. Saroj hat immer ein Stück Kreide in der Tasche, damit malt sie Kästen auf, um das Hüpfspiel Himmel und Hölle zu spielen. Sonu spielt gerne Abklatsch-Spiele und Monica, die immer lacht, weiss, wie man Fäden zu Kunstwerken um die Finger wickelt. Dem magischen Abendlicht, das auf die Kinder scheint und sich wie ein Leuchten über das Dorf, über die Schule legt, folgt schnell tiefe Dunkelheit. Kishan Kanwa stellt zwei Solarleuchten auf, eine für die Gruppe der Kleinen, eine für die der größeren Kinder. Ein paar streunende Hunde laufen herum und eines der Mädchen hat seinen Babybruder dabei und wiegt ihn in den Armen. Jeder Unterricht beginnt mit einem gesungenen Gebet, dann mit allgemeinen Dingen. Sonu, ganz strenge Ministerin, berichtet, dass sie einige Familien besuchte, die ihre Kinder nicht zur Nightschool schicken. Und dass das Kinderparlament in einem Fall aktiv wurde, in dem Gewalt in der Familie herrscht. Hat sie denn gar keine Angst, sich als 12-Jährige gegen Erwachsene behaupten zu müssen? Sie schüttelt energisch den Kopf. «Wir sind ja nicht alleine. Wenn wir nicht weiterkommen, hilft uns die Lehrerin. Oder jemand vom College.»
Das Barefoot College in Tilonia, einem Dorf, etwa eine halbe Stunde von Chirr entfernt, ist das Mutterhaus aller Ideen. Es ist eine inzwischen 40-jährige Geschichte, die hinter den Nightschools steckt; die Philosophie geht auf die Gedanken von Mahatma Gandhi zurück. Dienst am Nächsten, Bescheidenheit, Nachhaltigkeit und ein selbstbestimmtes Leben, auch dort, wo die Armut groß ist, das will das Barefoot-Konzept erreichen. Begründer der Barefoot Colleges ist der heute 69-jährige Bunker Roy. Geboren als Kind reicher Eltern, an guten Schulen ausgebildet, kam Roy erst als Student während einer Hungerkatastrophe in Berührung mit der armen Bevölkerung auf den Dörfern. Das veränderte sein Leben. 1971 zog er nach Tilonia. «Da hatte ich bereits erkannt, dass eine teure Bildung zu Aroganz und Überheblichkeit, aber nicht zu Weisheit führt», sagt Roy heute. Seine Gedanken: ein Bildungskonzept, das sich am Menschen orientiert. «Wir glauben daran, dass jeder Mensch, auch ein Analphabet, durch Learning by Doing grosses Wissen erwerben kann. Bei uns ist jeder Lehrer auch ein Schüler und jeder Schüler ein Lehrer. Wir unterscheiden zwischen Bildung – das ist das, was man durch formale Unterrichtsprozesse lernt – und Wissen – also dem, was jeder Mensch aus seinem Leben einbringt: Traditionelles Wissen, Fähigkeiten und Erfahrungen mit dem kulturellen und sozialen Umfeld.»
Um den Beweis zu erbringen, dass seine Ideen keine versponnenen Luftschlösser sind, liess Roy Anfang der 1970er-Jahre das College von örtlichen Maurern bauen, die weder lesen, noch schreiben konnten – und es bis heute nicht können. Sie bauten ohne Wasserwaage, ohne Zeichnungen, ohne Massband. Sie bauten kraft ihrer Erfahrung und wurden die ersten «Barefoot-Architekten ». Vierzig Jahre später ist aus Roys Idee eine der ambitioniertesten Hilfsorganisationen der Welt geworden.
Fast alle der über 150 Menschen, die dort arbeiten, lehren und zugleich lernen, sind entweder Analphabeten und kommen aus der Armut. Oder Experten, Professoren, die ihr Wissen in den Dienst der Idee stellen. Das Gehalt ist für alle gleich, die kargen Lebensbedingungen auch. Neben den Kindern werden vor allem Frauen besonders gefördert. Geschieden, arm, bildungslos, im mittleren Alter und Alleinversorgerin von Kindern und Enkelkindern, das sind Voraussetzungen, die nicht nur in Indien sondern wahrscheinlich weltweit Frauen in das Elend führen. Bei Bunker Roy ist es die ideale Voraussetzung, um eine Ausbildung an einem der mittlerweile 13 Barefoot Colleges zu erhalten. Man hat ihn als Kommunisten beschimpft wegen seiner Ideen von Gleichheit und Brüderlichkeit. Doch Roy liess sich nicht beirren. Als er 1989 begann, Nightschools zu gründen, warf man ihm vor, Kinderarbeit zu fördern, zu sanktionieren, dass die Kinder nicht in stattliche Schulen gehen. «Alles Unsinn», sagt Roy. «Dass die Kinder auf dem Lande, wo alle arm sind, arbeiten müssen, ist eine Tatsache, die werden wir nicht ändern können. Was wir aber tun können, ist ihnen Wissen zu geben, mit dem sie sich später ernähren können und nicht in die Elendsviertel der Städte ziehen müssen. Unser Anliegen ist nicht, Karrieristen heranzuziehen, sondern Menschen, die in Frieden mit ihrer Gemeinschaft und der sie umgebenden Umwelt leben.»
Maurer statt Bauer
Die Landflucht in Indien ist gross, die vermeintlichen Verlockungen der Stadt ziehen die Jugend an. Chirr ist da keine Ausnahme. Wer durch das Dorf wandert, sieht viele Kinder, viele ältere Leute, aber kaum junge Erwachsene. Deren Träume von einem besseren Leben verpuffen in den Städten zwar schnell, doch die Rückkehr ins Dorf wäre das Eingeständnis eines Versagens und so bleiben sie in Jaipur, in Delhi, in Mumbai. Ohne Arbeit, ohne Zukunft. Die Nightschools wollen diese Flucht in urbane Gebiete verhindern. Sie sind ein Sprungbrett – für manchen in die höheren Klassen einer staatlichen Schule, für andere in eines der Ausbildungsprojekte der Barefoot Colleges.
Dass Sarojs Vater Ram alle seine Kinder, auch die Mädchen, zur Schule schickte, ist auf dem Lande nicht selbstverständlich. Ram war vor 35 Jahren selber ein Nightschool- Schüler, einer der ersten in seinem Dorf und denen drum herum. Dass er Lesen und Basismathematik lernte und sich als Maurer verdingen kann, erspart ihm ein Leben als Vollzeitbauer. «Meine Töchter werden durch ihren Schulabschluss nicht davor bewahrt, ein arbeitsames Leben zu haben», sagt er. «Für einen anderen Weg als den, den hier alle gehen, fehlen die Möglichkeiten. Wenn Saroj sagt, sie will immer nur Tiere hüten, dann deshalb, weil sie nichts anderes kennt.»
Für seine älteren Töchter Pinky und Poonam muss Ram demnächst Ehemänner suchen. Beide Mädchen können gut nähen, verkaufen ihre Ware im Dorf. In einer westlichen Gesellschaft könnten sie damit vielleicht auf eigenen Beinen stehen, im ländlichen Indien ist das ein undenkbares Lebensmodell. Aber: «Wenn sie Geld verdienen, wird der Mann sie mehr achten», sagt Ram.
Als die Akkus der Solarleuchten leer sind und Lehrerin Kishan Kanwa ein Schlussgebet spricht, hat der Himmel längst all seine Sterne aufgespannt. Saroj gähnt in ihr Hindi-Lehrbuch. Als sie nach Hause kommt, raucht Ram seine Abendzigarette und Prem stopft die Löcher in den Jutesäcken für die Mungobohnen-Ernte. Die Schwestern nähen im einzigen Raum des Hauses noch an ihren Taschen. Saroj kriecht zu Vinod in das selbstgebaute Holzbett, das im Hof steht, wo kühler Nachtwind weht. Acht Stunden kann sie nun schlafen. Wird noch im Dunkeln wieder aufstehen, Wasser holen und losziehen mit den Tieren. Morgen, wie jeden Tag.
