Recht hast du, mein Kind!
Kinder lernen von den Eltern. Affenkinder lernen Bananen schälen. Spinnen spinnen. Hyänen, welche Leiche lecker schmeckt und Menschenkinder lernen, das schöne Händchen zu geben, nur die halbe, statt die ganze Rolle Klopapier zum Poabwischen zu benutzen, Schnürsenkel binden und im Auto «jetzt fahr doch endlich, du Penner» zu rufen. Generationen von Wissenschaftlern haben sich daran abgearbeitet, herauszufinden, was und wie Kinder von Erwachsenen lernen. Nur: Was Eltern von ihren Kindern lernen, dazu gibt es – keine Zeile.
Gut, man weiss, dass Rattenweibchen schneller Futter finden, wenn sie Junge haben. Mausmamas ungeahnten Mut mobilisieren und auf Schlangen losgehen, um ihre Babys zu schützen.
Nur – was Menscheneltern von ihren Kindern lernen, will keiner erforschen. Die Kinderlosen nicht, aus nahe liegenden Gründen, und die mit Kindern nicht, weil sie genug damit zu tun haben, ihren Kindern Brauchbares beizubringen.
Dabei, behaupte ich wenigstens, lernt man als Mutter oder Vater mindestens so viel von seinen Kindern wie andersrum.
Und damit meine ich nicht nur sämtliche Strophen von «Bibbi und Tina» auswendig, die selbst dann noch sitzen, wenn das Kind längst ausgezogen ist. Damit meine ich auch nicht die Namen von 16 verschiedenen Pokémons. Und ich meine nicht die korrekte Bewegung des Zeigefingers, zu «S chrücht es Schnäggli, s Bärgli uf, s Bärgli uf», die man sich mal im Pekip-Kurs nur mühsam angeeignet hat.
Ich habe durch meine Tochter viel mehr gelernt. Über das Leben. Über mich.
Da sind zum einen schlichte Facts, die ich ohne Kind nie gewusst hätte:
- Kartoffeln, durch einen Pürierstab gejagt, werden schleimig.
- Fünfmal pro Nacht aufgeweckt zu werden, ist Folter.
- Kinder müssen mit 11 Monaten keinen einzigen Zahn haben.
- Sie übergeben sich ohne Vorwarnung; sogar auf Mamas neuen Freund, der deshalb kein richtiger wurde.
- Kinder stecken sich Weidenkätzchen in die Nase, rollen in die Ritze zwischen Bett und Wand und es fühlt sich schrecklich an, sie am Kopf wieder rauszuziehen.
Und dann ist da die Sache mit der Politik, die plötzlich nicht mehr in Bern sitzt, sondern mit Sack und Pack in unsere Wohnung eingezogen ist. Seither bin ich meiner Tochter Antworten auf viele Fragen schuldig geblieben: «Mama, warum müssen manche Omas im Heim wohnen? Haben die keine Familie, die sie so lieb hat wie wir unsere Omi?» Was antworten? Wie reagieren auf das Angebot, den Spinat armen Kindern in Afrika zu schicken?
Zwar hab ich mich immer für einen politischen Menschen gehalten, gehe wählen, lese Zeitungen und spende zu Weihnachten für einen guten Zweck. Doch an Bettlern, Junkies, Menschen, die Feuerzeuge aus Taiwan verkaufen und einen Zettel mit den Worten «Ich bin stumm» hochhalten, gehe ich vorbei. Ging ich vorbei.
Denn meine Tochter versteht das nicht. «Mama, warum sitzt der Mann hier?», «Mama, warum geben wir dem kein Geld?» «Mama, kann ich mein Taschengeld schon heute haben? Der Mann mit dem Feuerzeug ist doch stumm, ich will das kaufen.» Tja, was sagt man da? Meist gar nichts.
Bis heute habe ich es nicht gewagt, meinem Mädchen zu gestehen, dass ich mit dem Auto neulich ein Eichhörnchen umgenietet habe. Sie würde nämlich sagen: «Was fährst du auch immer so schnell?» Recht hat sie.
Recht, wie sie mit fast allem Recht hat.
Ich bin ein schneller Mensch. Meine Tochter ist langsam.
Ich bin zack, zack, verplempere keine Zeit, dusche schnell, lese schnell, esse schnell. Kurz: Ich bin ein Ausbund an Effizienz. Sie lässt Unterhosen vor dem Anziehen um den Fuss rotieren. Sie bedient sich bei jedem Frühstücksbuffet viermal. Immer holt sie sich ein kleines Häppchen. Und zum Schluss lässt sie sich noch ein Ei braten. Sie kämmt sich nicht nur, sondern lächelt lange ihr Spiegelbild an und wirft sich eine Kusshand zu. Soviel Zeit muss sein. Sie hält beim Skilaufen ständig an und bestaunt die Berge. Oder ein Rotkehlchen. Oder eine Schneeflocke. Oder was weiss ich, ich bin ja schon 500 Meter tiefer. Sie streichelt Meerschweinchen so lange, bis sie ihr auf die Jeans pinkeln. Und sie schreibt an ihrem Schulaufsatz drei Stunden. «Krieg und Frieden» hat nicht nennenswert mehr Text. Wenn ich dann drängle: «Mach doch mal schneller!» Dann sieht sie mich nachsichtig an und sagt: «Mama, sei jetzt nicht böse, aber ist es nicht dumm, immer schnell zu sein?» Ja, ist es, Kind.
Auch Therapeuten, die mich mit unbekannten Facetten meines Wesens bekannt machen, kann ich mir, seit ich Mutter bin, sparen.
Meine besten Stiefel hätte ich dagegen gewettet, wenn mir jemand prophezeit hätte, dass ich eigentlich genauso gerne, wie ich ein zweites Watergate aufdecken würde, die Baby-Öhrchen meiner Tochter anschaue. Beim Augenlicht sämtlicher Anverwandter hätte ich geschworen, dass ich nie, niemals zu den Glucken gehören werde, die ihr Kind überfürsorglich in unansehnlich dicke Wollschals wickeln. Heute kram ich nach dem Schal, sobald das Thermometer unter bedenklich kühle 20 Grad sinkt. Weit hätte ich von mir gewiesen, dass ich je Lust verspüren könnte, einem sehr kleinen Vierjährigen eine reinzuhauen, nur weil er meiner Tochter sein Matchboxauto gegen die Stirn gehämmert hat. Und dass ich neulich bei ToyStory 3 furchtbar weinen musste, weil dieser Junge von zu Hause wegzieht, weit weg von seiner Mama und seinem Papa und nicht mehr mit den Spielsachen spielt; dabei war er gestern doch noch so klein… das muss wirklich unter uns bleiben.
Überhaupt weinen.
Seit meine Tochter da ist, weine ich dauernd. Ist irgendwo ein Schniefen, Schnäuzen oder lautes Schluchzen zu hören, bin ich sicherlich nicht weit. Kaum piept ein mir völlig unbekanntes Kind unter einem Meter vierzig auf einer Bühne mit der Blockflöte, fange ich an zu heulen. Längst habe ich mich daran gewöhnt, in jeder Darbietung, bei der Kinder mitmischen, für die gerührte Mutter des Hauptdarstellers gehalten zu werden. Ist gar mein eigenes Töchterchen dabei, muss ich auf dem Heimweg drei Meter hinter ihr gehen, damit bloss niemand sie mit dieser peinlich blökenden Person in Verbindung bringt. Filme, in denen Menschen unter 18 Jahren zu Schaden kommen, kann ich meiner Psyche ohnehin nicht mehr zumuten. Und selbst private Videofilmchen «von unserem Luki, als er klein war», die komplett öde sind und mit der Titelmusik von König der Löwen unterlegt, kriege ich nur durch einen blickdichten Tränenschleier mit. Da fragt man sich doch, wie Kinder es schaffen, einem die Hornhaut vom Herz zu raspeln.
Und lernt: Leben ohne Hornhaut ist schmerzhafter – aber schöner.