Sexuelle Idenität
Queer: Wenn aus der Tochter ein Sohn wird
Viele Jugendliche lieben und leben nicht nach gängigen Geschlechtsnormen. Sie sind bi, non-binär, trans. Was bedeutet das für sie, für uns als Gesellschaft? Wir haben mit Fachleuten geredet und Lara, Luc, River und Leona erzählen lassen.
Luc, 19, trans
Junge oder Mädchen? Spätestens bei der Geburt wollen Familie, Freunde und das Standesamt wissen, welches Geschlecht das Kind hat. Damit werden Weichen gestellt. Denn das biologische Geschlecht gibt auch vor, wie sich das soziale Geschlecht zu entfalten hat, Gleichberechtigung hin oder her. Hellblau oder rosa eben. Doch die beiden Schubladen passen längst nicht mehr allen – haben, um genau zu sein, noch nie allen gepasst. Mehr als auch schon darf das heute auch sein, denn die Rollenbilder vermischen sich. «Meine Wunschvorstellung ist, dass das Geschlecht nicht mehr relevant ist», sagt Luc (19), «sondern dass wir einfach Menschen sind.»
Die queere Jugend, die homo-, bi- oder pansexuell liebt und gerne gefragt wird, mit welchem Pronomen sie angesprochen werden will, stört sich an fixen Zuordnungen. Das finden konservative Kreise dekadent, wenn nicht gar gefährlich und weite Teile der Bevölkerung zumindest befremdlich. «Alles, was neu und anders ist, löst Ängste aus», sagt Dagmar Pauli (58), Mutter von drei erwachsenen Kindern und Chefärztin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. «Vielleicht sollten wir der jungen Generation einfach mal zuhören.»
Anna Rosenwasser
Mehr Respekt im Umgang
Das haben wir getan (siehe Artikel unten), und sind beeindruckt, wie reflektiert die jungen Menschen über das eigene Empfinden, über Anziehung und Geschlechtsidentität sprechen. Gender-Aktivistin Anna Rosenwasser, die viel mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Austausch ist, bestätigt dies: «Das ist etwas sehr Schönes, weil es den Umgang miteinander sensibilisiert und zu mehr Respekt führt», sagt die 32-Jährige beim Gespräch im Café Jenseits in Zürich. Anderseits sei der Grund auch ein bisschen traurig, denn die Jugendlichen spürten, dass sie nicht der Norm entsprechen und damit eine gewisse Ausgrenzung erfahren.
Rund 3 Prozent fühlen sich mit ihrem biologischen Geschlecht unwohl
«Drei bis 10 Prozent der Menschen sind divers in sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität», sagt Psychiaterin Dagmar Pauli. Diese Menschen bezeichnen sich nicht als heterosexuell, sondern sind lesbisch, schwul, bi-, pan- oder asexuell. Andere empfinden sich als transgender oder non-binär; laut aktuellen Zahlen aus Deutschland fühlen sich 3,3 Prozent mit ihrem biologischen Geschlecht so unwohl, dass sie es ändern wollen, nicht nur auf dem Papier, sondern auch hormonell und operativ. Im Gegensatz dazu bezeichnet Cis diejenigen Menschen, die mit ihrem biologischen Geschlecht übereinstimmen.
Übrigens: Es ist normal, dass eine neue Generation und ihre Subkultur auch neue Wörter, eine veränderte Sprache hervorbringen. Für diesen Text gibts deshalb ein Glossar (siehe Box) und wer sein Vokabular gendermässig fit machen will, tut gut daran zu üben. Denn die Sache mit den fehlenden non-binären Pronomen und Nomen ist tricky, sogar für die Jugendlichen selber, wie die meisten unumwunden zugeben. Lockerbleiben hilft auf beiden Seiten. Und offen sein für Innovation: «Ein non-binärer Mensch, der Sport treibt, kann zum Beispiel Sportly genannt werden», sagt River und lächelt verschmitzt.
Queer ist ein Oberbegriff für alle sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten, die nicht der zweigeschlechtlichen, heterosexuellen Norm entsprechen.
Nicht-binär ist ein Sammelbegriff für Menschen, die nicht in die zwei Geschlechterkategorien weiblich und männlich passen. Die Geschlechtsidentität von nicht-binären Menschen ist weder (ausschliesslich) männlich noch weiblich, sondern etwas dazwischen.
Intergeschlechtliche Menschen sind bei der Geburt aufgrund von körperlichen Besonderheiten des Geschlechts nicht eindeutig als männlich oder weiblich zuzuordnen; dies kann genetisch, organisch oder hormonell sein.
Trans ist ein Sammelbegriff für Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht mit dem bei der Geburt anhand der äusseren Merkmale zugeordneten Geschlecht übereinstimmt. Viele Trans-Personen lehnen den Begriff transsexuell ab, weil trans mit Sexualität nichts zu tun hat.
Pansexuelle Menschen können sich sexuell von Menschen aller Geschlechtsidentitäten angezogen fühlen.
Genderfluid bedeutet, dass sich die Geschlechtsidentität kontinuierlich verändert.
Asexuelle Menschen empfinden wenig oder gar keine sexuelle Anziehung anderen gegenüber. Aromantische Menschen haben kein Bedürfnis nach einer romantischen Beziehung.
Cis ist das Gegenteil von trans. Die Geschlechtsidentität von Cis-Menschen stimmt mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht überein.
Travestie/Drag ist eine Showform. Travestie-Künstler und Dragqueens oder -kings schlüpfen auf der Bühne oder im Ausgang in die Rolle eines andern Geschlechts.
Hat Erziehung Einfluss?
Doch was genau führt dazu, dass manche Menschen nicht der gängigen cis-heterosexuellen Norm entsprechen? Die Wissenschaft hat darauf bis heute keine abschliessende Antwort gefunden. «Wir verstehen noch sehr wenig», sagt Dagmar Pauli, «was wir aber wissen, ist, dass es teilweise genetisch mitbedingt ist, dass aber auch andere Einflüsse eine Rolle spielen. Denn die Epigenetik zeigt, dass unsere Gene auf Umwelteinflüsse reagieren, beziehungsweise dass bestimmte Umwelteinflüsse bestimmte Gene aktivieren – und andere nicht.» Ein komplexes Wechselspiel also. Klar ist aber laut Pauli, dass Erziehung beispielsweise Homosexualität oder Transidentität weder an- noch aberziehen kann.
Wer glaubt, dass queer-sexuelle Orientierung heute häufiger vorkommt, irrt. Homosexualität, Trans- oder Intergeschlechtlichkeit gab und gibt es in allen Kulturen, in unzähligen Formen und ebenso im Tierreich, wie die sehenswerte Ausstellung «Queer – Vielfalt ist unsere Natur» im Naturhistorischen Museum in Bern mit vielen und überraschenden Beispielen zeigt. Da Homosexualität hierzulande bis in die 1970er-Jahre als psychische Krankheit galt, unterdrückten viele Menschen die nicht-genehme Neigung. Versuchten, sich in die heterosexuelle Norm einzupassen oder wählten zölibatäre Lebensformen, was oftmals nicht nur ihnen selbst schadete, sondern auch ihrem Umfeld. Bis heute ist «schwul» ein Schimpfwort auf den Pausenplätzen und wenn Anna Rosenwasser mit ihrer Partnerin Arm in Arm durch Zürich spaziert, kann es sein, dass den beiden Frauen «Dreckslesben» nachgerufen wird.
«Wir müssen die traditionellen Geschlechterrollen entlernen, und das ist eine Gruppenarbeit», sagt Anna Rosenwasser. «Dieser kollektive Aufwand ist nötig, denn für viel mehr Leute, als wir denken, ist es ein lebenslanger Kampf, den Geschlechtererwartungen zu entsprechen.» Denken wir nur schon an die Schönheitsideale oder die gängige Kleiderordnung: Gepflegte Frauen schminken sich, sind schlank, machen ihre Körperhaare weg; Männer tragen keine Röcke, auch wenn es kaum ein bequemeres Sommeroutfit gibt. Rosenwasser ist überzeugt, dass alle von der Freiheit, sich selbst zu sein, profitieren würden. Damit ist nicht gemeint, dass männliche Männer und weibliche Frauen verschwinden sollen, sondern dass es neben Hellblau und Rosa auch alle Abstufungen von Lila geben soll; mischen führt zu Vielfalt.
Louie Läuger (they/them) ist Illustrator* in und Autor* in und befasst sich auf Instagram unter @tenderrebellions mit Themen zu sozialer Gerechtigkeit. Louie mag Katzen, Kaffee und Kekse und liebt es, Dinge zu zeichnen, die Menschen ein gutes Gefühl (oder einen neuen Gedanken) mit auf den Weg geben.
Das dritte Geschlecht
Und vielleicht sogar zur amtlichen Einführung eines dritten Geschlechts. Frage an Dagmar Pauli, die sich im Klinikalltag unter anderem mit der Geschlechtsidentität von Kindern und Jugendlichen befasst: Wäre das dritte Geschlecht eine Hilfe? «Auf jeden Fall. Besonders für intergeschlechtliche und non-binäre Menschen wäre es eine Entlastung», so Pauli. Sie regt an, zum Beispiel in der Schule weniger nach biologischem Geschlecht zu unterteilen, sondern mehr nach Interessen und Vorlieben, welche die Kinder frei wählen können. Wenn dann in einer Gruppe immer noch mehr Jungen, mehr Mädchen oder mehr Non-Binäre sind, sei das aber komplett in Ordnung.
Eine völlig geschlechtsneutrale Erziehung findet Pauli nicht nötig. «Die meisten Kinder fühlen sich wohl mit ihrem Geschlecht, ihnen würden wir damit keinen Gefallen tun.» Wichtig sei, die Kinder aufmerksam zu beobachten und ihnen zuzuhören, was sie möchten. Verhält sich ein Kind geschlechtsuntypisch, lasse man es am besten einfach machen.
«Es soll sich ausprobieren dürfen», sagt Pauli, «Eltern müssen weder seinen Namen ändern noch das Pronomen wechseln, solange es dem Kind gut geht.» Schwierig sei, wenn Eltern es ablehnten, dass sich ein Bub sehr mädchenhaft benehme. «Hier rate ich, sich selbst zu hinterfragen: Wieso stört mich das? Weshalb denke ich ständig, dass er schwul wird, und was würde das für mich bedeuten?»
Angst vor Ablehnung
Die eigenen Gefühle und Ängste anzuerkennen, kann zu mehr Mitgefühl sich selbst und anderen gegenüber führen. Und es ist gut, sich Unterstützung zu suchen, wenn die Schwierigkeiten gross sind. Viele Eltern befürchten etwa, dass ihr Kind im Alltag mehr Ablehnung erfahren wird, wenn es nicht der Norm entspricht. «Es stimmt zwar, dass queere Menschen mehr Diskriminierung erleben, und das gilt für jedes Alter», sagt Anna Rosenwasser, die Sorge werde aber an die falsche Stelle gelenkt. «Wir können uns auch fragen: In welchem Kontext bewegt sich das Kind, dass es nicht sich selbst sein kann? Muss sich das Kind ändern oder das Umfeld?»
Mehr Offenheit und Akzeptanz, was Geschlechtsidentität und Geschlechtsausdruck anbelangen, weniger Hate-Crime gegen Andersliebende, dafür setzt sich die Queer-Community ein. Sämtliche Statistiken über die psychische Gesundheit von queeren Menschen zeigen, dass Akzeptanz und Unterstützung aus dem Umfeld und ganz besonders von den Eltern für sie matchentscheidend sind. «Ich wünsche allen Jugendlichen, dass sie sich auf eine lebensbejahende, völlig ergebnisoffene Art mit der Frage auseinandersetzen können, wie sie Anziehung und Geschlecht empfinden», sagt Anna Rosenwasser und strahlt. «Das sind u-schöne Fragen mit u-schönen Antworten.»
Veronica Bonilla wollte früher Fallschirmspringerin werden. Seit sie den freien Fall bei der Geburt ihrer Kinder erlebt hat, hat sich dieser Wunsch in Luft aufgelöst. Übergänge und Grenzerfahrungen faszinieren sie bis heute. Dabei liebt sie es, um die Ecke zu denken und sich davon überraschen zu lassen, was dort auftaucht. Und stellt immer wieder fest, dass ihr Herz ganz laut für die Kinder schlägt. Sie war bis 2022 auf der Redaktion fest angestellt, seither als Freie für das Magazin tätig.