Nacktheit
Pädophilenfutter?
Meine Freundin Caroline war zehn, als sie ihre Puppen verbannte. «Die brauch ich nicht mehr», antwortete sie auf meine fragenden Blicke. «Aber was spielen wir denn jetzt?» – «Fräuleindlis», meinte sie verheissungsvoll. Fortan verwandelten wir uns jede freie Minute in junge Frauen; Frauen, die als Hostessen – so nannte man damals die Flugbegleiterinnen – ihr Geld verdienten, einen Freund hatten und Cabriolet fuhren. Dazu trugen wir bauchfreie Schlabbershirts, die uns über die Schultern hingen, Leo-Leggins und die BHs unserer Mütter, die wir mit Watte ausstopften. Unsere Vorbilder waren Jennifer Beals aus «Flashdance» und natürlich Madonna, the one and only. Wir hatten eine ziemlich konkrete Vorstellung vom Leben einer jungen Frau – schliesslich schrieben wir die Achtzigerjahre, das Leben verhiess eine Party zu sein. Um diesem Lebensgefühl Ausdruck zu verleihen, setzten wir uns in Schwarz-Weiss-Fotoautomaten und warfen uns in Pose: Arme in den Nacken, Lippen zum Kussmund formen, Augenzwinkern. Mädels: Das Leben wird lustig. Und Jungs: Nehmt euch in Acht! Die Passfotos verteilten wir fröhlich auf dem Schulhof.
Frausein anprobieren
Wir taten das, was jede Generation von Mädchen in der Pubertät getan hat: Wir probierten das Frausein aus, schlüpften in verschiedene Rollen, testeten unsere Wirkung. Damals lockte das kaum jemanden hinterm Ofen hervor. Höchstens unsere Mütter, die uns ermahnten, doch bitte anständig gekleidet das Haus zu verlassen. Auch eine Ermahnung, die jede Generation kennt.
Heute ist das anders. Heute würden wir die fotografischen Zeugnisse dieser Selbstsuche vermutlich aufs Netz stellen. Und die digitale Verbreitung löste sofort einen Schrei des Entsetzens aus: Solche Bilder sind reinstes «Pädophilenfutter!», heisst es regelmässig, und: Die jungen Mädchen von heute geben sich zu früh zu lolitamässig. Man müsse sie unbedingt vor sich selber schützen. Sicher: Eltern sollten ihre Töchter und Söhne über die Gefahren im Netz aufklären. Chancen und Risiken der neuen Medien gehören in den Lehrplan. Aber wenn wir von «kleinen Lolitas» und «sexualisierten Bildern» sprechen – betrachten wir dann die Mädchen nicht aus demselben Blickwinkel, den wir doch für so krankhaft halten? Diktiert dann nicht ein «pädophiler Blick» unsere Reaktion?
Wie tief verankert die Angst vor Pädophilen ist, zeigt sich etwa in Badeanstalten und öffentlichen Parks: Dort sind sie schnell zur Stelle, die Sittenwächter über entblösste Kinderfudis. So sass ich unlängst mit befreundeten Müttern in einem Park, und unsere Kleinen taten das, was Kinder beim Anblick einer Planschgelegenheit gerne tun: Sie zogen sich aus und hüpften in den Brunnen. Keine fünf Minuten später klopfte uns ein Stadtzürcher Ordnungshüter der SIP auf die Schultern und fragte im Geiste seines Auftrags Sicherheit, Intervention, Prävention: «Wollen Sie, dass dieser Park zu einem Spanner-Treffpunkt wird?» Ohne unsere Antwort abzuwarten, fuhr er unbeirrt fort: «Was Sie da machen, ist Beihilfe zur Pädophilie! » Hoppla, da blieben uns Müttern geradewegs die Darwidas im Halse stecken.
Der pädophile Blick ist in unserer Gesellschaft omnipräsent: Vor den Parks wurden bereits die Museen von der kindlichen Nacktheit gesäubert. So titelte der «Spiegel» vor einem Jahr: «Kirchners Lolitas – waren die Maler der Brücke pädophil?» Die Diskussion entbrannte um eine Ausstellung des Künstlerkollektivs «die Brücke» im Sprengel-Museum Hannover. Die Bilder des Anstosses heissen «Marcella» und «Fränzi», entstanden vor rund hundert Jahren und zeigen die vorpubertären Lieblingsmodelle der Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner, Erich Henkel und Max Pechstein. Auf über 300 Gemälden und Zeichnungen sind die beiden Mädchen zu sehen; mal toben sie durchs Atelier, mal spielen sie miteinander oder eben – sie baden nackt im See. Klarer Fall, diagnostizierte eine Kunsthistorikerin aus Stockholm: Ausdruck pädophiler Triebhaftigkeit. Wie sie dazu kommt: «Die Lolita-Augen sind mit dunklem Kajal umrandet, die Lippen prangen in aufreizendem Rot.» Wir haben es dabei wohlgemerkt mit expressionistischen Werken zu tun, die gerade für ihre irreale Farbigkeit bekannt geworden sind. Das Auge sieht eben auch, was der Zeitgeist hören möchte. Da erstaunt es nicht, dass sich mittlerweile fast alle Museen hüten, Kinder-Akte auszustellen.
Nur ein Popo
Ohne das unbestritten grauenhafte Thema sexueller Missbrauch in irgendeiner Weise verharmlosen zu wollen, frage ich mich: Ist es wirklich in unserem Sinne, dass wir Eltern und damit letztlich auch unsere Kinder hinter jedem Baum ein Monster fürchten, das den Kleinen an die Wäsche will? Und umgekehrt: Produzieren wir tatsächlich, wenn wir unseren Kindern einen vermeintlich natürlichen Umgang mit ihrer Nacktheit, mit ihrer Sexualität, beibringen wollen, unwillkürlich pädosexuelle Männer? So wie wir mit Bierwerbung Alkoholiker generieren? Und warum fragt sich niemand, was für Konsequenzen die Tabuisierung nackter Kinderkörper, deren Verdrängung aus dem öffentlichen Raum haben könnte?
Ich bin überzeugt, dass wir gut daran tun, uns wieder einen «normalen Blick» anzueignen und einen entblössten Hintern als das wahrnehmen, was er ist: ein nackter Popo. Das heisst noch lange nicht, dass wir es goutieren, dass sich Mädchen gleich nach den Windeln die XXS-Strings überstreifen. Auch wenn es diese mittlerweile bereits für Achtjährige im Fachhandel zu kaufen gibt.
Nüchtern und nicht mit einem deformierten Blick können wir dann vielleicht auch die Bilder des 10-jährigen Kindermodels Thylane Lena-Rose Blondeau beurteilen – welche diesen Sommer für grossen Wirbel sorgten. Und sie als das sehen, was sie wirklich sind: nämlich eine in Werbung verpackte Provokation. In der Fotostrecke des französischen Magazins Cadeaux räkelt sich die kleine Französin geschminkt, frisiert und in goldenen Highheels auf einem Tigerfell. Ein Mädchen inszeniert als Kindfrau. Eine Provokation, die weltweit für Schlagzeilen gesorgt hatte, auch in den Sonntagszeitungen der Schweiz. Über Geschmack lässt sich streiten, aber eine Erfindung unserer «versauten» Zeit ist die Kindfrau keineswegs: Die Dreissigerjahre brachten uns Shirley Temple, die als Vierjährige eine Prostituierte im Kurzfilm Polly Tix verkörperte – was zu einem öffentlichen Aufschrei führte und der Produktionsfirma Twentieth Century Fox eine Missbrauchsklage einbrachte. Und die Siebziger- und Achtzigerjahre waren die Zeit von Brooke Shields, die als Badewannen-Nixe vor der Kamera posierte (die Bilder der 10-jährigen Brooke von Garry Gross wurden im Sommer 2009 aus der Londoner Tate Modern Gallery entfernt, weil sie als Magnet für Pädophile eingestuft wurden).
Die Vermarktung kleiner Mädchen hat eine lange Tradition. Und schon damals ging die Rechnung auf, jedenfalls für Mutter Teri Shields, die ihre Brooke als Lolita verkaufte: Ihrer Tochter gelang nach genannter Fotoserie in Filmen wie «Pretty Baby» und der voyeuristischen Robinsonade «Die blaue Lagune» der Durchbruch. Damit sind wir auch schon beim eigentlichen Problem angelangt: bei den Eltern. Oder vermutlich noch genauer: bei den Müttern. Bei den Geld witternden Müttern, die ihre Töchter als Filmstars, singende oder tanzende Supertalente oder Models gross rausbringen wollen. Hauptsache famous.
So geschehen auch bei den russischen Müttern, die ihre Sprösslinge in den Neunzigerjahren bei neu gegründeten Kindermodelagenturen unterbringen wollten und den Fotografen Sergey Bratkov deshalb gebeten hatten, eine attraktive Bewerbungsmappe zusammenzustellen. Da sich die Mamas weder Stylisten noch Visagisten leisten konnten, machten sie die Kinder für das Fotoshooting selber zurecht. Das Resultat: Sexy Bilder von aufgebretzelten, vorpubertären Kindern. Der Künstler selbst stellte diese Fotoserie unter dem Namen «Kids» in zahlreichen Galerien und Museen aus und löste damit einen Sturm der Entrüstung aus. Selbst der Gang zur Ethikkommission blieb Bratkov nicht erspart. Obwohl seine Fotografien nichts anderes sind als das Spiegelbild dekadenter, bestenfalls medial überforderter Eltern. Wertvolle Dokumente also, die eine Grundlage bieten könnten für eine kritische Auseinandersetzung mit den Wertvorstellungen unserer Zeit. Und der Frage, wo denn Unschuld aufhört und Schuld anfängt. Offenbar scheint es aber einfacher zu sein, den Bildern den Stempel «Pädophilenfutter » zu verpassen und sie aus den Galerien verschwinden zu lassen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Aber schleichen wir uns damit nicht etwas gar billig aus der Affäre?