
Erziehung
Ohne Strafen und Drohen
Von Marah Rikli
Kinder zu bestrafen, schadet mehr, als es nützt. Das wissen die meisten Eltern und drohen trotzdem dauernd mit Konsequenzen. Wer wirklich damit aufhören will, muss sich auch mit seiner eigenen Kindheit befassen und sich einige unbequeme Fragen stellen. Es lohnt sich.
Als mein Sohn geboren wurde, war für mich klar: Ich wollte ihn erziehen, ohne ihn zu bestrafen. Ich schreibe bewusst «wollen», denn oftmals tat ich es in den vielen Jahren dennoch. Ich kapitulierte, weil er zum Beispiel die Hausaufgaben nicht machte oder seine «Ämtli» nicht erledigte. Ich fühlte mich oftmals unter Handlungszwang und hatte damals – als alleinerziehende Mutter – nicht die Kraft, lange nach anderen Wegen zu suchen. So schickte ich ihn in sein Zimmer, strich den Kinobesuch oder die Medienzeit, wenn er meine Regeln nicht befolgte. Ich übte damit Macht aus, wollte eine Hierarchie durchsetzen, wenn ich ehrlich bin: ihn ändern. Rückblickend war das meiste, was ich mit dem Strafen versuchte, jedoch unwirksam. Die Motivation in der Schule wurde dadurch nicht grösser, die Ämtli hat er dadurch nicht häu ger gemacht, Regeln nicht öfter eingehalten.
Warum bestrafen fast alle Eltern dennoch – manche mehr, andere weniger, auch wenn wir es eigentlich gar nicht wollen? Für diesen Text habe ich mit Eltern über ihre eigene Kindheit und mit einer Psychotherapeutin über Erziehung ohne Strafen gesprochen. Das Fazit: Ob wir bestrafen oder nicht, hat sehr viel mit unserer eigenen Kindheit zu tun. Wer als Kind nicht gesehen worden ist mit seinen Bedürfnissen, wird später als Eltern die Erfahrung machen, dass die eigenen Kinder genau diese unverarbeiteten Gefühle triggern. Das zornige kleine Kind vor uns trifft dann auf das verletzte innere Kind in uns. Ich treffe mich mit meiner Bekannten Ondine Riesen, betriebliche Mentorin und selbst Mutter aus Biel. Sie hat ein liebendes und unterstützendes Elternhaus erlebt und dennoch Strafen:
«Ich tickte anders als meine beiden älteren Schwestern. Ich kam als Kind sehr oft zu spät, weil ich die Zeit vergass. Ich verlor Dinge, machte Unfälle oder ignorierte die Hausaufgaben. Meine Mutter wurde jeweils streng und gab mir Zimmerarrest oder andere milde Strafen. Ich verstand oft nicht, was ich falsch gemacht hatte. Als ich erwachsen war, erkrankte ich an einem Burn-out und ich realisierte mehr und mehr: Ich bin nicht falsch. Ich wurde einfach nicht verstanden.»

Eine aktuelle Studie der Universität Freiburg zeigt, dass heute nicht nur milde, sondern auch schwere Strafen in der Erziehung zum Alltag vieler Familien gehören. Knapp 40 Prozent haben schon einmal eine Körperstrafe gegenüber ihrem Kind angewendet. Schläge auf den Hintern sind mit 15 Prozent die häu gste Bestrafungsmethode. Doch auch psychische Gewalt kann Schaden anrichten, insbesondere, wenn sie regelmässig vorkommt, etwa mit Liebesentzug oder das Kind anzuschreien, es verbal abzuwerten. Fast jeder 6. Elternteil übt regelmässig solche psychische Gewalt aus. Der Anlass für die Eltern sei vielseitig, schreibt der Kinderschutz Schweiz dazu: «Eltern fühlten sich geärgert oder provoziert, sie waren müde und mit den Nerven am Ende oder das Kind hat nicht gehorcht.»
Nadine Zimet, Psychotherapeutin und Leiterin des Zentrums für Beziehung und Begabungsförderung (ZfB+), setzt sich seit über dreissig Jahren mit straffreier und bedürfnisorientierter Erziehung auseinander. Suchen Familien oder Lehrpersonen Hilfe bei ihr, fragt sie als Erstes immer: «Was steht hinter dem Verhalten des Kindes, und was steht hinter der Motivation des Erwachsenen, es zu bestrafen?» Für Zimet spielt in der Beratung das Beziehungssystem und die Geschichte der Eltern eine wichtige Rolle: «Eltern wollen das Kind mit einer Strafe dazu bringen, das zu tun, was sie für ihr Kind als richtig empfinden. Sie wollen das Kind aus Fürsorge weiterbringen und zu einem integrierten Teil der Gesellschaft erziehen. Ein wichtiges Bedürfnis von Eltern, aber mit der falschen Strategie verknüpft», sagt die Expertin. Sie macht Eltern Mut: «Es ist nicht möglich, von heute auf morgen mit dem Strafen aufzuhören. Es ist aber möglich, sich heute für einen neuen Weg zu entscheiden und neue Strategien zu entwickeln. Eltern können innerhalb von sechs bis zwölf Wochen lernen, ihre Verhaltensmuster aufzubrechen.»
Nadine Zimet erklärt mir im mehrstündigen Zoom-Gespräch, wie Erziehung ohne Strafen funktioniert: «Als Basis der straffreien Erziehung lernen Eltern verstehen, dass es nicht ihre Aufgabe ist, alle Wünsche und Forderungen ihrer Kinder zu erfüllen. Denn gerade Mütter würden oft in ein Missverständnis von bedürfnisorientierter und straffreier Erziehung rutschen und Wünsche und Forderungen der Kinder mit Bedürfnissen verwechseln. So geraten sie in eine dienende Rolle. «Nicht zu strafen heisst nicht, jedem Impuls des Kindes nachzugehen, sondern das dahinter liegende echte Bedürfnis und die Strategien des Kindes zu erkennen», erklärt die Therapeutin und macht ein Beispiel: «Ein Kind möchte ein ‹Sugus› und weint. Ist das ‹Sugus› nun das Bedürfnis? Nein, das Verlangen nach einer Süssigkeit ist eine von vielen Strategien des Kindes, um ein Bedürfnis wie zum Beispiel Langeweile, Lust, Zuwendung oder auch Hunger zu erfüllen.» Touché. Solche «Sugus-Situationen» kenne ich als Mutter zur Genüge. Auch mit meinem zweiten Kind. Oft sage ich dann: «Nein und Punkt.» Mein Kind schreit, vielleicht schlägt es um sich und schlussendlich mündet die Situation darin, dass ich laut werde oder mit Konsequenzen drohe. Die Psychotherapeutin erklärt mir: «Fragen sie sich stattdessen immer und immer wieder: Worum geht es wirklich? Was steckt hinter dem Verhalten des Kindes? Kein Kind macht etwas ohne Grund.»
Nadine Zimet, Psychotherapeutin

Ich spreche mit einer anderen Bekannten über das Strafen, der Lehrerin Salome Meyer aus Luzern, sie heisst mit richtigem Namen anders. Wir treffen uns an einem ruhigen Ort in einem Zürcher Kaffee und reden mehrere Stunden über ihr Aufwachsen. Salome ist heute selbst Mutter zweier Kinder und hat in ihrer Herkunftsfamilie ein sehr hartes Bestrafungssystem, physische und psychische Gewalt erlebt. Nach jahrelanger Therapie könne sie heute damit umgehen. Sie will ihre Familiengeschichte aufarbeiten, auch um an ihren Kindern nicht zu wiederholen, was sie selbst als Kind erlebte:
«Ich wurde sehr oft bestraft. Mit Schlägen durch einen Teppichklopfer zum Beispiel, oder schütteln, Haare reissen, Liebesentzug oder Einsperren. Ich bin 1980 geboren und nicht 1950, wie manche sich jetzt vielleicht denken. Ich musste immer weinen, bevor mein Vater zuschlug. Auch wenn er meine Brüder züchtigte und gleichzeitig war ich froh, dass er mich mehr schonte als sie. Wenn ich zu spät nach Hause kam oder mir zum Beispiel die Milch auf den Tisch ausleerte, hatte ich Panik. Ich war immer auf der Hut, jeder Schritt, den ich machte, konnte bei meinem Vater Wut auslösen und damit eine Strafe. Mein Vater war trotzdem meine engste Bezugsperson in der Familie, durch die ich viel Liebe erfuhr.»
«Salome erfuhr in der Beziehung zu ihrem Vater Zuckerbrot und Peitsche, Belohnung und Bestrafung, die stärkste Form, ein Kind abhängig zu machen», ordnet die Fachfrau Nadine Zimet ein. Dabei wäre eines der wichtigsten psychischen Grundbedürfnisse des Menschen Bindung.
◆ Hinter jedem (ungewünschten) Verhalten eines Kindes steckt ein Bedürfnis.
◆ Nehmt euch Zeit, das Bedürfnis hinter dem Verhalten oder der Forderung zu erfragen.
◆ Setzt euch mit eurer eigenen Prägung und den Strafen, die ihr erfahren habt, auseinander.
◆ Erklärt eurem Kind eure eigenen Gefühle und Bedürfnisse.
◆ Nehmt eure Kinder ernst und behandelt sie auf Augenhöhe.
◆ Konflikte sind eine Chance zur Entwicklung.
◆ Eltern müssen nicht perfekt sein.
◆ Holt euch Hilfe, wenn ihr euch überfordert fühlt.
Links:
➺ kinderschutz.ch
➺ elternnotruf.ch
➺ kescha.ch
➺ projuventute.ch/de/elternberatung
Eine Untersuchung des Psychoanalytikers René Spitz ergab, dass Menschen ein angeborenes Bedürfnis haben, enge und von intensiven Gefühlen geprägte Beziehungen aufzubauen. «Die Bedrohung, von den Eltern verstossen zu werden, käme ihrem Tod gleich», schreibt Spitz in seinen Studien. Dabei geht es um mehr als nur um körperliche Bedürfnisse. Es geht um geistige und körperliche Anreize, wie den Blickkontakt zum Kind zu halten, mit dem Kind zu sprechen. Das Kind würde also alles tun, um die Bindung zu den Eltern nicht zu verlieren. Unter diesen Aspekten erscheinen mir auch schon sogenannte «milde» Strafen, wie ich sie zum Beispiel mit dem Zimmerarrest schon anwendete, als Machtmissbrauch. Mein Kind ist abhängig von mir, nicht ich von ihm – Chancengleichheit sieht anders aus.
Nadine Zimet stellt dazu die Fragen in den Raum: «Gibt es überhaupt milde Strafen?» Die Abstufung ndet sie fraglich: «Eine Strafe ist, wenn ich dem Kind wehtue und Angst mache, damit es lernt, dass es sich anders verhalten muss. Einem Kind zu sagen: «Geh in dein Zimmer und komm wieder, wenn du dich anders verhältst», ist eine Forderung mit einer versteckten Drohung. Wenn ich hingegen mit meinem Kind mitgehe, es beruhige und mit ihm über unsere Gefühle und Bedürfnisse spreche und wir gemeinsam Lösungen entwickeln, bleiben wir in Verbindung.

Forschungen zu den Grundbedürfnissen von Kindern belegen: Übermässige Kontrolle, Manipulation oder Strafen hemmen die gesunde Entwicklung. Doch warum bestrafen wir unsere Kinder, auch wenn wir immer mehr wissen, dass es unseren Kindern schadet? «Weil diese Reaktionen automatisiert sind», sagt die Psychotherapeutin, «wir müssen erst lernen, wie man gewaltfrei erzieht. Und das ist für viele Erwachsene, als ob sie eine neue Sprache lernen müssten.»
Grenzen trotzdem setzten
Dieser Meinung ist auch Ellen Girod. Die Zürcherin ist Journalistin und gründete vor sechs Jahren den Blog «chezmamapoule. com». Mit Ihren Texten, Podcasts und Interviews hat sie sich einen Namen als Expertin für bedürfnisorientierte und straffreie Erziehung gemacht. Wir treffen uns zu einem Gespräch für diesen Artikel. Ich möchte mehr darüber erfahren, wie sie ihre beiden Kinder straffrei erzieht. «Beim Bestrafen lernen Kinder, was Angst, Schmerz und Macht sind. Ich möchte nicht, dass meine Kinder lernen, sich vor Konsequenzen und diesen Gefühlen zu fürchten. Stattdessen sollen sie lernen, wie man Grenzen von anderen respektiert und diese auch selber setzt», erklärt Ellen Girod die Motivation ihres Erziehungsstils: In der Theorie klingt das richtig und wichtig.
Doch in der Praxis sind viele Eltern überfordert mit einer straffreien Erziehung, so auch ich. «Es ist idealistisch zu glauben, dass eine Erziehung auf Augenhöhe einfach so ohne weiteres funktionieren», beruhigt sie mich. «Die meisten Eltern aus unserer Generation wurden autoritär erzogen und versuchen, es selber anders zu machen. Doch die Prägungen sind stark. Natürlich schreie auch ich manchmal und mache viele Fehler.»
Kinder nicht gefügig machen
Ondine Riesen versteht ihre Mutter und ihr Verhalten heute besser, es sei auch für ihre Mutter schwer gewesen in der Kindheit und im Familiensystem:
«Meine Mutter wuchs konservativ auf. Die Oberen hatten das Sagen, es galt, der älteren Generation Respekt zu zeigen im Sinne von Unterwerfung. Dadurch mussten auch wir folgen. Sehr wichtig war ihr eine Entschuldigung, das war für sie der Beweis, dass ich gefügig gemacht worden bin. Ja, sie wollte mich gefügig machen. Doch diesen Momenten fühlte ich mich leer, schwach und wertlos. Auch wenn meine Eltern liebende Eltern waren, ihr Konzept von Autorität und Bestrafung hat mich bis ins Erwachsenenalter verunsichert.»
Ich will meine Kinder nicht gefügig machen. Ich will sie nicht bestrafen. Ich will, dass sie autonom und selbstbestimmt, mit einem hohen Selbstwert aufwachsen. Aber ich möchte auch, dass sie gewisse Regeln einhalten. Nadine Zimet erklärt mir, wie das möglich ist, ohne Macht auszuüben: «Wenn das Kind zu spät kommt, können Sie aufzeigen, warum Ihnen Pünktlichkeit so wichtig ist: zum Beispiel, weil gemeinsames Essen etwas Schönes ist oder weil es Ihnen wichtig ist, dass Ihr Kind in Sicherheit ist.»
Gefühle erklären, statt Regeln aufstellen
Sie findet, dass wir Kindern oft zu wenig zutrauen, dabei lernen Kinder psychologisches Grundwissen schneller als Erwachsene. «Erklären Sie ihnen Ihre Gefühle und Bedürfnisse, seien Sie Vorbild, wie Sie ein Problem lösen und Ihre echten Bedürfnisse gesund stillen. So werden Sie zum Vorbild und leisten Hilfe zur Selbsthilfe.»
Auch Ellen Girod möchte für ihre Kinder Vorbild sein: Es sei für sie zentral, auch ihre eigenen Gefühle zu kennen, nur so könne sie diese auch ihren Kindern kommunizieren. «Wenn die Kinder verstehen: Mami ist in meinem Team, sie ist aber verantwortlich für uns, akzeptieren sie auch meine Entscheidungen. Indem ich meine Kinder ernst nehme, statt eine Moralpredigt zu halten und dabei übe authentisch zu sein, verschaffe ich mir Autorität ohne Strafen.»
«Sie müssen als Eltern nicht perfekt sein», sagt Nadine Zimet zum Schluss unseres Gespräches, «Fehler sind wichtig, daraus lernen wir.» Konflikte sind eine Chance zur Entwicklung. Die erapeutin rät mir sogar, Konfliktsituationen mit meinem Sohn zu feiern, da werde es erst richtig interessant: «Wir spüren unsere Grenzen und Bedürfnisse und können Kompromisse finden, Lösungen kreieren.»
Mein Sohn und ich sind miteinander erwachsen geworden, seit ein paar Monaten ist er volljährig. Wir hatten viele Kon ikte, ich schickte ihn ins Zimmer, er wurde wütend, ich war hil os, manchmal überfordert. Heute können wir o en miteinander sprechen. Kürzlich sagte ich ihm, dass ich viele Fehler gemacht habe aus Unwissen und entschuldigte mich. Und er sagte: «Ich doch auch.» Dann umarmten wir uns und redeten über ein neues «TikTok»- Video, das er entdeckt hat.