Monatsgespräch / Gerald Hüther
«Oft ist das Kind Objekt elterlicher Bewertungen»
Gerald Hüther hat schon viele Bücher geschrieben. Über das Geheimnis der ersten neun Monate. Über Bildung und Erziehung. Oder über Angst, Hochbegabung und Freiheit. Der Neurobiologe befasst sich seit vielen Jahren mit dem Einfluss früher Erfahrungen auf die Hirnentwicklung und plädiert mittlerweile für eine
Neuausrichtung der Biologie, weg vom Zerlegen von Organismen in ihre Einzelheiten, hin zum Erforschen, was Leben verbindet. Im vergangenen Jahr hat sich Hüther von seiner Vortrags- und Lehrtätigkeit zurückgezogen, eine Auszeit gegönnt und getan, was er am liebsten tut: Nachdenken. Daraus ist ein Buch entstanden, das eine Art Synthese seiner bisherigen Forschungen ist.
wir eltern: Herr Hüther, Ihr neues Buch heisst «Etwas mehr Hirn, bitte». Wo fehlt es uns an Hirn?
Gerald Hüther: Sie haben den Titel falsch verstanden. Es geht nicht darum,
dass der Einzelne sein Hirn mehr benutzen soll. Sondern es geht um Folgendes: Wenn sich zwei Menschen zusammen tun, einander als Subjekte begegnen und ihr Wissen, ihr Können und ihre Erfahrungen austauschen, dann haben plötzlich diese beide Menschen auf einen Schlag doppelt so viel Gehirn wie jeder alleine.
Was meinen Sie mit «einander als Subjekte statt als Objekte begegnen»?
Es ist etwas völlig anderes als das, was wir allzu oft tun, indem wir andere Menschen als Objekte behandeln. Nur der Mensch hat die Fähigkeit, andere nach seinen eigenen Vorstellungen zu formen oder zur Durchsetzung seiner Interessen zu benutzen. Tiere machen das nicht. Rennt der Wolf hinter dem Hasen her, ist das eine klare Beziehung von zwei Subjekten: Der eine haut ab, der andere will ihn fressen.
Verstehe ich richtig: Wir machen den Hasen zum Objekt, indem wir ihn einsperren, züchten und mästen, bevor wir ihn essen. Wie machen wir unsere Kinder zu Objekten?
Viele Eltern haben eine bestimmte Vorstellung, wie ihr Kind sein soll, was es zu tun und zu lassen hat. Welche berufliche Karriere es durchlaufen muss, um später die entsprechende Erbschaft anzutreten. Das Kind wird zum Objekt der elterlichen Bewertungen, Wünsche, Ideen und Massnahmen.
Spielt man dem Kind bereits im Mutterleib Mozart ab, damit später etwas Tolles aus ihm wird, macht man es also zum Objekt?
Wenn man damit eine bestimmte Absicht verfolgt schon. Das Hirn ist kein Muskel, den man trainieren kann. Wenn sich die Mutter aber über Mozart freut, entsteht auch im ungeborenen Kind Freude. Das ist okay. Frühförderung und elterliche Erziehungsbemühungen sind jedoch oft stark von Eigeninteressen motiviert.
Mit welchen Folgen?
Das Kind erlebt sich nicht als in seiner Einzigartigkeit gesehen. Es fehlt ihm die Sicherheit, geliebt zu werden wie es ist.
Wie reagiert es darauf?
In den ersten Monaten ist es noch ganz einfach, das Kind als Subjekt zu sehen und auf seine Bedürfnisse einzugehen. Aber danach erleben viele Kinder, dass sie zu Objekten elterlicher Erziehungsmassnahmen gemacht werden. Im Hirn des Kindes kommt es zu einer tiefen Erschütterung, einer unspezifischen Erregung, die mit Angst und Verunsicherung einhergeht, einer Art Schmerz. Interessant: Die Hirnforschung hat herausgefunden, dass wenn wir uns so behandelt fühlen, die gleichen neuronalen Netzwerke aktiviert werden wie wenn uns körperlicher Schmerz zugefügt wird. Das Kind muss sich aus diesem unhaltbaren Zustand befreien.
Wie?
Es hat zwei Möglichkeiten: Es macht den andern ebenfalls zum Objekt und sagt oder denkt: Blöde Mama. Dumme Kuh. Ende der Begegnung – fortan wird die Beziehung ein einziger Kampf. Das Kind ist so aber in unserer heutigen Beziehungskultur angekommen.
Die zweite Möglichkeit?
Das Kind macht sich selbst zum Objekt seiner negativen Bewertung. Das ist nicht so gefährlich für die anderen, aber umso schlimmer für es selbst. Essstörungen sind eine Folge davon, ebenso das nagende Bewusstsein, man sei nicht richtig, nicht gut genug, man sei nicht liebenswert.
Dabei wären wir alle hochbegabt, haben Sie auch schon gesagt. Wieso bleiben
wir es nicht?
Kinder kommen mit sehr unterschiedlichen Begabungen zur Welt. Wir glauben aber, es käme auf die kognitiv-analytischen Fähigkeiten mehr an als auf die anderen und mühen uns deshalb ab, diese allen Kindern gleichermassen beizubringen. Dabei verlieren wir den Blick dafür, was das einzelne Kind besonders gut gekonnt hätte – und machen es zum Objekt unserer Vorstellungen.
Haben Sie eine Erklärung dafür?
Es liegt wohl an unserer eigenen Geschichte. In der Vergangenheit sind wir dauernd von aussen bedroht gewesen. Wenn draussen Krieg herrscht, ist es richtig zusammenzurücken und aufzuhören, seine eigene Individualität entwickeln zu wollen. Später wurden wir zu Objekten von Belohnung und Bestrafung und durch Dressur zum Gehorsam gezwungen. Der 2. Weltkrieg hat gezeigt, wie gefährlich dies ist. Aber jetzt ist die Zeit vorbei, in der wir nur weiterkommen, indem jeder Einzelne optimal funktionieren muss.
Was ist das Neue?
Wir haben im Augenblick noch keine guten Rezepte. Wir könnten jedoch beginnen,
uns gegenseitig als Subjekte wahrzunehmen und zu respektieren. Aus der Angst heraus will man den anderen kontrollieren und benutzen. Aus der Liebe heraus kann man sich nur von Person zu Person begegnen.
Wie schafft man die Veränderung? Selbst ist man ja meist ebenfalls in
Objekt-Beziehungen gross geworden.
Zunächst wäre es wichtig zu verstehen und anzunehmen, dass man selbst durch so etwas gegangen ist. Dann kann man sich klar machen, dass die Zeit vorbei ist und zusammen mit dem Partner, innerhalb der Familie oder einer Gruppe beschliessen, sich fortan darin zu unterstützen, es anders zu machen, eine neue Beziehungskultur zu entwickeln. Schimpft dann jemand am Küchentisch über Frau Meyer eine Etage höher, könnte man sich sagen: Jetzt haben wir die Frau Meyer zum Objekt unserer Bewertung gemacht.
Also üben, üben, üben.
In einer liebevollen Art sich gegenseitig helfen und einander ermutigen, es anders zu versuchen, wäre schon ein guter Anfang. Ich bin fest davon überzeugt, dass dann, wenn man das drei Tage durchhält, auch die Beziehung im Bett wieder besser läuft.
Das müssen Sie erklären.
Ein Nebeneffekt. Wer sich gesehen und ernst genommen fühlt vom anderen, der
gibt sich auch gerne wieder hin.
Kein schlechter Anreiz! Doch kommt es im Alltag mit Kindern nicht regelmässig zu Interessenkollisionen zweier Subjekte? Wie stark muss man sich dem anderen
unterordnen?
Überhaupt nicht. Sie dürfen sich nicht unterordnen! Natürlich müssen die Eltern dem Kind gegenüber deutlich machen, dass sie Bedürfnisse haben, dass sie sich über manches ärgern oder an ihre Grenzen kommen. Damit machen sie sich aber nicht zum Objekt, sondern zeigen sich – als Menschen mit Gefühlen und Bedürfnissen. Wichtig ist zu überlegen, in welchem Ton man sich dem Kind mitteilt und was es bereits versteht.
Eine häufige Situation: Das Kind schläft nicht durch, doch die Eltern brauchen dringend Schlaf und Erholung. Wie reagieren?
Lassen die Eltern das Kind alleine, obwohl es nicht selber einschlafen kann, werden sie dies später ausbaden müssen. Das tut dann viel mehr weh. Es gibt jedoch Wege, wie die Eltern zu genügend Schlaf kommen. Einer ist, gleichzeitig mit dem Kind ins Bett zu gehen. Vielleicht verbringen die Eltern aber auch einfach zu viel Zeit vor dem Bildschirm statt zu schlafen.
Ebenfalls häufig: Das Kind ist vom Computer nicht wegzukriegen. Was tun?
Ihm klarmachen: Ich halte es nicht aus, wenn du mit diesem Computerspiel weitermachst. Ich habe dich nicht auf die Welt gebracht um zuzuschauen, wie du dich jetzt ruinierst.
Bis zu welchem Alter kann man das zum Kind sagen?
Bis man 90 ist und Sohn oder Tochter 60. Es ist nie zu spät, sich als Subjekt zu begegnen. Das Hirn lässt sich relativ schwer umprogrammieren, doch die Beziehungen zu anderen Menschen lassen sich verändern. Als Begleiterscheinung ändern sich die Vernetzungen im Gehirn.
Kinder werden schon im Babyalter von Smartphones und Tablets magisch angezogen. Wie verändert der frühe Medienkonsum das menschliche Gehirn?
Vielleicht gewinnen diese digitalen Medien diese Anziehungskraft nur dann, wenn ein Kind sich nicht wirklich gesehen fühlt. Wenn sich Kinder dann so begeistert mit diesen Geräten beschäftigen, passen sich auch die Verschaltungen in ihrem Gehirn immer besser an diese Anforderungen an. Und all jene Vernetzungen, die sie brauchen, um sich in andere Personen hineinzuversetzen, Konflikte zu lösen und mit anderen gemeinsam etwas zu gestalten oder sich um etwas zu kümmern, werden im Gehirn dann eben weniger gut herausgeformt.
Gerald Hüther (64) ist Professor für Neurobiologie an der Universität Göttingen, Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen und populärwissenschaftlicher Bücher sowie Mitgründer verschiedener Initiativen im Bereich Bildung. Im vergangenen Februar gründete Hüther die Akademie für Potenzialentfaltung. Diese will Menschen darin unterstützen, Gemeinschaften zu bilden und ihre Beziehungskultur so zu verändern, dass jedes Mitglied und die Gemeinschaft als Ganzes das vorhandene Entwicklungspotenzial zur Entfaltung bringen kann. Hüther ist in zweiter Ehe verheiratet und Vater eines Sohnes sowie zweier Töchter.