Monatsgespräch
«Mathematik kann man nicht einfach erklären»
Von Regina Kesselring
Kinder müssten nicht unter Rechenschwäche und Zahlenpanik leiden, wenn der Matheunterricht anders wäre, so Margret Schmassmann.
wir eltern: Frau Schmassmann, Sie führen in Zürich ein Mathelabor. Was muss man sich darunter vorstellen?
Margret Schmassmann: In meinem Mathelabor berate ich Lehrpersonen, die Fragen zum Mathematikunterricht haben und Eltern, die sich Sorgen um ihre Kinder machen. Ich begleite auch Kinder und Erwachsene in ihrer oft schwierigen Mathematikentwicklung und gebe Kurse, halte Vorträge und arbeite bei der Entwicklung von Lehrbüchern mit.
Sind Menschen mit Matheproblemen Klienten oder muss man eher von Patienten sprechen?
Klienten, denn Matheprobleme sind keine Krankheit. Die WHO führt Rechenschwäche in ihrem Internationalen Katalog der Krankheiten ICD zwar auch unter psychischen Defiziten und Verhaltensstörungen auf. Doch diese Definition ist umstritten, unter anderem weil sie eine Dyskalkulie nur anerkennt, wenn die Leistungen in anderen Schulfächern deutlich besser sind und weil sie den Einfluss von Unterricht völlig ausklammert. Mathematikschwierigkeiten sind auch nicht angeboren. Neurowissenschaftler beschäftigen sich mit der Frage, ob die Dyskalkulie in bestimmten Hirnregionen festzumachen oder ein verantwortliches Gen zu finden ist. Der pädagogischen Umsetzung hilft das aber kaum weiter.
Dyskalkulie gibt es also gar nicht?
Doch, aber sie ist keine Krankheit. Sie lässt sich beschreiben durch Phänomene, wie zum Beispiel Leistungsrückstand von bis zu vier Jahren, auffällige Langsamkeit oder verfestigte Fehlermuster, mangelndes Verständnis von Zahlen und Rechenoperationen sowie Fingerrechnen. Aber auch Kinder mit eingeschränkten Voraussetzungen können den Zugang zur Mathematik finden, wenn sie entsprechend unterrichtet werden.
Ein schwacher Trost für Kinder mit Matheschwierigkeiten, denn in der Schule gehts nun mal darum, dem Schulstoff zu folgen.
Genau hier sehe ich ein grosses Problem. Dyskalkulie wird heute als ein Versagen im Mathematikunterricht definiert. Damit ist gemeint, dass die Probleme eng mit dem Unterricht gekoppelt sind. Im Alltag begegnen Kinder der Mathematik zwar bei vielen Gelegenheiten, doch die Übersetzung in geschriebene Zeichen und Formeln geschieht in der Schule. Dieser Schritt kann verunsichernd sein und deshalb ist die Qualität des Unterrichts, vor allem in der Unterstufe, von grosser Bedeutung für die Entwicklung des mathematischen Denkens.
Was ist mathematisches Denken genau?
Es heisst verknüpfen, vernetzen, Beziehungen herstellen, Probleme lösen, Vereinfachungen und Verallgemeinerungen finden. Ein Beispiel: Die Zahl 7 allein ist nicht sehr interessant. Wichtig an ihr ist, dass und wie sie in Beziehung zu anderen Zahlen steht. 7 ist 1 kleiner als 8 und 1 grösser als 6, ist eine Primzahl und lässt sich in verschiedene Zahlen zerlegen. Solche Zusammenhänge zu entdecken und zu nutzen sollte Kindern in der Schule ermöglicht werden. Mathematisches Denken hat nichts mit Vorgaben und ausgetrampelten Rechenwegen zu tun, sondern mit ausprobieren. Vorschriften verhindern das Denken und die Kreativität. Wie würden Sie denn 7 plus 8 rechnen?
Ich fülle bis 10 auf und rechne dann aus, was von 8 übrig bleibt und das zähle ich zu 10 dazu.
Das klassische Auffüllen also. Kein schlechter Weg, aber nicht der einzige. Doch in der Schule wird den Kindern oft eingetrichtert: So macht man das beim Zehnerübergang! Das geht dann folgendermassen: Der erste Schritt heisst «7 und wie viel ist 10?». Dafür muss ein Kind bereits die Zerlegungen von 10 im Kopf haben. Als Ergebnis erhält es 3. Im zweiten Schritt muss es sich überlegen, wie viel von 8 noch übrig bleibt und hierfür die Zerlegungen von 8 parat haben. Es erhält nun 5. Jetzt geistern fünf verschiedene Zahlen in seinem Kopf herum: 3, 5, 7, 8 und 10. Wie soll ein Kind mit Merkfähigkeits- oder Konzentrationsstörungen das auf die Reihe kriegen?
Was wäre denn einfacher?
Zunächst einmal sollte das Kind selbst ausprobieren dürfen, wie es vorgehen könnte. Vielleicht hat es eine Idee. Wenn es aber in eine Sackgasse gerät, kann man es dabei unterstützen, sein vorhandenes Wissen zu nutzen. Dabei hilft zum Beispiel die Verdopplung «7 + 7 = 14». 7 + 8 ist 1 mehr, also 15. Hat ein Kind die Verdopplungen erfasst, kann es Beziehungen zu sämtlichen Rechnungen rundherum herstellen. Mathematik ist eine Tätigkeit, ist kreativ und muss selber entdeckt werden. Man kann sie nicht erklären, schon gar nicht, indem man Rezepte gibt. Kinder mit Lernschwierigkeiten wenden sie häufig falsch an und jene ohne Schwierigkeiten brauchen sie nicht.
Aber vorgegebene Lösungswege funktionieren ja trotzdem. Immerhin haben Generationen von Schülern nach Schema X Mathe gelernt.
Ja, leider. Aber viele Menschen habe eine schreckliche Mathegeschichte hinter sich. Es ist erschütternd, was ich alles zu hören bekomme, von Erwachsenen, die geradezu traumatisiert sind, die vor dem Unterricht zitterten und weinten, die vor Prüfungen krank wurden und sich noch lange nach Schulabschluss an diese negativen Erlebnisse erinnern. Viele haben es trotzdem geschafft, sich bis zur Matur durchzumogeln, zum Teil ohne dass sie je die Multiplikation wirklich verstanden haben. Obwohl sie Hunderte Arbeitsblätter mit Malrechnungen gelöst und zur Kontrolle Figuren bunt ausgemalt haben. Gabs einen Papagei, waren die Resultate richtig. So konnten sie natürlich nicht lernen, Ergebnisse selbst einzuschätzen und zu überprüfen.
Und dafür ist die Schule verantwortlich?
Ja, wenn Lehrmittel eingesetzt werden, die Mathematik im Sinne von «Vormachen – Nachmachen – Abfragen» verstehen. Unterdessen ist man aber dabei, in der Mathedidaktik umzudenken und sowohl die Lehrbücher als auch die Ausbildung der Lehrpersonen zu verändern. Der Unterricht ist heute bei vielen Lehrerinnen und Lehrern kreativer und orientiert sich nicht an dem Motto «So geht das!», sondern regt zum Selbstentdecken an.
Aber es lässt sich nicht wegdiskutieren, dass Mathe ein wichtiges Selektionsfach ist, zum Beispiel bei der Übertrittsprüfung fürs Gymnasium.
Mathe wird zur Selektion missbraucht, weil sie scheinbar objektiv ist, weil man fälschlicherweise davon ausgeht, dass nur das Ergebnis zählt. Dabei geht es doch nicht ums fleissige Üben von Standardaufgaben, sondern eben ums Finden von eigenen Wegen. Mit einer gehörigen Toleranz gegenüber Fehlern!
Wie können Eltern ihr Kind unterstützen, wenns mit Mathe nicht klappt?
Sie sollten es ermutigen, zuerst selbst einen Lösungsweg zu finden und dann zu fragen: «Wie hast du es gemacht?», statt vorzuzeigen, wie sie selbst vorgehen. Auf jeden Fall sollten sie die Finger von fragwürdigem Übungsmaterial lassen. Blöcke zum «fröhlichen Üben», in denen Rechnungen in Ostereiern oder Weihnachtssternen versteckt sind – das bringt nichts. Es gibt gut aufgebautes Material, welches die zentralen Themen wie Zählen, Zehnersystem, Rechenoperationen, Sachrechnen und Grössen klar darstellt und ohne Schnickschnack anbietet.