Latenzphase
«Mädchen sind uncool und nerven!»
Nicos (7) Urteil ist knallhart: «Coole Mädchen gibt es nicht.» Wenn man es dann genauer wissen will, zieht er die linke Augenbraue hoch und sagt mit leicht angewidertem Unterton: «Hast du gesehen, womit die spielen?» Nein, hab ich nicht. «Die haben keine coolen Spielsachen, nur Barbies, Ponys und Little Petshop.» Und dann abschliessend: «Das geht mir richtig auf den Zeiger.»
Genau so tönte es bei uns daheim jahrelang. Wann immer ich ein gleichaltriges Mädchen ins Spiel bringen wollte, hiess es: «Mädchen sind doof!» Mit erwachsenen Argumenten wie: «Sie wohnt doch nebenan, da wär es doch nett, sie zum Geburtstag einzuladen» oder «Wir sind nun mal mit den Eltern befreundet, da könntest du ihr wenigstens einmal dein Zimmer zeigen», war bei meinen Söhnen herzlich wenig auszurichten. Die wenigen Situationen, in denen es kein Entrinnen gab, endeten in der Regel damit, dass die Buben spätestens nach 10 Minuten jammerten: «Mami, müssen wir mit denen spielen? Die nerven!»
Ehrlich gesagt, ich habe kapituliert. Ein Kindergeburtstag, 12 Jungs. Ferien mit Freunden, die nur Mädchen haben? Ähm, vielleicht in ein paar Jahren wieder.
Eine kleine Umfrage bei Müttern von Mädchen bringt ähnliches zu Tage. «Meine jüngere Tochter hat eine extreme Abneigung gegen Jungs», sagt Sabine, Mutter von Lina (8) und Sara (10). Sie finde alles an Buben «igitt» und weigere sich sogar, Kleider in dunklen Farben anzuziehen, weil die «nach Buben stinken». «Manchmal frage ich mich, ob das noch normal ist», sagt Sabine. Ist es.
Ungestört die Geschlechterrollen üben
Latenzphase heisst das «Mädchen sind doof»- oder wahlweise «Jungs sind blöd»-Alter in der Entwicklungspsychologie. Es beginnt ungefähr im Alter von 6 Jahren und endet in etwa mit 12. Schon Sigmund Freud fielen die Abgrenzungs- und Rückzugstendenzen von Kindern im Primarschulalter auf. Seine Schlussfolgerung: In der Latenzphase tritt die sexuelle Trieb-energie zugunsten der vielen neuen anderen geistigen Herausforderungen zurück, denen sich Kinder durch den Schuleintritt stellen müssen. Der Psychoanalytiker und Entwicklungspsychologe Erik Homburger Erikson spricht von einem «Werksinn», der sich in dieser Zeit entwickelt: «Das Kind erlernt Anerkennung durch die Herstellung von Dingen und durch kognitive Fähigkeiten zu gewinnen. Erfolgreich zu sein, wird ihm wichtig.»
Da kann man als Eltern definitiv nichts dagegen haben. Aber muss man das Gegengeschlecht deswegen gleich mit Adjektiven wie «behindert», «zickig» und «doof» betiteln? Würde vornehmes Desinteresse den Zweck nicht genauso erfüllen? «Leider nein», sagt Melitta Steiner, Sozialpädagogin und Mitarbeiterin der Zürcher Beratungsstelle für Eltern und Kinder «Pinocchio». Zur Latenzphase gehöre eben nicht nur das Lernen, sondern auch die Ausbildung der eigenen Geschlechtsidentität. «Mit ihren gleichgeschlechtlichen Gspändli können Kinder sozusagen ungestört ihre Geschlechterrollen einüben.» Zudem stärke es die eigene Identität und auch das Zusammengehörigkeitsgefühl natürlich ungemein, wenn man die jeweils anderen «total blöd» finden könne. Also Augen zu und durch, wenn der eigene Nachwuchs «Buben sind doof» aufs Etui kritzelt oder der Schwester Zeichnungen von erschossenen Ponys schenkt? «Es schadet nicht, darauf aufmerksam zu machen, dass das Gegengeschlecht auch guten Seiten hat», sagt Steiner. Aber wegerziehen lasse sich die temporäre Abneigung nicht, einfach, weil sie im Dienste einer Entwicklungsaufgabe stehe.
Alles dreht sich ums Verliebtsein
Bleibt noch die Frage nach den Kindern, die der Volksmund mit «Wiber-» oder «Buebäschmöcker» betitelt. Was ist mit den Buben, die mit den Mädchen in die Puppenecke gehen oder den Mädchen wie Floriane, die am liebsten Eishockey spielen? «Auch die machen ihren Weg», sagt Steiner. Die Mutter zweier Teenager hat gleich beide Varianten zu Hause. «Meinen Sohn in einen Fussballclub zu schicken, wäre genauso abwegig gewesen, wie meiner Tochter das Fussballspielen zu verbieten», sagt sie. Darum habe es bei beiden diese Zeit der ausschliesslich gleichgeschlechtlichen Freundschaften nie gegeben. Warum, weiss Steiner selber nicht: «Vielleicht», meint sie, «fühlten sie sich nicht so schnell in ihrer Geschlechtsidentität bedroht.»
Auch für die Kinderpsychiaterin und zweifache Mutter Wiebke Rebetez ist ein gutes Selbstbewusstsein einer der Faktoren, der es Kindern erlaubt, gegen die gängige Norm zu verstossen. Ihre Tochter war immer mit Jungs und Mädchen befreundet. «Sie brauchte diese starke Abgrenzung nicht, um sich im Umgang mit dem Gegengeschlecht sicher zu fühlen», sagt Rebetez.
Also doch, das Gegengeschlecht! Wer bei Freud weiter liest, stösst nämlich alsbald auf den Satz: «Das Verliebtsein ist das zentrale Thema der mittleren Kindheit. Einerseits wird in Mädchen- bzw. Jungengruppen das Gegengeschlecht abgewertet, um sich selbst als bedeutsam zu erfahren, andererseits sind das Interesse und die Anziehung nicht zu leugnen.» Aha.
Nico …? «Sicher nöd!» Erst nach mehrmaligem Nachhaken lässt er eine Ausnahme gelten. Olivia. Olivia ist nett. Olivia spielt Lego.