Selbstständigkeit
Machs selber!

iStockphoto/Carmen Martínez Banús
Selbstständig aufs WC gehen? Alleine nach Hause laufen? Das können Kinder im Kindergarten. Sollte man meinen. Irrtum. Es ist heute offenbar auch nicht mehr selbstverständlich, dass ein 4-Jähriger Spielsachen teilen oder ein «Nein» akzeptieren kann.
Genau deshalb erhalten die Eltern von angehenden Kindergartenkindern im Kanton Zürich eine Liste mit Reifekriterien. Die gestellten Anforderungen sind rudimentär: Tagsüber keine Windeln tragen, ist etwa aufgelistet, oder sich selber anziehen und zehn Minuten still sitzen können.
Der Verband Kindergärtnerinnen Zürich (KVZ) reagiert damit auf eine Entwicklung, die sich nicht nur im Kanton Zürich zeigt und die in den letzten Jahren immer wieder für Schlagzeilen sorgte: mangelnde soziale Schulreife.
«Eine Kindergärtnerin leistet je länger je mehr Erziehungsarbeit», bestätigt Vreni Scherrer, seit 14 Jahren Kindergartenlehrerin im Kanton Luzern. Viele Kinder seien in ihrem Verhalten und ihren Fähigkeiten weniger weit entwickelt als noch vor Jahren. Damit geht wertvolle Zeit, die eine Kindergärtnerin eigentlich in Bildungsaufgaben investieren müsste, heute für einfache Hilfestellungen im Alltag drauf: Fürs Helfen beim Schuhe anziehen oder Reissverschluss schliessen, fürs Schälen des Znüni-Rüeblis. Mit dem Computer würden Kinder gekonnt arbeiten, stellt Vreni Scherrer fest, «zehn Minuten still zuhören aber ist für manche eine Herkulesaufgabe».
Lernumfelder schaffen
Was ist der Grund für diese oft zitierte Unselbstständigkeit der jüngsten Schülergeneration? Sind unsere Kleinen verwöhnte Diven, die sich alle Probleme abnehmen lassen? Oder Eltern ängstliche «Gluggeren », die ihren Kindern kein Experimentierfeld mehr gewähren?
Schuld an den Entwicklungsdefiziten sind nicht die Kinder. Darüber sind sich alle Fachleute einig: Selbstständig werden ist ein Lernprozess. Und dabei stehen den Kindern oft die Eltern im Weg.
Hansruedi Brünggel, Leiter der Kantonalen Erziehungsberatung Ittigen (BE), ortet das Problem in einer «übertriebenen Individualisierung der Erziehung». Das Kind ist die Sonne, um die alle kreisen. So ist sich Lea gewohnt, zu Hause bei jedem Pieps sofort die Aufmerksamkeit aller Erwachsenen auf sich zu ziehn. Wie kann man von ihr dann erwarten, dass sie im Kindergarten wartet, bis sie an der Reihe für das Pedalo ist?
Eltern seien zudem häufig verunsichert, wie viel sie ihrem Kind zumuten dürften, sagt Psychologe Brünggel. Mia hat daheim keine Schere – zu gefährlich, findet ihre Mama. Wie soll das Kind im Kindergarten mit dem Schneidewerkzeug plötzlich umgehen können?
Die weitverbreitete Alltagshektik berufstätiger Eltern tut das seine dazu: Wenn es am Morgen für den Kindergarten pressiert, zieht halt Papa Tim die Schuhe an. Für 15 Versuche ist jetzt keine Zeit. Kinder werden aber nur selbstständig, wenn sie Dinge allein anpacken können, sagt Claudia Roebers, Professorin für Entwicklungspsychologie an der Uni Bern. Daher sei es wichtig, dass Kinder Übungsfelder erhalten. Am Nachmittag soll Tim seine Schuhe allein anziehen – auch wenn der linke Schuh am rechten Fuss landet. «Eltern können ihr Kind auch durch Sprache begleiten », empfiehlt Roebers. Mit dem Hinweis: «Jetzt hast du Bananenfüsse», merkt Tim schnell, dass etwas verkehrt ist. Auch ohne Eingreifen. Ausserdem sammelt das Kind neben der Erfahrung auch Erfolgserlebnisse. Und die spornen an. Wer nie etwas allein meistern muss, traut sich schnell einmal nichts mehr zu.
Unabhängigkeit zulassen
Davor warnt Hansruedi Brünggel: Auch wenn es gut gemeint sei, dem Kind Probleme abzunehmen, behindern Eltern damit dessen Entwicklung. Kinder brauchen altersgerechte Herausforderungen, an denen sie wachsen. Einen Merksatz, in welchem Alter Kinder was können sollten, gibt es allerdings nicht. Denn der Entwicklungsstand jedes Kindes ist individuell. Erziehung ist immer eine Gratwanderung zwischen Überbehütung und Überforderung. Eltern sollen für ihr Kind da sein, wenn es sie braucht. Aber sie müssen Unabhängigkeit zulassen, wenn das Kind eigenständig seinen Weg gehen kann.
Fakt ist: Je mehr Vertrauen ein Kind von seinen Eltern erfährt, umso mehr traut es sich auch selber zu. Schon ein Dreijähriger kann beim Tischdecken oder Gemüseschneiden helfen. Klar: Hin und wieder geht ein Teller in die Brüche oder ein Schnitt in den Finger. Nichts, was bleibende Narben hinterlassen würde. Vieles aber, das eine bleibende Erfahrung hinterlässt: Ich kann das!
Acht Schritte in die Selbstständigkeit
1. Selbstvertrauen stärken. Selbstständig wird, wer selbst an sich glaubt. Eltern können für Erfolgserlebnisse sorgen, indem sie dem Nachwuchs etwas zutrauen.
2. Ermutigen. Um sich Neues zuzutrauen, müssen Kinder ermutigt werden. «Frag die nette Frau selbst»
3. Einnbeziehen und loben. Kinder wollen gebraucht und geschätzt werden. Mit einem Ämtli tragen sie Wichtiges zum Familienalltag bei. Dafür verdienen sie auch aufrichtiges Lob.
4. Keine Perfektion verlangen. Wenn sich das Kind Mühe gegeben hat, sind auch Teilerfolge zufriedenstellend. Es muss nicht immer alles perfekt sein! Das ermutigt das Kind für ein nächstes Mal.
5. Selbst bestimmen lassen. Wer selber entscheiden darf, lernt die Konsequenzen zu tragen. Wenn das Kind im Winter Bermuda-Shorts anziehen will, hilft ein Temperaturtest auf dem Balkon, den Entscheid nochmals zu überdenken.
6. Erfahrungsfreiraum gewähren. Das Kind soll eigene Erfahrungen machen, Dinge ausprobieren und auch mal auf die Nase fallen. Fehler passieren und aus Fehlern wird gelernt.
7. Zeit einplanen. Kinder brauchen Zeit, um etwas allein zu tun. Eltern brauchen im Gegenzug dazu Geduld.
8. Nur helfen, wenn nötig. Solange das Kind keine Hilfe anfordert, braucht es sie nicht.
Es glaubt daran, es alleine zu schaffen.
Buchtipp: Von der Erziehung zur Einfühlung — Wie Eltern und Kinder gemeinsam wachsen können. Naomi Aldort.