Kinderbetreuung
Lernen durch Spiel und Spass
Von Karin Landolt
In Schweden werden bereits Einjährige nach pädagogischen Grundsätzen betreut. Die Bildungsbotschafterin Ursula Armbruster sagt, warum.
wir eltern: Schweden ist seit der Nachkriegszeit Vorbild in Gleichstellungsfragen, der Beteiligung der Väter an den Elternpflichten sowie in der Kinderbetreuung und Frühförderung. Warum gerade Schweden?
Ursula Armbruster: Es gibt viele Gründe, und ich würde drei davon als zentral bezeichnen, die Schweden zum fortschrittlichen Land gemacht haben. Erstens war die sogenannte bürgerliche Familienphase, in der die Frau und Mutter zu Hause die übrige Familie bediente, in Schweden sehr kurz, und zwar als Folge der relativ späten Industrialisierung in Skandinavien. Die Hausfrauenrolle konnte also nie richtig Fuss fassen wie im übrigen Europa. Ein zweiter Grund ist die tiefe Geburtenrate in Schweden während der 30er-Jahre, was die Sozialreformerin und spätere Friedensnobelpreisträgerin Alva Myrdal dazu veranlasste, zusammen mit ihrem Mann Gunnar ein Buch zu schreiben, das den Grundstein für den späteren Ausbau der Kinderbetreuung im Land legte. Ganz entscheidend aber war drittens die Frauenbewegung in den 60er-Jahren, die glücklicherweise mit dem Arbeitskräftemangel zusammenfiel: Die Wirtschaft brauchte die Frauen, diese forderten aber eine von der Gesellschaft mitgetragene Kinderbetreuung. Also begann man mit dem Ausbau von Tagesstätten und Tagesfamilienangeboten. Unter der langjährigen sozialdemokratischen Führung wurde das Ziel konsequent verfolgt und ist heute insgesamt unumstritten.
Der Mythos der aufopfernden Hausfrau und Mutter hält sich aber hartnäckig in der Schweiz. Warum?
Dass die Mutter wegen der Kinder zu Hause blieb, war früher sowohl in Bauern- als auch in Arbeiterfamilien undenkbar. Auch die Mutter musste zur Versorgung der Familie beitragen. Die Kinder wurden damals entweder mit aufs Feld genommen oder in der Stadt von älteren Geschwistern oder Nachbarinnen betreut. In den Städten gab es auch damals Betreuungseinrichtungen für Kinder, hauptsächlich für arme und alleinerziehende Mütter. Deren Qualität liess jedoch zu wünschen übrig. Bezüglich Mythos ist hier auch der Einfluss der Kirchen zu erwähnen, die das Hausfrauenideal wohlwollend beurteilten. Im protestantischen Schweden dagegen hat der Säkularisierungsprozess bedeutend früher eingesetzt als in anderen Ländern.
Was unterscheidet denn die Vorschulen, wie die Krippen in Schweden genannt werden, von jenen der Schweizer oder der deutschen Kindertagesstätten?
In Schweden sind die Kommunen verpflichtet, allen Kindern ab dem ersten Lebensjahr bis zum Eintritt in die Grundschule einen Betreuungsplatz in einer Vorschule zu garantieren. Diese bietet nicht nur Betreuung, sondern arbeitet auch nach pädagogischen Grundsätzen und einem Lehrplan. Die Vorschulen sind nicht obligatorisch, dennoch entscheiden sich 84 Prozent der Eltern für dieses Angebot, das für alle erschwinglich ist. Insbesondere das Modell, das ursprünglich aus der italienischen Reggio Emilia stammt, hat sich durchgesetzt. Deren Begründer Loris Malaguzzi stellt den Respekt der Erwachsenen gegenüber dem kompetenten Kind in den Fokus. Er sagte: «Ein Kind hat hundert Sprachen, aber davon raubt man ihm neunundneunzig.»
Bei uns haben sich Bestrebungen für Bildungskrippen, wie wir in der Schweiz die Vorschule nennen würden, noch nicht durchgesetzt. Vielerorts wird befürchtet, dass Kinder bereits im zarten Alter von einem Jahr verschult werden. Ist das ein Fehler aus Ihrer Sicht?
Ich masse mir nicht an, über die Schweiz zu urteilen und Empfehlungen zu machen. Man kann ein Modell, das in einem Land funktioniert, nicht direkt auf ein anderes Land übertragen. Das Wort Vorschule wird in der Schweiz aber möglicherweise missverstanden. Die pädagogischen Methoden in der Vorschule dürfen nicht mit denen in der Schule gleichgestellt werden. Lernen in der Vorschule geschieht durch Spiel und Spass, ausgehend von der Entwicklung und den Initiativen des Kindes. Der schwedischen Regierung war es wichtig, dass Kinderbetreuung und pädagogische Förderung als Einheit aufgefasst werden. Das Kind soll mit allen Sinnen und der jeweiligen Entwicklungsphase angepasst lernen können. Die Kinder in der Schweiz sind ja nicht anders als die Kinder in Schweden: Sie sind lernbedürftig, kontaktfreudig, wissbegierig. Was ich in der Schweiz allerdings als Nachteil sehe, ist die Tatsache, dass es zu wenige Betreuungsplätze gibt und die Eltern keine Garantie auf einen Platz haben. Zudem geht viel Geld für die Kinderbetreuung drauf, und die Eltern müssen sich überlegen, ob sich die Erwerbstätigkeit der Mutter überhaupt lohnt.
Nun wird in der Schweiz befürchtet, dass Kinder den Müttern zu früh entrissen werden und dass ihnen dies schade.
Auch in Schweden ist das Familienleben ausserordentlich wichtig. Und die Frühförderung wird nicht als etwas verstanden, das dieses Selbstverständnis infrage stellt. Die Vorschulen werden als Ergänzung dazu gesehen, was eine Kleinfamilie – wie sie heute verbreitet ist – nicht bieten kann, um die Bedürfnisse des Kindes zu decken. Kurz und direkt gesagt: Nutzen wir das Angebot der Vorschulen nicht, bieten wir den Kindern etwas nicht, auf das sie ein Recht haben.
In Schweden ist die ideologisch geprägte Diskussion, wie wir sie in der Schweiz kennen, längst passé. Warum bestimmen die Schweden so pragmatisch über das Thema Frühförderung?
Die Diskussion dreht sich tatsächlich vor allem um die Qualität der Vorschulen, nicht aber um die Grundsatzfrage, ob Frühförderung gut oder schlecht ist für das Kind. Das ist wohl eine Frage der Zeit. Seit Einführung der qualitativen Kitas ist eine Generation vergangen, und für junge Familien ist es heute einfach selbstverständlich, dass beide Elternteile arbeiten. Und man sagt sich: Wenn die Qualität der Vorschule gut ist, dann ist die Vorschule gut für die Kinder. Selbstverständlich ist auch in Schweden die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht immer einfach. Aber ich würde sagen, die schwedische Gesellschaft bietet alles, was eine Gesellschaft bieten kann, um den Familienalltag zu erleichtern. Und die Mithilfe der Männer in der Familie ist grösser. Väter wollen heute nicht mehr darauf verzichten.
In der Schweiz sind die Väter erst zaghaft bereit, ihr Berufsleben zugunsten der Familienarbeit zurückzustecken. Hat Schweden auch da einen Vorsprung?
Das ist tatsächlich keine idealisierte Vorstellung, das ist Realität. Sicher arbeiten die Frauen mehr Teilzeit als Männer, da geht es aber um 80-Prozent-Pensen und nicht wie in der Schweiz um 40 Prozent. Kommt ein Kind zur Welt, haben Eltern das Recht, ihren Job auf 80 Prozent zu reduzieren. Auch der Anteil der Väter, die während des Elternurlaubs nach der Geburt eines Kindes zeitweise zu Hause bleiben, steigt langsam an. Seit ein paar Jahren gibt es zudem Steuererleichterungen für Haushaltsdienste, beispielsweise für ein Kindermädchen, das die Kinder von der Schule oder Vorschule abholt.
Das klingt sehr grosszügig, kostet den Staat aber sehr viel Geld. Was hohe Steuern zur Folge hat. Das freut nicht alle.
Dieses System steht aber nicht zur Diskussion, die politischen Lager sind sich einig. Mit Ausnahme der kleinen Christdemokratischen Partei, die den Eltern lieber ein Betreuungsgeld als Alternative zur Vorschule für die ersten drei Lebensjahre bezahlen will. Ihr Anliegen hat sich hier in Schweden aber politisch kaum durchgesetzt.
Dennoch: Die Steuern sind hoch, das kann nicht bei allen gut ankommen.
Sicher ist es nicht billig. Die hohen Steuern relativieren sich aber, wenn wir die Leistungen betrachten, die der Einzelne dafür zurückbekommt – von der Kinderbetreuung über die sozialen Einrichtungen bis hin zur Krankenpflege und der Altersversorgung. Die ganze Gesellschaft bezahlt solidarisch die Dienstleistungen, die jeder einmal braucht, je nachdem, in welcher Lebensphase man sich befindet.
Im Frühjahr machte Schweden wegen Jugendunruhen Schlagzeilen. In der Schweiz ist man sehr erschrocken, hatte sich doch der Eindruck etabliert, Schweden mache gesellschaftspolitisch alles richtig.
Ich habe gestaunt über die Berichterstattung der ausländischen Presse. Natürlich hat Schweden auch seine Gesellschaftskonflikte. In Deutschland spricht man vom Bullerbü-Syndrom; darunter wird das weit verbreitete idealisierte und klischeehafte Bild Schwedens mit seinen rot gestrichenen Holzhäuschen verstanden, ein Bild aus Astrid Lindgrens Büchern. In Schweden hat ein Fünftel der Bevölkerung ausländische Wurzeln. Das Land hat sich für eine offene Flüchtlingspolitik entschieden.Warum sollte es hier keine Integrationsprobleme geben?
Ursula Armbruster (68) ist in Stuttgart aufgewachsen, wo sie auch die Ausbildung zur Kindergärtnerin und Hortnerin absolvierte. Seit 1967 lebt sie mit ihrem Mann – ebenfalls Deutscher – in Schweden. Nach ihrem Studium an der Universität Stockholm wirkte sie als Lehrerin, Forschungsassistentin und Projektmitarbeiterin in verschiedenen Organisationen und Behörden mit. Später arbeitete sie im schwedischen Bildungsministerium als Referentin für Fragen der Frühförderung. Sie publizierte in Zeitschriften zu den Themen Frauenemanzipation, Kinder in der Gesellschaft und Frühförderung. Für letzteres setzt sie sich auch nach ihrer Pensionierung im Jahr 2010 weiter ein: Im Auftrag der schwedischen Botschaft in Berlin unterstützt sie den Dialog zwischen Schweden und den deutschen Bundesländern sowie Familienpolitikern aus der Schweiz. Ursula Armbruster ist Mutter zweier erwachsener Söhne.