Interview
Krisenfach Rechnen
Rechnen gilt als schulisches Krisenfach, viele Kinder – und Eltern – fürchten sich davor. Esther Brunner, Professorin für Mathematik-Didaktik, erklärt, woher die Angst kommt und wie man ihr entgegentritt.
«wir eltern»: Frau Brunner, wenn Sie an einer Party erwähnen, MathematikDidaktikerin zu sein – folgt da nicht ebenso betretenes Schweigen, wie wenn ein Mann erklärt, er sei Gynäkologe?
Esther Brunner: (lacht) Tatsächlich ist es kurz still. Dann aber kann man darauf wetten, dass mindestens jemand ruft: «Oh, Mathe, da war ich nie gut!» Viele Erwachsene haben schlechte Leistungserinnerungen an das Schulfach.
Die Angst und das Gefühl von Versagen angesichts von Mathe scheinen von Generation zu Generation weitergegeben zu werden. Da muss der Wurm im System stecken!
Ja, das ist verrückt. Es ist aber nicht die Angst vor der Mathematik als Wissenschaft, die in den Köpfen stecken bleibt. Es geht nicht um Bruchrechnen, Proportionalität oder das Einmaleins. Es geht um den Bammel vor bestimmten Situationen: Ich werde aufgerufen und weiss die Antwort nicht. Oder ich habe Angst vor Versagen oder davor, den Zusammenhang nicht zu verstehen.
Viele empfinden Mathe nicht als «Lernfach» wie Französisch, wo man Wörtchen büffeln muss. Mathe «kann man oder kann man nicht» ... Gibt es ein Mathe-Gen?
Zwei bis fünf Prozent eines Jahrgangs haben gravierende Probleme mit dem Verarbeiten von Zahlen. Sie haben keinen Plan, was eine Zahl bedeutet. Man spricht von Dyskalkulie. Bei allen anderen aber gilt: Mathe ist lernbar! Aber klar, es gehört auch Intelligenz dazu und ein anregendes Umfeld, in dem Mathematik gebraucht und wertgeschätzt wird.
In anderen Fächern scheint der Respekt davor aber weniger ausgeprägt als beim Rechnen, warum?
Mathematik ist kumulativ aufgebaut. Wenn Sie die Addition nicht verstanden haben, wer verstehen Sie auch die Subtraktion, Multiplikation und Division nicht. Bei diesem kumulativen Aufbau rächen sich frühe Lücken.
Wer in der zweiten Klasse schlecht im Rechnen ist, wird es für immer bleiben?
Nein, aber es ist eben wichtig, keine grossen Lücken entstehen zu lassen. Man muss permanent dranbleiben. Bei Primarschulkindern können beispielsweise schon bestimmte Begrifflichkeiten problematisch sein: Wenn ein Kind einen Lehrerwechsel hat, die erste Lehrerin von Plus-Rechnen und der darauffolgende Lehrer von Und-Rechnen spricht, kann das für ein Kind verwirrend sein. Aber grundsätzlich ist bei kleinen Kindern die Faszination von Zahlen noch sehr hoch und die Forschung besagt, dass Mathe bis zur dritten Klasse sogar zu den Lieblingsfächern gehört.
Trotzdem: Vielen Kindern bleiben der Sinn und Zweck der Mathematik oft zeitlebens fremd. Muss die Didaktik von Grund auf neu gedacht werden?
Auf wissenschaftlicher Ebene passierte der Quantensprung bereits in den frühen 80er-Jahren. Damals begann man, den Fokus stark auf das Verstehen der Mathematik zu legen, nicht mehr nur aufs monotone Auswendiglernen. Seither ist es in der Didaktik-Forschung Standard, dass Mathe verstanden werden muss.
Was meinen Sie genau mit «Mathe verstehen»?
Da ich ein Schokoladen-Junkie bin, erkläre ich es anhand einer Tafel Schokolade und folgender Multiplikation: 6 mal 4 ergibt zwar gleich viel wie 4 mal 6 – trotzdem sind die beiden Rechnungen verschieden und «fühlen» sich auch verschieden an. Eine Schoggi-Tafel kann man leicht in 4er-Reihen brechen. Dieselbe Tafel in 6er-Reihen zu brechen, ist komplizierter und es gibt ein Gebrösel.
Die Mathe sollte also anschaulicher und alltagstauglicher unterrichtet werden?
Eine Lehrperson kann beispielsweise mit der Klasse vor der Schulreise berechnen, welche Route die bessere ist oder wann Pausen gemacht werden. So werden Zahlen spielerisch zueinander in Bezug gebracht. Das Einmaleins auswendig zu lernen, macht durchaus Sinn, aber nicht von Beginn weg und nicht ohne anschaulichen Kontext.
Kaum wechselte bei meinem Sohn in der Kanti der Mathelehrer, sprang seine Zeugnisnote von einer 4,5 auf eine 6. Wie wichtig ist die Lehrerperson, um Spass an Mathematik entwickeln zu können?
Die emotionale Beziehung der Lehrperson zum Kind spielt eine sehr wichtige Rolle! Im Idealfall spürt das Kind die Freude des Lehrers oder der Lehrerin am Stoff. Relevant ist aber auch deren Fähigkeit, erklären zu können. Eine Lehrperson muss ein Repertoire haben, um einen Sachverhalt noch einmal anders und besser schildern zu können, wenn ein Kind den Inhalt nicht versteht.
Was aber, wenn Primarlehrpersonen selber ein «Mathematik-Trauma» mitbringen?
In der Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen wird heute explizit an der eigenen Mathematik-Biografie gearbeitet. Es gibt viele Studierende, die sehr reflektiert sind und erzählen, dass sie Mathe zwar gehasst haben, diese Abneigung aber auf keinen Fall den Schülern und Schülerinnen weitergeben wollen. Sie fühlen sich verantwortlich dafür, aus dem Teufelskreis auszubrechen. Natürlich müssen sie fachlich sattelfest sein und etwa auch spezifische Fehlkonzepte der Kinder beim Lernen erkennen und beheben helfen.
Esther Brunner (61) ist Professorin für Mathematik-Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Thurgau und leitet den Fachbereich Mathematik. Sie unterrichtete viele Jahre als Primarschullehrerin, bevor sie Mathe-Didaktik, Erziehungswissenschaften, Sonderpädagogik und Soziologie studierte. In ihrer Habilitationsschrift setzt sich Esther Brunner mit der Unterrichtsqualität aus mathematisch-didaktischer Sicht auseinander. 2021 wurde sie dafür mit dem Forschungspreis Walter Enggist ausgezeichnet. Esther Brunner lebt mit ihrem Mann in Bottighofen und hat neun wunderbare Neffen und Nichten, an deren Entwicklung sie mit Freude teilnimmt.
Fehlkonzepte?
Ein typisches Fehlkonzept ist, dass Kinder bei der Frage, ob ein Drittel oder ein Viertel grösser ist, oft den Drittel als kleiner einschätzen. Sie müssen also begreifen, dass es beim Bruchrechnen um Anteile, um ein Verhältnis geht. Eine Lehrerin muss dies anhand zum Beispiel einer teilweise gefüllten Wasserflasche oder eines Kuchens veranschaulichen können. Das braucht fachliches und fachdidaktisches Verständnis.
Wie funktioniert eigentlich – kurz erklärt – das mathematische Lernen bei Kindern?
Oh, das ist eine anspruchsvolle Frage! Mathematische Entwicklung ist immer inhaltsbezogen. Die Entwicklung vom Zahlbegriff verläuft anders als jene vom räumlichen Denken oder vom Denken über Zufall und Wahrscheinlichkeit. Beim mathematischen Lernen ist es zentral, dass man Konzepte versteht. Das abstrakte Konzept ist zum Beispiel: Was ist eine Zahl. Und wie steht eine Zahl in Verbindung zu einer anderen Zahl. Die Kinder werden zunehmend kompetenter, sie lernen, mit Zahlen zu spielen.
Hausaufgaben sind – auch aus verständlichen Gründen – auf dem besten Weg, abgeschafft zu werden. Wie können Eltern ihre Kinder trotzdem beim Mathelernen unterstützen?
Das stimmt nicht ganz – Eltern haben sehr wohl Möglichkeiten, dem Kind zu helfen. Indem sie beispielsweise nachfragen, was es gelernt hat in der Schule. Oder es auffordern, zu erzählen, worum es geht bei den neusten Rechenaufgaben und was dem Kind dabei gefällt. Statt stets nur die Anzahl Fehler und das «Richtig» und «Falsch» zu betonen, soll auf schöne Aspekte fokussiert werden. Eltern, die selber mit Mathe nichts anfangen konnten, sollten ihren Kindern die Chance geben, Mathe als etwas Tolles zu erleben. Das Verkehrteste ist, wenn Eltern nach einem Misserfolg die Kinder mit der Aussage trösten wollen: «Weisst du, in Mathe war ich auch nicht gut.»
Haben Sie noch mehr konkrete Tipps, wie Eltern ihren Kindern Freude an Zahlen vermitteln können?
Sie können sie ganz niederschwellig an die Bedeutung von Zahlen und Mengen heranführen: Indem sie etwa zusammen etwas kochen oder backen. So erfahren Kinder – selbst ohne die Gewichte präzise abzuwägen – dass 200 Gramm weniger ist als 500 Gramm. Und auf Weihnachten hin kann man mit Kindern Spielzeugkataloge angucken und schauen, welche Dinge preislich als Geschenk drinliegen und welche nicht.
Zurück zur Schule: Was sollen Eltern tun, wenn sie erkennen, dass ihrem Kind Zahlen und Rechnen wirklich Bauchschmerzen bereiten?
Dann sollten sie möglichst schnell mit der Lehrperson Kontakt aufnehmen und mit ihr zusammen alles daransetzen, dass die Angst sich nicht verfestigt, sondern situationsbezogen bleibt. Sie müssen herausschälen, was das Kind genau quält: Ist es die Prüfungssituation? Oder sind es mündliche Aufgaben? Eltern dürfen übrigens bei der Lehrerin oder dem Lehrer auch nach Tipps und Lernmaterial fragen, um mit dem Kind zu üben.
Mädchen und Frauen sagt man nach, für Mathe weniger begabt zu sein als Jungen. Welche Bemühungen macht die Fachwelt, dieses Vorurteil auszuräumen respektive den Gendergap zu schliessen?
Dieses Vorurteil bekomme ich an besagten Partys ebenfalls zu spüren. Die Leute fragen oft überrascht: «Du als Frau bist Professorin für Mathematik-Didaktik?» Es gibt aber genug Studien, die besagen, dass Mädchen nicht weniger begabt sind in Mathe als Jungen. Aber wir beobachten, dass ab etwa der 6. Primarklasse Mädchen wesentlich mehr Mühe damit haben, aufgerufen zu werden. Die Jungen nehmen es gelassen, wenn sie mal etwas nicht wissen. Im asiatischen und skandinavischen Raum ist der Gendergap übrigens nicht vorhanden. Dort sind die Mädchen gleich gut oder sogar besser in Mathematik als die Jungen. Es ist kein biologisches Ding, sondern in unserer Sozialisation begründet …
... die ja bereits vor der Einschulung beginnt.
In der Schweiz sehen wir schon bei den Vierjährigen Geschlechterunterschiede – also bei Kindern kurz vor dem Kindergarteneintritt. Jungen interessieren sich mehr für technische Spiele als Mädchen. Da ist es die Aufgabe der Kindergarten-Lehrperson, die Mädchen zu ermuntern, auch einmal mit Duplos Flugzeuge zu konstruieren, statt in der Puppenecke zu spielen. Später, in der Oberstufe, spielt beim Lernen von Mathematik oder Physik auch der Kontext eine wichtige Rolle.
Was meinen Sie mit Kontext?
Wenn beispielsweise in der Physik die Benzinpumpe beim Motor angeschaut wird, klinken sich viele Mädchen aus. Erklärt man aber dasselbe Pumpprinzip am Herzen, bleiben sie dran. Mädchen sind zudem sehr empfänglich für Biografien von Mathematikerinnen oder Informatikerinnen.
Und was begeistert Sie eigentlich an Zahlen?
Als Kind fand ich die Frage, welches die grösste Zahl überhaupt ist, faszinierend. Die Erkenntnis, dass ich das Leben zählend auf einem Stuhl verbringen und uralt werden kann, und noch immer nicht am Ende mit Zählen bin, elektrisierte mich und ich sinnierte lange darüber nach. Heute begeistert mich, dass Mathe über alle Sprachen hinweg die Welt umspannt. Auch ich bin weltweit im Gespräch mit Mathematikern und Mathematikerinnen aus vielen Ländern. Eine wunderbare Sache!