Party
Kindergeburtstag: Muss der Grössenwahn sein?
Früher waren Kindergeburtstage fröhliche Nachmittage mit Schoggikuchen und Freunden, heute sollen sie unvergessliche Events sein. Dafür greifen manche Eltern tief in die Tasche. Zu Recht?
«Happy Birthday» singt die Animatorin, begleitet von einer Soundanlage. Lautstark fallen ein kleiner Batman, ein noch kleinerer Hulk sowie Catwoman en miniature ein. In ihrer Mitte thront Superman – alias das Geburtstagskind. Und dieses holt jetzt tief Luft, um sieben Kerzen – natürlich supersize – auszublasen. «Achtung, Action», ruft die Animatorin, dann: «Wow, alle sieben! Aber du bist ja auch ein Superheld.» Es ist ein YouTube-Clip, wie es sie in wachsender Zahl gibt. Denn immer mehr Eltern spielen am Kindergeburtstag nicht die Rolle der Gastgeber, sondern jene eines Kamerateams – und posten das Produkt in epischer Länge. Auch in diesem Clip folgt nun das Anschneiden der Überraschungstorte, aus deren Innern sich Spielfiguren und Smarties ergiessen. Und bereits stehen die nächsten Highlights auf dem Programm: Der Wolkenkratzer-Sprung und das Ziegelsteine-Zerschmettern mit speziellen Gadgets.
Früher war ein Kindergeburtstag ein fröhlicher Nachmittag zu Hause. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Es gab selbst gebackenen Kuchen, das Schoggispiel und kleine Geschenke für das Geburtstagskind. Heute gibt es pfundschwere Goodiebags für alle, Deko im Design einer bestimmten Themenwelt, Kinderschminken, eine Animatorin oder gar den Auftritt von Fussballprofis. Auch wer heute einfach nur Geburtstagskind ist, sieht alt aus. Denn wie viel exklusiver ist es doch, als Superheld, Piratenprinzessin oder Model zu feiern! Und ein Fest ohne Motto oder ohne Location – vom Ponyhof bis zur Indoor-Kletterhalle – spielt sowieso von vornherein in der Liga B.
Ein regelrechtes partytechnisches Wettrüsten ist im Gang. Was steckt dahinter? «Alle Eltern wollen das Beste für ihr Kind», sagt der Psychologe Jürg Frick. «Dabei denken viele: Man ist als Eltern gut, wenn man quantitativ viel macht.» Doch was grundsätzlich gut gemeint ist, führt dann auch zu grotesken Auswüchsen.
Etwa in jenem Fall, wo Eltern den 10. Geburtstag ihres Kindes drei Jahre im Voraus bei einer Partyagentur in Auftrag gaben. Nur dass sich die Interessen des Nachwuchses bis dahin völlig wandeln würden, hatten sie nicht bedacht. Entsprechend langweilig fand der frisch gebackene Zehnjährige die Party– trotz Riesenaufwand. Bekannt geworden ist auch der Fall eines Jungen in Grossbritannien, der unabgemeldet nicht zu einem Geburtstagsfest erschien, worauf die Eltern des Geburtstagskindes eine anteilsmässige Rückerstattung ihrer Auslagen forderten.
Denn was ein rechter Kindergeburtstag sein will, schlägt heute schon mal mit 500 Franken zu Buche – oder mehr, beauftragt man professionelle Planer: Bei Schweizer Partyagenturen kostet das Gesamtpackage für zehn Kinder inklusive Einladung, Deko, Basteln und Spielen (samt Material), mit Snacks, Getränken und Kuchen sowie einer Animatorin und Verabschiedungsgeschenken gut und gerne 1000 Franken.
Trotzdem schiessen professionelle Partyplaner wie Pilze aus dem Boden. Der Trend heisst: outsourcen statt selber machen. Und was sich im Bereich Hochzeiten längst etabliert hat, gilt je länger je mehr auch für Kindergeburtstage. Denn die Planer versprechen nicht nur, dass alles rund um den Geburtstag – nun ja – rund läuft, sondern auch, dass dieser bei entsprechender Erhöhung der Kosten «unvergesslich» sein werde. «Exklusiv» und «prime» sind ebenfalls Schlagwörter, mit denen für den schönsten Tag des Kinderjahres geworben wird. So wird die Party zum Statussymbol à la «unser Haus», «unser Auto», «unser Kindergeburtstag».
Die Kinder erleben den geburtstagstechnischen Grössenwahn im Freundeskreis – und wollen fortan ebenso aufwendig feiern. Bei den Eltern schafft dieses Vergleichen Verunsicherung, schliesslich soll das Kind am Geburtstag tatsächlich im Mittelpunkt stehen dürfen. Die Folge? Immer flächendeckender kommt in Schweizer Familien einmal jährlich die Tragikomödie «My Big Fat Swiss Birthday» zur Aufführung – bei mehr als einem Kind entsprechend auch öfter.
Und sogar Eltern, die dem Trend zum Supersize-Geburtstag nicht folgen wollen, sondern im Wald oder im Park feiern, fühlen sich je länger je mehr verpflichtet, aufwendige Goodiebags zusammenzustellen – von der Deko gar nicht zu sprechen. Die Zürcher Kindergärtnerin Angelika Hiller hat im Kontakt mit Kindern und Eltern während Jahren den Trend zu XXL-Partys beobachtet: «Viele Eltern orientieren sich nach oben, weil sie unsicher sind, was den Geburtstag ihres Kindes angeht.» Tatsächlich: Was für Kinder der langersehnte Tag X ist, bedeutet für viele Eltern schon Monate vorher ein Albtraumdatum. «Der Druck auf Mütter und Väter ist viel grösser geworden», befindet auch der Psychologe Jürg Frick. Die Folge?
Manche Eltern zahlen lieber einen hohen Betrag im Wissen, sich auf das Ergebnis verlassen zu können. Das nimmt ihnen die Angst, dass etwas nicht klappen könnte», erläutert Kindergärtnerin Angelika Hiller. Dass eine Angst vor dem partytechnischen Versagen geradezu desaströs enden kann, wussten schon die Gebrüder Grimm in «Dornröschen» zu berichten: Dort fehlt für das rauschende Tauffest ein dreizehnter Teller aus Gold. Kurzerhand lädt man nur zwölf Feen ein. Das Fest endet damit, dass die erboste dreizehnte Fee die kleine Prinzessin verflucht. Dumm gelaufen. Zumal die Eltern sich all das hätten ersparen können – ähnlich wie viele Eltern heute. Indem sie den Zwang zur Perfektion auch mal links liegen lassen. Oder: «Indem sie schon vorher klar überlegen, was sie wollen», rät Jürg Frick. «Sonst sind sie nur am Reagieren – auf eine Industrie, die teilweise von ebendiesen Zweifeln lebt.»
Sage und schreibe 100 Kindergeburtstage sind es laut der französischen Soziologin Régine Sirota, welche Kinder bis zu ihrem 13. Altersjahr mit Gleichaltrigen feiern. Da stellt sich die Frage: Serienmässig unvergesslich, ist das überhaupt möglich? «Irgendwann wird der grosse Aufwand nicht mehr als speziell empfunden», zieht Jürg Frick die ernüchternde Bilanz.
Der Psychologe weiss, dass der immense Aufwand nicht nur unnötig, sondern mitunter auch schädlich ist. Denn: «Das Riesenfest, das gesamte Theater darum herum birgt die Gefahr, dass das Kind ein völlig falsches Selbstbild aufbaut. Als Erwachsener wird es später auch nicht mit einem rauschenden Fest gefeiert, wenn es Geburtstag hat oder die Firma wechselt.»
Er rät Eltern, sich zu fragen: «Was braucht das Kind? Was ist nötig? Was ist nicht nötig?» Zwar hätten Kinder tatsächlich viele Wünsche, räumt der Psychologe ein. «Aber Wünsche sind nicht Bedürfnisse.» Und was die kindlichen Bedürfnisse angeht, seien nun mal Beziehungen am wichtigsten. Er vergleicht das mit der Schule, «wo alle denselben Stoff lernen, aber sehr viel von der Lehrperson abhängt». Und in diesem einen Punkt sind Eltern tausendmal professioneller als jeder Party-Profi. Denn sie wissen, wie niemand sonst, um die Vorlieben, Stärken, aber auch um die Bedürfnisse ihres Kindes.
Doch muss Beziehungsarbeit ausgerechnet am Kindergeburtstag stattfinden? Was pädagogisch wert- aber nicht lustvoll klingt, geht bestens und macht erst noch Spass, meint Kindergärtnerin Hiller. «Es fängt damit an, dass man jedes Kind richtig begrüsst, zum Beispiel mit einem Tattoo. So spürt es: Ich bin willkommen und gehöre dazu.» Auch fürs Geschenke-Auspacken schlägt die Kindergärtnerin vor, «dass das schenkende Kind sein Päckchen gemeinsam mit einem guten Wunsch für das Geburtstagskind überreicht. Auf diese Weise merken die Kinder: Es geht nicht nur um Konsum. Es geht um uns.» Sogar der Evergreen «Happy Birthday» lasse sich persönlicher gestalten: «Wenn man es in den Muttersprachen aller anwesenden Kinder singt; in der multinationalen Schweiz funktioniert das bestens.» Das Schöne daran: All diese Extras brauchen weder Animatorin noch Soundanlage oder Kerzen in Supersize. Sogar das Superheldenkostüm kann locker im Schrank hängen bleiben. Denn bei so viel persönlicher Wertschätzung fühlen sich die kleinen Gäste auch ganz ohne Kostüm super.
Anna Kardos wollte als Kind Seiltänzerin oder wenigstens Primaballerina werden. Ein Geigendiplom und ein Literaturstudium später lässt sie heute stattdessen ihre Finger über die Tastatur tanzen auf den Kulturredaktionen bei CH Media oder seit Sommer 2020 bei der «NZZ am Sonntag», als Moderatorin und Publizistin. Wo es um das Thema Kultur, Kinder sowie die Kombination von beidem geht, schlägt ihr Herz höher.