Monatsgespräch
«Kein Streit zwischen Tür und Angel»
Wenn Eltern häufig aneinandergeraten, ist das belastend für die kindliche Psyche. Doch wie viel ist zu viel? Paar- und Familientherapeut Christian Pröls-Geiger weiss, wie konstruktives Streiten geht.
«wir eltern»: Herr Pröls-Geiger, wie viel Streit unter Eltern ist normal?
Streit gilt bei uns tendenziell als Tabu, deshalb bekommt man davon oft wenig mit. Im Gegenteil: Bei all der Harmonie, die wir zum Beispiel in den sozialen Medien sehen, den Hochglanzbildern von Familie, bekommt man leicht das Gefühl, die einzige Familie mit Streit und Konflikten zu sein. Dabei gibt es Streit in jeder Beziehung. Die Frage lautet jedoch: Wo fängt Streit an? Bis zu welchem Punkt handelt es sich nur um eine Meinungsverschiedenheit? Das ist schwer zu beantworten, weil hier die individuellen Empfindungen sehr unterschiedlich sind. Gerade kleine Kinder nehmen bereits emotionale Diskussionen unter Eltern oft als Streit wahr – also, wenn Eltern noch gar nicht streiten, sondern sich nur angeregt austauschen.
Welches sind die häufigsten Streitgründe unter Eltern?
Unterschiedliche Bedürfnisse – wer macht wann was? –, aber auch unterschiedliche Werte, gerade wenn es um Erziehung geht: Was will ich vermitteln? Wie wurde ich selbst erzogen? Vor allem bei Eltern von kleinen Kindern liegt es oft an zu wenig Ressourcen, wenn es häufiger kracht. Permanenter Schlafmangel und keine Zeit für sich zu haben, macht dünnhäutig.
Soll man als Eltern denn generell vermeiden, Konflikte vor den Kindern auszutragen?
Nein, Konflikte, Meinungsverschiedenheiten und verschiedene Bedürfnisse, die es auszuhandeln gilt, gehören zum Leben – ob in der Familie, unter Freunden oder im Job. Aber es kommt darauf an, wie man darüber streitet. Sind Eltern hier ein gutes Vorbild, können Kinder lernen, wie sie für sich einstehen und Kompromisse schliessen. Dass es für eine Beziehung vielleicht gut ist, wenn eine Partei einmal zurücksteckt und das nächste Mal dann die andere Partei. Auch das anschliessende Versöhnen, sich wieder in den Arm nehmen, ist ganz wichtig. Dann wirken Konflikte auch nicht bedrohlich, sondern wie eine Chance, ein reinigendes Gewitter.
Was brauchen Kinder, wenn Eltern streiten?
Konflikte zwischen Eltern können bei Kindern schnell Angst auslösen – auch wenn wir das als Erwachsene nicht immer gleich vermuten oder nachvollziehen können. Wichtig ist deshalb, dass das Sicherheitsbedürfnis von Kindern nicht durch den Streit zwischen Eltern erschüttert wird. Wir sollten also vermeiden, uns so in einen Konflikt zu vertiefen, dass wir den Nachwuchs nicht mehr wahrnehmen. Stattdessen gilt es aufzuhören, sobald klar ist: Dem Kind wird es zu viel. Für Kinder wiederum ist wichtig zu sehen : Mama und Papa haben sich wieder vertragen – oder zumindest einen guten Zwischenstand erreicht.
Sollten Eltern den Streit erklären?
Ja, das kann hilfreich sein, damit Kinder die Situation besser einschätzen können. Also : Warum haben wir uns gestritten? Weshalb ist das nicht nur schlecht? Die Botschaft könnte am Ende lauten : Wir vertragen uns jetzt wieder und überlegen in Ruhe weiter, wie wir den Konflikt lösen. Oder auch : Wir Wissen gerade auch nicht, wie wir mit dem Streit weitermachen. Jetzt schlafen wir mal eine Nacht darüber, vielleicht kriegen wir dann eine gute Idee. Wenn ihr wollt, können wir euch auf dem Laufenden halten.
Nun beziehen aber vor allem jüngere Kinder vieles auf sich.
Richtig, dies betrifft vor allem Kinder im frühen Primarschulalter, die sich noch in der sogenannten egozentrischen Phase befinden. Fallen während eines Streits zwischen den Eltern die Namen der Kinder oder geht es um Erziehungsthemen, ist es deshalb wichtig, dass Eltern gegenüber dem Nachwuchs klar sagen: «Du bist nicht schuld. Wir streiten nicht wegen dir. Mama und Papa sind sich gerade nicht einig, suchen aber einen Weg.» Allerdings können uns Konflikte weniger feinfühlig machen für das Sicherheitsbedürfnis unserer Kinder.
Was sollten Eltern konkret tun, damit ihre Auseinandersetzungen Kinder nicht zu sehr belasten?
Sich im Vorfeld darauf einigen, dass Erziehungsthemen – wie etwa «Wann bringen wir das Kind ins Bett?», «Wie halten wir es mit dem Medienkonsum?» – nicht vor dem Nachwuchs diskutiert werden. Vielleicht ein Time-outZeichen ausmachen, das im Streitfall gezeigt werden kann, um zu signalisieren: «Das besprechen wir später, wenn wir alleine sind.» Ist man sich zudem bewusst, bei welchen Themen es immer kracht, sollte man diese von zu Hause auslagern. Und diese zum Beispiel lieber auf einem Spaziergang besprechen. Dieses Setting ist auch weniger konfrontativ, weil man sich nicht Auge in Auge begegnet, sondern nebeneinander herläuft. Sich in einem Café treffen ist ebenfalls eine gute Idee – aufgrund der sozialen Kontrolle wird man hier meist auch nicht so laut. Oder zum Telefonieren verabreden.
Und wenn der Streit passiert ist und man sich mitten in einer hitzigen Auseinandersetzung vor den Kindern befindet?
Kleine Kinder weinen schnell, wenn es laut wird. Dann ist es wichtig, ihnen zu helfen, mit ihren Gefühlen umzugehen. Etwa, indem man Beispiele aus ihrer Lebenswelt hinzuzieht, um ihnen die Situation zu erklären («Mama und mir geht es jetzt so, wie dir und deiner Freundin Maja neulich, als ihr gestritten habt. Aber danach verstehen wir uns wieder»). Ich hatte auch mal eine Familie in der Beratung, in der ein älteres Kind immer ein Zeichen gemacht hat, wenn ihm der Streit zwischen den Eltern zu viel wurde. Das Gefühl zu haben, mitbestimmen zu können, kann Kindern helfen. Niemand mag Situationen, denen er ausgeliefert ist. Generell ist es bei hitzigen Konflikten immer gut, rechtzeitig auszusteigen und die strittigen Punkte zu einem späteren Zeitpunkt zu klären. Auch wenn das gar nicht so leicht ist. Doch heikle Themen lassen sich besser besprechen, wenn die Emotionen nicht überkochen.
Welche negativen Folgen hat es für Kinder, wenn Eltern ständig streiten?
Herrscht zu Hause Dauergewitterstimmung, haben Kinder permanent Stress, weil sie jederzeit damit rechnen, dass es wieder losgeht. Sie überlegen dann ständig: «Wie kann ich eingreifen, damit es nicht eskaliert?» Oder: «Wie und wo kann ich mich verstecken?» Was zur Folge hat, dass sie mit ihrer Aufmerksamkeit nicht beim Spielen sind oder bei den Hausaufgaben. Manche sind dann auch in der Schule ganz hippelig vor Stress und wirken, als hätten sie ADHS. Andere ziehen sich in Traumwelten zurück oder haben das Gefühl, sie müssen sich auf die Seite eines Elternteils schlagen. Jugendliche wiederum schauen oft, dass sie möglichst wenig zu Hause sind. Kurz: Wird eine ständige Gewitterlage zwischen Eltern zum Dauerzustand, ist das für die Entwicklung des Nachwuchses sehr ungünstig. Und ähnlich belastend wie im Berufsleben, wenn man nie weiss, wann der cholerische Chef wieder lospoltert.
Welche Fehler sollten Eltern beim Streiten in Anwesenheit der Kinder unbedingt vermeiden?
Zwischen Tür und Angel streiten ist nie eine gute Idee. Kinder sollten auch nicht in irgendeiner Form in den Konflikt miteinbezogen werden oder gar die Schuld zugeschoben bekommen («Wenn du nicht so hibbelig wärst / nicht so viel am Handy hängen würdest, müssten wir uns nicht streiten»). Ausserdem sollten Eltern nichts versprechen, was sie nicht halten können, sonst nimmt der Nachwuchs sie nicht mehr ernst. Und sie sollten sich auch nicht absichtlich verletzen mit Sticheleien und Beleidigungen, weil Kinder sonst lernen, «so zu streiten, ist legitim».
Und wenn Eltern ihre Dauerstreitigkeiten nicht gelöst bekommen?
In solchen Fällen ist eine Beratung hilfreich. Überhaupt gilt: Je früher man eine Beratung in Anspruch nimmt, je weniger ein Konflikt eskaliert ist, umso leichter kommt man als Paar da wieder raus. Gleichzeitig ist es auch wichtig, seine Gefühle nicht runterzuschlucken. Denn ein kalter, nicht ausgetragener Konflikt ist ebenfalls keine Lösung. Kinder haben sehr feine Antennen und merken ohnehin, wenn etwas nicht stimmt.
Gerade ältere Kinder schlagen sich bei streitenden Eltern gerne mal auf eine Seite, sagen zum Beispiel «Mama hat echt recht, das war anders ausgemacht» – wie sollte man als Eltern in solchen Fällen reagieren? Sich freuen, dass man Unterstützung bekommt?
Kinder haben generell ein grosses Gerechtigkeitsempfinden und bringen sich gerne ein, vor allem im Teenageralter. Es ist ja auch schwer, sich rauszuhalten, wenn man die Kompetenzen hat, mitzumischen. Als Eltern würde ich in solchen Fällen sagen: «Schön, dass ihr eure Meinung sagt, aber das müssen Mama und ich jetzt klären; vielleicht sprechen wir besser woanders weiter.» Schliesslich lautet eine wichtige Faustregel, den Konflikt immer zwischen den beteiligten Personen zu lassen.
Wie kann eine Veränderung im Streitverhalten von Eltern gelingen?
Dazu muss jeder an seinem eigenen Verhalten arbeiten – also genau das machen, was niemand gerne tut. Schliesslich wäre es so viel einfacher, zu fordern, dass der andere sich ändern soll. Aber so funktioniert es leider nicht. Man kann als Paar auch vereinbaren: Ich arbeite an jener Sache, die mir schwerfällt, du an der anderen. Wenn ich beispielsweise weiss, dass ein bestimmtes Verhalten von mir den anderen noch mehr auf die Palme bringt, versuche ich dies zu unterlassen. Der andere versucht dafür seine Impulsivität rauszunehmen, indem er zunächst überlegt, um was es bei dem Thema überhaupt geht, und dann erst ins Gespräch geht. Die bittere Wahrheit lautet also: Um Streitmuster zu ändern, ist viel Selbstdisziplin gefragt.
Christian Pröls-Geiger ist systemischer Einzel-, Paar- und Familientherapeut sowie stellvertretender Leiter des Münchner Kinderschutzzentrums. Seine Schwerpunkte sind Beratung und Therapie für Familien, die von Gewalt in der Erziehung, häuslicher Gewalt, Vernachlässigung oder sexualisierter Gewalt betroffen sind. In seinem Ratgeber «Hört auf zu streiten» analysiert er die Muster und Typen von Konflikten und zeigt, wie Eltern ihre Konfliktfertigkeit in Streitsituationen verbessern können.