Bindungsorientiert
Nora Imlau: «Eltern brauchen Pausen»
Wie schafft man das: die Kinder bindungsorientiert begleiten und dabei selbst nicht ausbrennen? Die Autorin Nora Imlau gibt Tipps, wie Eltern im Familienalltag zu mehr Kraft und Leichtigkeit kommen,
Nora Imlau: Ein Kapitel deines neuen Buches beginnt mit dem Satz: «Bevor ich Mutter wurde, hatte ich keine Vorstellung davon, wie abgrundtief Erschöpfung sein kann.»
Richtig erschöpft bin ich in Momenten, in denen unser sorgfältig gebastelter Betreuungsplan nicht hinhaut. In denen es einem meiner Kinder schlecht geht. In denen ich krank bin. Oder viele Stunden mit den Kindern allein zu Hause. Was ich mir nicht vorstellen konnte, bevor ich Mutter wurde: Wie sehr man sich ein Kind wünschen kann und wie sehr einen doch die Fremdbestimmung und die Einsamkeit, die mit dem Muttersein teilweise einhergeht, belasten kann.
Ich persönlich finde das etwas vom Erschöpfendsten mit Kindern: Krank sein. Wie gehts dir damit?
Mein Mann und ich haben die Regel eingeführt: Wenn von uns Eltern jemand krank ist, muss der andere Elternteil einspringen. Eine kranke Person darf nicht weiter funktionieren müssen. Wir haben eine rote Karte, die wir jederzeit ziehen können und die jede wichtige berufliche Verpflichtung sticht. Auch wenn es natürlich berufliche Termine gibt, die einem sehr wichtig sind. Umso besser, wenn dann noch andere Bezugspersonen der Kinder helfen.
Und wenn die ganze Familie krank ist?
Oh, ist das furchtbar. Wir versuchen dann, ohne Aufwand durch den Tag zu kommen. Wir räumen nicht auf, ernähren uns von Tiefkühlkost, sprengen jegliche Medienempfehlungen. Bei uns ist dann alles erlaubt. Als wir alle Corona hatten, lief von morgens bis abends Kinderkanal. Aber das hängt auch mit dem Alter der Kinder zusammen. Mit einem Baby kann man das nicht machen – und das ist hart.
Du empfiehlst den Eltern, mehrmals täglich in sich zu spüren – und sich den Füllstand der eigenen Kraftreserven in den Farbabstufungen einer Ampel vorzustellen. Welche Farbe hat deine Energieampel momentan?
Orange. Weil ich gesundheitlich angeschlagen bin und dadurch alles zehnmal so anstrengend ist wie sonst. Und weil die letzten Wochen rund um den Buchstart sehr intensiv waren.
Wie tankst du wieder Kraft?
Ich gehe früh schlafen und baue Ruhezeiten im Alltag ein. Ich mache eine Social-Media-Pause und verbringe viel Zeit mit meinen Kindern. Und ich spanne Hilfe ein: Mein Mann und ich haben das Privileg, pensionierte, hilfsbereite Eltern zu haben – und ein Gästezimmer.
Du schreibst aber auch, dass dir manchmal alles wahnsinnig leicht als Mutter falle. Was ist in solchen Momenten anders?
Dann ist unser Familienleben im Flow. In diesen Phasen bin ich mit mir und unserem Leben im Reinen und sehr glücklich mit den Kindern. Faktoren dafür sind: Alle sind gesund. Den Kindern geht es gut. Kita und Schule funktionieren, wie sie sollen. Mein Mann und ich sind beide oft zu Hause. Und unsere Kinder sind entwicklungsmässig an einem guten Ort – grenzen sich gerade weniger ab und haben ein neues Level von Kooperation freigeschaltet.
Ihr habt vier Kinder, die 4, 7, 14 und 17 Jahre alt sind. Wie schafft ihr es, die verschiedenen Bedürfnisse abzudecken und die eigenen dabei nicht aus den Augen zu verlieren?
Das ist die grosse Herausforderung! Vieles ist eine Frage der Prioritätensetzung: Was ist uns wirklich wichtig? Was lassen wir bleiben? Ein weiterer Schlüssel ist der relativ grosse Altersabstand: Wir haben mit unseren zwei grösseren Kindern Jugendliche im Haus, die gerne mal als Babysitter für unsere zwei Kleinen einspringen. Aber klar, mein Mann und ich machen seit der Geburt unseres ersten Kindes mehr oder weniger durchgängig Einschlafbegleitung – Bald sind es 20 Jahre! Nicht zu unterschätzen ist übrigens auch ein gleichberechtigtes Rollenverständnis in der Partnerschaft.
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Ich werde ständig gefragt, wie ich das schaffe, Autorin mit vier Kindern zu sein. Eine valide Frage. Aber mein Mann, der ja ebenfalls vier Kinder hat und beruflich viel reist, wird nie gefragt, wie er das schafft. Mir ist sehr wichtig, dass ich alles darf, was er darf – und umgekehrt. Wenn mein Mann mit grosser Selbstverständlichkeit eine Woche auf Dienstreise ist, habe ich das gleiche Recht, eine Woche danach auf Lesereise zu gehen. Natürlich sprechen wir uns ab. Aber es gibt bei uns nicht diesen Automatismus, dass eigentlich immer ich zuständig bin. Wir teilen uns die Verantwortung für die Care-Arbeit gleichberechtigt auf.
Und wie pflegt man dabei noch eine gute Paarbeziehung?
Mein Mann und ich haben ein allabendliches Feierabenddate. Wir versuchen alles zu schaffen, bis die Kinder schlafen – alles andere kann bis zum nächsten Tag warten. Wenn wir die Kinder einschlafbegleitet haben, treffen wir uns. Dann reflektieren wir den Tag, schauen einen Film oder setzen uns zusammen in den Garten.
Nora Imlau, Autorin
Viele Eltern sind abends müde, vor allem wenn die Kinder noch nicht durchschlafen.
Ich finde krass, dass die Arbeit die besten Stunden des Tages frisst. Man sieht sich müde am Morgen und müde am Abend. Mein Mann und ich planen deshalb zusätzlich mal eine verlängerte Mittagspause oder einen Brunch zu zweit ein, wenn die Kinder betreut sind. Eine gute Paarbeziehung ist eine wichtige Ressource und Burn-out-Prophylaxe. Man kann sich tagsüber auch wertschätzende Nachrichten schicken, zum Beispiel: «Hey, du hast heute einen langen Tag mit den Kindern, ich bewundere dich, du machst das so gut! Was kann ich dir heute Abend Gutes tun?» So setzt man der ungesehenen Care-Arbeit zumindest innerhalb der Familie etwas entgegen.
Viele Eltern, meist Mütter, aber auch Väter, empfinden es als belastend, den Spagat zwischen Beruf und Familie zu schaffen. Wie kommt man damit besser klar?
Ich kenne viele Eltern, bei denen die Kinder ziemlich exakt so lange betreut sind, wie die Arbeitszeit der Eltern dauert. Sobald die Eltern von der Arbeit kommen, betreuen sie die Kinder und führen parallel den Haushalt. Die Planung ist eng getaktet und basiert darauf, dass Kinder niemals krank werden, Kitas immer offen haben, Jobs sich immer in der vorgesehenen Zeit erledigen lassen und der Haushalt nicht überhandnimmt. Da ist über haupt keine Luft für Unvorhergesehenes, Hobbys, Entspannung. Ganz oft laufen natürlich tausend Dinge anders als geplant. Und insbesondere Mütter arbeiten hundert Stunden und mehr in der Woche, um das alles hinzukriegen und laufen in eine völlige Überforderung.
Dabei betonst du im Buch: Um die Kraft zu haben, seine Kinder feinfühlig zu begleiten, brauchen Eltern unbedingt Pausen. Auch eine Studie von Remo Largo bekräftigt, dass Kinder unsichere Bindungserfahrungen machen, wenn sie die Eltern ständig überlastet erleben. Welche Lösungen siehst du?
Die Lösungen auf individueller Ebene haben mit Privilegien und Outsourcen von Arbeit zu tun: Familien leisten sich eine Haushaltshilfe, eine Babysitterin, eine Nanny. Das ist auf individueller Ebene entlastend, aber strukturell nicht hilfreich. Wir bräuchten ein familienfreundlicheres System.
Was müsste sich deiner Meinung nach am System ändern?
Wir bräuchten ein System, in dem Familien mit ihrer Zeit und ihrem Geld wieder hinkommen. Die Autorin Teresa Bücker plädiert in ihrem Buch «Alle Zeit» für eine neue Zeitverteilung. Wenn eine Person in der Lage ist, insgesamt 40 Stunden die Woche zu arbeiten und davon 20 Stunden in Care-Abeit fliessen, liegen nicht mehr als 20 Stunden für Erwerbstätigkeit drin. Ein Modell ist, dass man im jungen Alter mehr erwerbsarbeitet und auf ein Konto einzahlt – und sobald man mehr Fürsorgearbeit übernimmt, davon profitiert. Eine Solidargemeinschaft sollte mittragen, dass Menschen, die Kinder, Kranke oder Alte versorgen, ein gesichertes Einkommen haben. Care-Arbeit hat ja auch einen Wert für eine Gesellschaft – wird aber unter Privatvergnügen verbucht.
Die 41-jährige Autorin aus Deutschland ist eine der prominentesten Vertreterinnen der bindungsorientierten Elternschaft. In ihrem neuen Buch «Bindung ohne Burnout» plädiert die vierfache Mutter für ein Familienleben, in dem Eltern ihre Kinder zugewandt und liebevoll begleiten – aber ihre eigenen Bedürfnisse dabei nicht aus den Augen verlieren.
Wenn Eltern mit kleinen Kindern erschöpft sind, hören sie oft: Ja, das geht allen so. Mein Eindruck ist: Man nimmt das so hin. Müsste man diese Erschöpfung, die ja im Burn-out enden kann, nicht viel ernster nehmen?
Leider wird in unserer Gesellschaft als normal angesehen, dass Eltern weit über ihre Grenzen gehen. Ein gewisses Mass an Erschöpfung geht fast zwangsläufig damit einher, ein kleines Kind zu haben. Aber dass wir gesellschaftlich dazu übergegangen sind, zu sagen: Es ist normal, dass insbesondere Mütter ein Schatten ihrer selbst sind, nie genug schlafen, keine Freizeit mehr haben – das ist schrecklich. Wenn sich Mütter im Internet dafür feiern, dass ihre Me-Time einmal die Woche vier Minuten duschen oder einmal die Woche einkaufen ohne Kinder ist: Es ist nicht gesund, sondern sehr gefährlich, das zu normalisieren!
Viele scheinen das verinnerlicht zu haben: Mamas machen keine Pause...
Es gibt Untersuchungen, dass Frauen die Fähigkeit, Pausen zu machen, von ihren Müttern übernehmen: Wer die eigene Mutter immer rastlos am Werkeln erlebte, dem fällt das Ausruhen selbst schwer. Deshalb sehen meine Kinder mich sehr oft ausruhen. Für sie ist das ein vertrautes Bild: Ich lesend am Küchentisch, die Hände um meine warme Teetasse. Oder: Ich mittags mit geschlossenen Augen auf dem Sofa liegend. Sie hören auch mich auch mal sagen: «Nein, ich gehe heute nicht mit euch ins Schwimmbad, gerne am Wochenende, aber heute bin ich müde. Wir können in den Garten gehen und ich lege mich in den Liegestuhl.» Klar, frustriert sie das manchmal. Dafür sind sie aber selbst in der Lage zu sagen, wenn sie eine Pause brauchen.
Ein schönes Beispiel dafür, wie Kinder durch Nachahmung lernen.
Hinzu kommt: Wenn wir im Alltag diese Selbstfürsorge leben, nehmen wir unseren Kindern eine grosse Last von ihren Schultern! Sie spüren, dass sie nicht für das Lebensglück ihrer Eltern verantwortlich sind und sich um ihre eigene Entwicklung kümmern können. Wenn es uns Eltern nicht gut geht – was ja durchaus vorkommt – sollten wir signalisieren, dass wir selbst eine Lösung finden. Im Satz: «Ja, ich bin erschöpft – und deshalb ruhe ich mich kurz auf dem Sofa aus», steckt viel Selbstwirksamkeit.
Was empfiehlst du Leser:innen, wenn sie ihren Ansprüchen an bindungsorientierte Elternschaft in einem erschöpften Moment nicht genügen und sich deshalb selbst verurteilen?
Sich eine liebevolle innere Stimme antrainieren und nicht alles moralisch bewerten. Wenn ich mir vorwerfe, dass ich laut geworden bin oder ungeduldig war, sage ich mir: «Du bist eine liebevolle, fürsorgliche Mutter, die einen menschlichen Moment hatte. Du kannst dich entschuldigen und dann gehts weiter. Die beste Prophylaxe, dass das nicht wieder passiert, ist, dass du dich noch besser um dich selbst kümmerst.» Und dabei ist «moralisch neutral», ob ich dafür Yoga mache oder eine Serie schaue – alles ist gut, was mir persönlich guttut! Wir Eltern sollten lernen, uns selbst so liebevoll und wertschätzend zu behandeln, wie wir auch unsere Kinder behandeln wollen.
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Fühlst du dich erschöpft und benötigst Hilfe? Der Elternnotruf bietet eine anonyme, kostenlose, vertrauliche Beratung. Rund um die Uhr. Per Mail über elternnotruf.ch oder Telefon: 0848 354555.