Erziehung
Jetzt mal ehrlich
Das erste Mal keimen die Zweifel um den 5. Geburtstag herum auf. Könnte es etwa sein, dass das eigene Kind möglicherweise doch nicht das reine, unschuldige Engelein ist, wie man bislang geglaubt hat? Sein Charakter nicht ganz so makellos ist, wie es rein genetisch zweifellos erwartbar gewesen wäre? Stellt man als Eltern doch plötzlich fest: Das Kind lügt. Dreist. Wiederholt und beharrlich. Da hält das Töchterchen auch bei robuster Befragung an der Behauptung fest: Nein, sie habe das Eis nicht aus dem Kühlfach genommen. Nein, die ungefähr 200 Druckaufträge, die den Computer lahmlegten, mit dem Text: «AnINA MAMA HuNT» seien von sonst wem gestartet worden, aber gewiss nicht von ihr: «Ich war das nicht. Indianerehrenwort und alles.» Tja. Was passiert da? Driftet hier ein bis anhin nettes Kind in moralisch buckliges Terrain ab?
Nein, sagen Entwicklungspsychologen. Alle Kinder lügen. Genau wie alle Erwachsenen auch. «Lügen ist eine neutrale Kompetenz, die in unserer Gesellschaft notwendig ist», findet Luciano Gasser, Entwicklungspsychologe an der Pädagogischen Hochschule Luzern. Lügen sei nicht zwingend verwerflich, sondern wichtiges Schmiermittel im sozialen Zusammenleben. Schliesslich kann man nur schlecht zu Schwiegermutters Geschnetzeltem sagen, es sehe irgendwie aus, als ob man ein gesundes, glänzendes Fell davon bekäme. Jeder wünscht seinem beknackten Chef einen «Guten Tag». Und nur sehr kleine Kinder sagen im Tram – ebenso wahrheitsgemäss wie laut – «Mami, der Mann da vorne hat einen Böög in der Nase.»
Lügen sorgen dafür, dass Menschen geschmeidig aneinander vorbeikommen. Und: Sie sind Zeichen von Intelligenz und kognitiver Reife. Kleinkinder können noch nicht lügen. Bei ihnen verwischen sich lediglich die Grenzen von Traum, Fantasie und Realität. Hexen, Bären und komplette Raumschiffe können da schon mal eine Zeit lang regelmässig im Kinderzimmer zu Besuch sein. Erst ab vier Jahren erwerben Mädchen und Jungen das «Prinzip des falschen Glaubens». Sie lernen, dass ein anderer Mensch eine andere Perspektive haben kann, nicht zwingend wissen muss, was man selber weiss. Sie lernen, sich in andere Personen hineinzuversetzen.
Schwindeln und Prahlen
Von dem Zeitpunkt an können sie sich – positiv – in andere einfühlen und sie können – negativ – den Wissensunterschied schamlos ausnutzen. Nur wer nicht länger davon ausgeht, dass Mama grundsätzlich alles sieht, kann versuchen, ihr weiszumachen, die Schokolade auf dem Tisch habe sich auf unerklärliche Art dematerialisiert, während die Mutter mal kurz im Bad war. Klar, dass die neue Fähigkeit mit wachsender Begeisterung erprobt wird. Amerikanische Studien besagen, dass normale Vierjährige alle zwei Stunden lügen, der Durchschnitts- Sechsjährige alle 90 Minuten. Allerdings mit unterschiedlichen Schummel-Präferenzen. Während jüngere Kinder vor allem münchhausenmässig prahlen, um die jetzt erstmals wichtig gewordenen «Gschpänli» zu beeindrucken – so Valtin und Walper vom deutschen Staatsinstitut für Frühpädagogik – schwindeln Sechsjährige eher aus Bequemlichkeit oder zum eigenen Schutz. Zwischen sechs und acht kommen dann langsam die Höflichkeitslügen dazu. Und so unangenehm es klingen mag: Amerikanische Untersuchungen belegen, dass die effizientesten Lügner gleichzeitig die beliebtesten Kinder waren. Vielleicht, weil sie am meisten Fantasie haben – vielleicht, weil 50 Prozent aller Lügen in die Kategorie «prosoziales Schwindeln» fallen, also jemandem die Wahrheit vorenthalten wird, um ihn nicht zu verletzen, ihn zu trösten oder ihm zu helfen.
Muss also die Lüge vom Laster zur Tugend umgewertet werden? Nein. Denn letzt- endlich beschädigt die Lüge das Vertrauen, beruht jede Kommunikation doch auf der Annahme, dass der jeweils andere die Wahrheit sagt. Im Umkehrschluss gilt: Wo dauernd gefaked wird, stimmt etwas nicht. Nicht mit dem Selbstwert des Kindes, nicht mit der Familienkultur, nicht mit der Beziehung zwischen Eltern und Kind, und nicht mit den gängigen Kriterien für Erfolg. So behauptet Robert Feldmann von der Universität Massachusetts in der «Welt», dass die Liebe zur Täuschung keinesfalls ein Persönlichkeitsmerkmal ist, sondern direkte Folge des Umfeldes. «Wer unter Leistungsdruck steht und sich rechtfertigen muss, wird eher flunkern und betrügen, als jemand, der mit breiter Brust in der Welt steht und niemandem etwas beweisen muss.» Je höher die Erwartungen, je grösser die Angst, zu enttäuschen, je eindrücklicher die Erfahrung von Strafe und je geringer das Vertrauen – desto häufiger Lüge, Fälschung und Betrug. 64 Prozent aller Schüler, so eine Untersuchung des Jefferson Institutes mit 30 000 Highschool-Besuchern, erschleicht und erschwindelt sich regelmässig bessere Noten. Zahlen zu Politikern und deren Doktorarbeiten liegen bislang nicht vor.
Leistungslüge auf Platz 1
Leistungslügen sind aktuell die Shooting- Stars unter den Unwahrheiten. Auch beim Schwindeln gibt es Moden. Lügen wegen «Naschhaftigkeit» beispielsweise, wie sie in den 20er-Jahren von den Erziehern beklagt wurde, sind auf dem absteigenden Ast. Doch nicht nur der Zeitgeist, auch der Zeitdruck schafft Lügner. Am schnellsten wird im Gespräch geflunkert. Da rutscht die Unwahrheit schon mal einfach, schwupps, heraus. Auf Platz zwei der beliebtesten Lügenvermittlungsarten liegen Mails. Am ehrlichsten ist der Brief. Offenbar, so Wissenschaftler der University of California, braucht das Gewissen Zeit, um anzuspringen, benötigen Skrupel eine Aufwärmphase.
Was nun aber müssen Eltern mit so einem flaumig weichen Wertmassstab wie «Ehrlichkeit» anfangen? Wie sich verhalten, wenn es mit der Moral verzwickt ist – gut und schlecht ab und an die Seiten wechseln? Dann hilft nur, wie meist in der Erziehung, den Einzelfall anzuschauen und das Gespräch zu suchen: über Motive, Folgen, brüchiges Vertrauen und unverbrüchlicher Liebe. Und vielleicht ist es nützlich, die Nase vom Sohn oder der Tochter im Auge zu behalten. Denn beim Schwindeln soll mehr Blut in die Nase fliessen als sonst. Ganz erlogen ist die Pinocchio-Geschichte offenbar nicht.
Tipps im Umgang mit Kinderlügen
- Vertrauen schaffen. Zu Fehlern darf man stehen. Ohne Angst.
- Liebe und Leistung haben nichts miteinander zu tun.
- Vorbild sein und ehrlich auf Kinderfragen antworten.
- Osterhasen und Samichlaus fallen nicht unters Wahrheitsgebot.
- Keine Dramatik, aber Lügen nicht unkommentiert durchgehen lassen. Eltern sind schliesslich nicht blöd.
- Kinder nicht zu Denunzianten heranziehen. Niemand muss petzen, um die Wahrheit um jeden Preis ans Licht zu zerren.
- Unaufgeregt über Motive und Folgen von Lügen reden, beschämen unnötig.
- Gemeinsam tolle Geschichten erfinden und Pinocchio lesen.