Früherziehung
Ist Spielen altbacken?

Fotolia / Christa Eder
Laura ist ein viel beschäftigtes Kind. Montags lernt die Vierjährige Englisch, am Mittwoch besucht sie einen Malkurs, Freitag steht Schwimmen auf dem Programm. Ihre Mutter fährt sie dafür dreimal die Woche mit dem Auto in die nächstgelegene Stadt, denn an ihrem Wohnort sucht man vergeblich nach Förderkursen für Kleinkinder.
Ihr Spielkamerad Moritz wohnt in derselben Strasse. Auch er ist oft ausser Haus, von Montag bis Mittwoch geht er für ein paar Stunden in die Spielgruppe. Seine Mutter begleitet ihn zu Fuss dorthin.
Die Spielgruppenleiterin bastelt, malt mit den Kindern oder liest ihnen eine Geschichte vor. Manchmal singen sie alle gemeinsam ein Lied in Englisch oder Französisch. Dann freuen sich die Kinder, weil es so lustig und geheimnisvoll fremd klingt.
Moritz geht sehr gerne in die Spielgruppe, er mag die Leiterin und würde sie, wenn er es nicht schon seiner Mutter versprochen hätte, vielleicht sogar heiraten.
Nur – lernt er da auch genug?
Wird er später im Kindergarten und in der Schule mit Kindern wie Laura mithalten können? Hat er zwischen Kuschelecke, Legokiste und Holzbauernhof wirklich genügend Anregung und Förderung? Viele Eltern haben da heute offenbar ihre Zweifel. Spezielle Frühförderkurse schiessen wie Pilze aus dem Boden. Das Angebot ist riesig und reicht von der musikalischen Früherziehung bis hin zum Mandarin- oder Computerkurs für Kleinkinder. Das Ziel ist überall dasselbe: Die Kleinen sollen möglichst früh fit gemacht werden für eine Welt, in der die Anforderungen von Jahr zu Jahr steigen.
Die Spielgruppe, so glauben offenbar zunehmend mehr Mütter und Väter, kann da nicht mithalten. Immerhin gehen die Kinder dorthin, um nur – wie der Name schon sagt – zu «spielen». Keine straff durchgezogenen Lernprogramme, keine verbindlichen Lernziele, dafür jede Menge freies Spiel mit anderen Kindern. Andere Gschpänli gibt es im Mandarin-Kurs schliesslich auch – ist da dieses Herumgespiele allein nicht ein bisschen wenig? Nein. Dieses «individualisierte, selbstentdeckende Lernen», denn nichts anderes ist Spiel für Kinder dieser Altersstufe, gilt aus entwicklungspsychologischer Sicht als das effizienteste Lernen überhaupt. In der Gruppe lernt ein Kind vom anderen und zwar, das ist wissenschaftlich erwiesen, viel schneller als es von einem Erwachsenen lernen würde.
Ganz en passant lernt da Goran, dass das kroatische «igra» auf Deutsch Spiel heisst und Moritz, dass Goran zu seinem Mantel «kaput» sagt. Und dann lachen die beiden, weil «kaput» wie «kaputt» klingt, dabei hat Gorans Mantel nicht mal ein winziges Loch. Integration durch Sprachförderung ist in der Spielgruppe nicht Programm, sondern Alltag. Gelernt wird statt mit Buch und Lehrerin mit Moritz, Ben und Lukas: beim Anziehen, beim Kreisspiel oder wenn die Leiterin erklärt, wie man das nun macht, einen Fisch für das Papieraquarium ausschneiden.
Fremdsprachige wie Schweizer Kinder müssen in diesem Alter ohnehin noch genau hinsehen wie das geht, lediglich mündlich zu erklären, reicht auch bei Schweizer Jungen und Mädchen nicht. Gut für Goran. Denn wenn jemand eine Schere hoch hält und dabei sagt: «Jetzt nehmt ihr die Schere», versteht auch er ohne Probleme, was zu tun ist. Dumm ist er schliesslich nicht. Doch nicht nur bei ihm zeigen sich Lernerfolge. Studien belegen: Kinder, die eine Spielgruppe besucht haben, zeigen später im Kindergarten weniger Mühe, den Ausführungen der Kindergärtnerin zu folgen, können sich besser in eine Gruppe einfügen und auch deutlich besser mit Stift, Papier und Schere umgehen. Das klingt zwar nicht wirklich mondän, entspricht aber genau den Anforderungen, die an ein Kind vor dem Eintritt in den Kindergarten gestellt werden. Was nützt es ihm zu wissen, dass Schere auf Englisch «scissors» heisst, wenn es damit nicht umgehen kann? Und eine gute Feinmotorik ist die halbe Miete fürs spätere Schreiben lernen.

Im sicheren Wissen darum fühlen sich die Frauen im schweizerischen Spielgruppen-Leiterinnen-Verband (SSLV) auch in ihrer Existenz durch die oft sehr kostspieligen Förderkurse für Kleinkinder nicht wirklich bedroht. Immerhin besuchen noch 70 Prozent aller Schweizer Kinder eine Spielgruppe. Doch der gesellschaftliche Druck des «früher, schneller, besser» geht auch an den Spielgruppen nicht vorbei.
«Die vorgezogene Einschulung bereitete uns allerdings mehr Sorgen», sagt Anna Lustenberger, Spielgruppenleiterin in Baar und Vorstandsmitglied des schweizerischen Spielgruppen-Leiterinnen-Verbands (SSLV). Als sie in einzelnen Kantonen eingeführt wurde, hätten viele Leiterinnen die Befürchtung geäussert, bald überflüssig zu werden – und reagiert, indem sie das Eintrittsalter für die Spielgruppen gesenkt haben.
Aus Frühförderung wird jetzt auch hier Frühstförderung.
Anna Lustenberger sieht diese Entwicklung mit gemischten Gefühlen. «Bis vor Kurzem lag die untere Altersgrenze bei 3 Jahren, was eigentlich richtig war. Mit 2 Jahren sind viele Kinder noch zu jung, um sich in einer Gruppe wohlzufühlen oder gar behaupten zu können.» Wenn ein Drittel der Gruppe nach ihrem Mami weint, wird friedliche «Spielarbeit» schwierig. Der dauernde Druck von aussen zur «Optimierung» macht den Lerneffekt der Spielgruppe nicht optimaler.
Schon früher zeigten sich die Spielgruppenleiterinnen immer wieder bereit, sich den veränderten Bedürfnissen anzupassen. Dauerte eine Spielgruppen-Einheit noch vor wenigen Jahren zwei Stunden, werden die Kinder heute meist drei bis vier Stunden beschäftigt. Zudem gibt es vor allem auf dem Land, wo Krippenplätze nach wie vor dünn gesät sind, immer mehr Spielgruppen, die einen Mittagstisch anbieten. Dennoch wollen sie sich klar vom Angebot der familienergänzenden Betreuung abgrenzen, auf keinen Fall «Kinderverwahranstalten» sein, und sie verstehen sich in erster Linie als pädagogische Einrichtung. Einrichtungen, die zwar nicht jedem Trend hinterher rennen, trotzdem aber neue Ideen aufnehmen. Waldspielgruppen beispielsweise sind eine Folge davon.
Doch mit dem stetigen Ausbau des Angebotes sind auch die Anforderungen an die Leiterinnen gestiegen. Jüngere Kinder brauchen mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung, und findet der Vormittag im Wald statt, kann unmöglich eine Person alleine auf zehn herumwuselnde Kinder schauen. In immer mehr Spielgruppen arbeiten deshalb zwei Leiterinnen. Weil die Mehrheit von ihnen nach wie vor ohne öffentliche Gelder funktioniert, verdienen viele dieser Frauen kaum 25 Franken pro Stunde und bezahlen sämtliche Weiterbildung aus dem eigenen Sack. Dennoch wehren sie sich dagegen, höhere Elternbeiträge zu verlangen, denn eigentlich, so sagt Anna Lustenberger, «sollten alle Kinder, auch die, deren Familien auf den Rappen schauen müssen, die Möglichkeit haben, eine Spielgruppe zu besuchen». Angebote für die anderen gibt es genug.