Interview
Bedürfnisorientierte Erziehung am Anschlag?
Von Diana Hagmann-Bula
Der bekannte Kinderarzt Herbert Renz-Polster ist ein Fan der bedürfnisorientierten Erziehung. Er sagt aber: Bei allem Herz brauchen unsere Kinder auch wieder mehr Klarheit.
Herbert Renz-Polster, viele Eltern sind unglaublich erschöpft. Ist die bedürfnisorientierte Erziehung gescheitert?
Nein, wir haben unheimlich viel dazugelernt, was Beziehungen angeht. Dass wir mit den Kindern achtsam umgehen, wir sie weniger verletzen, wir ihnen eine Grundlage des Vertrauens bieten, auf der sie gedeihen können. Mehr Eltern gehen heute in diesem Sinne mit ihren Kindern um. Trotzdem ist Erziehung eindeutig nicht leichter geworden. Viele Eltern fühlen sich überlastet. Ich bekomme viele Klagen, dass die Familien Schwierigkeiten haben, weil es mit der Emotionsregulation nicht klappt.
Ist das der einzige Grund für elterlichen Stress?
Elternschaft ist grundsätzlich unter Druck geraten. Wir stecken im Hamsterrad. Eltern müssen viel Zeit und Energie aufwenden, um sozial Schritt zu halten und ihren Lebensstil finanzieren zu können. Gleichzeitig sind die Eltern trotzdem präsenter bei den Kindern. Das führt zu Stress, ohne wirkliche Entlastung. Früher hatte man die Möglichkeit, dass die Kinder viel draussen waren, es gab mehr Babysitter. Heute lastet vieles auf den Schultern der Eltern.
Dafür stehen heute Kindertagesstätten zur Verfügung…
Ja, eigentlich passt das schon, aber am Abend ist das Kind oft überreizt und durch den Wind. Nicht aus schlechtem Willen, sondern weil auch in den Kindertagesstätten nicht genügend Ressourcen da sind. Die Eltern stellen die Bedürfnisse des Kindes in den Vordergrund, und vergessen dabei ihre eigenen. Dabei muss man die verschiedenen Bedürfnisse austarieren. Darin muss ich viele Eltern bestärken. Sie sind verbunden mit ihren Kindern, aber sie sind oft zu wenig klar.
Da gehen Eltern total bedürfnisorientiert mit ihrem Kind um und es macht trotzdem nicht mit. Und nun? Auf autoritäre Erziehung umschwenken?
Nein, Kinder brauchen doch die Verbindung zu uns, unser grosses Herz! Naheliegen würde vielmehr die Frage: Was klappt bei uns nicht so gut? Ich höre stattdessen oft Erklärungen wie «mein Kind ist halt gefühlsstark». Oder «autonomiebedürftig». Jedes Kind ist gefühlsstark, manche nach innen, andere nach aussen. 80 Prozent der Anfragen in meiner Sprechstunde drehen sich um das gleiche Thema: Das Kind hat Probleme mit der Selbstregulation.
Bedürfnisorientierte Erziehung bringt also Kinder hervor, die mit Wut und Enttäuschung nicht angemessen umgehen können?
Es gibt nicht «die» bedürfnisorientierte Erziehung. Aber manche Eltern verpassen bei ihrem Blick auf die Bedürfnisse tatsächlich den eigentlichen Punkt: die Orientierung. Jedes Kind braucht Autonomie, jedes Kind will gesehen und gehört werden. Aber doch nicht ohne Rücksicht auf das Miteinander! Kinder wollen auch sozial verständig und kompetent werden. Eltern dürfen deshalb zeigen, was nötig ist, damit der Laden zu Hause läuft. In aller Liebe, aber in aller Klarheit.
Manche Eltern entgegnen Ihnen wohl auch, ihr Kind wolle doch selbstwirksam sein ...
Und das Müesli selber einschütten mit einem halben Liter Milch und dann wandern 90 Prozent davon in den Abfall? Meine Antwort: Eltern müssen entscheiden, was Sinn ergibt und was nicht. Kindern bieten sich unzählige Gelegenheiten, Selbstwirksamkeit zu üben. Aufgabe der Eltern ist es, ihr Kind auf einen Weg zu führen, auf dem es Rücksicht und Gefühlsregulation lernt. Auf diesem Weg ist das liebevolle, elterliche Nein im Grunde ein Ja zum Kind. Eine Gelegenheit auch, in der Sozialentwicklung weiterzukommen. Es erfährt: «Kind, so können wir das jetzt nicht machen.» Das Kind muss also ein neues Programm finden. Ein Lernschritt! Fehlt diese soziale Orientierung, ist das Leben mit Kindern herausfordernd.
Klagen deshalb immer mehr Eltern über Burn-out?
Ein Grund dafür ist: Eine bedürfnisorientierte Erziehung ohne Klarheit macht Kinder unzufrieden und anstrengender. Nicht anstrengender, weil sie unsere Liebe testen wollen, wie manchmal behauptet wird, sondern weil sie schlichtweg weniger Kompetenz in Selbstregulation haben.
Wie holen Eltern das mit der Selbstregulierung auf?
Manchmal klappt es draussen und mit anderen Kindern recht gut mit dem Zusammenreissen. Das Kind räumt an einer Geburtstagsparty bei einem Freund auf, ist einfühlsam, aber zu Hause kann es das nicht. Ich rate dann: Schaut mal auf eure Verbundenheit. Oft ist es so, dass Eltern und Kinder sich irgendwann auftrennen, wenig Berührungspunkte, wenig gemeinsame Projekte haben, in denen sie sich verbunden fühlen. Wer gemeinsam das Feuer hütet, wächst zusammen.
Früher hat man gemeinsam das Feuer gehütet, um wilde Tiere wegzuhalten. Heute ist das nicht mehr nötig. Welche Projekte eignen sich, um die Verbundenheit aufzufrischen?
Nehmen wir doch unsere früheren Leidenschaften wieder auf. Das Picknick am Freitagabend, Vorlesen am Sonntagmorgen im Bett, zusammen Pizza backen oder andere Rituale, die uns tragen.
Mit Herz und Klarheit, plädieren Sie in Ihrem neuen Buch. Wie geht Herz?
Ich beschreibe es mit einem Kleeblatt. Kinder brauchen Sicherheit, wollen Wert haben, wollen, dass wir sie sehen, wie sie sind, und nicht nur ihre Noten. Und dass wir ihnen Zugehörigkeit vermitteln.
Wie geht Klarheit?
Das ist die Seite der Orientierung. Die Eltern schauen, dass in der Familie gute Stimmung herrscht. Sie tarieren Interessen aus. Dazu gehört mal ein Ja, manchmal ein Nein. Beides schützt uns als Familie und lässt uns als Familie wachsen. Auch brauchen Kinder viele Gelegenheiten, um zu spielen. Und zwar selbstorganisiert. Sie brauchen andere Kinder, ältere und jüngere.
Sie nennen das Flügelraum und bedauern, dass er kleiner geworden ist. Haben Eltern das Loslassen verlernt?
Die Kinder sind den ganzen Tag in Institutionen, kaum je einen Schritt von Erwachsenen weg. Kinder sind oft in Programme eingegliedert, mit Noten, Bildung, Betreuung. Der Flügelraum ist der Raum, in dem sie ihrer inneren Spur entlang wachsen. Spielen ist ein Trick, um kompetent zu werden! Verstecken spielen, um mal zu gewinnen, mal zu verlieren, um sich zu versöhnen, damit das Spiel weitergeht. Um die Zähne zusammenzubeissen, um sich in andere einzudenken und kreativ zu werden. Bei all dem lernen sie viel mehr als bei den Aufgaben, die wir Erwachsene ihnen stellen. Da müssen wir komplett umdenken, in der Pädagogik, aber auch als Eltern.
Sie schlagen die neue Autorität als Lösung vor. Wie unterscheidet sie sich von der Autorität von früher?
Ich nenne es lieber die menschliche Autorität oder die entwicklungsgerechte Autorität. Was ich darunter verstehe: Die alte Autorität machte Kindern Angst. Wer am meisten Angst verbreitete, hatte die Macht und konnte die Interessen durchsetzen. Jeder Idiot kann ein Kind in den Senkel stellen. Ich will den Eltern mitgeben, dass es auch eine Ja-Autorität gibt. Kinder verstehen die Grenzen dann fast automatisch.
Wie gelingt ein gutes Nein?
Es hat nichts mit «Geh auf dein Zimmer» oder Liebesentzug zu tun. Wir wahren dabei die Beziehung. Wir sagen Nein, aber es ist nicht destruktiv. Wir verstehen das Kind und machen es nicht nieder. Ein Beispiel: «Ich verstehe dich, aber es ist gut für dich, noch kein Handy zu verwenden. Wir warten noch ein Jahr.»
Da dürfte es jugendlichen Widerspruch geben. Wie gelingt Orientierung trotzdem? Geben Sie uns bitte Tipps.
Wichtig ist, dass man selber orientiert ist: Was braucht dieses Kind und was nicht? Was ist gut für unsere Familie und was nicht? Auch gut, wenn wir wissen, dass Konflikte und Emotionen dazugehören. Da steht nicht immer gleich ein unerfülltes Bedürfnis dahinter oder eine Katastrophe, sondern vielleicht nur der Wunsch nach einer zweiten Kugel Eis. Da dürfen wir wirklich unterscheiden lernen. Das ist unglaublich wichtig, auch im Umgang mit den Bildschirmmedien. Sie können ohne Orientierung das Ende der Kindheit bedeuten. Den Unterschied macht niemand anders als wir Eltern.
Jeder hat mal schlechte Tage, auch Eltern.
Natürlich, wir sind wie ein Orchester beim Üben. Wir haben manchmal Scheisstöne. Wenn mal Kränkung geschieht, macht man das wieder gut. Wir stimmen das Familienorchester wieder und korrigieren den Grundton nach. Für Kinder ist das entscheidend. Manchmal gibt es ein Gewitter oder Regen, aber es kommt auf das Klima an. Auf das Gefühl, dass man in der Familie eine Heimat hat. Und auf Eltern, die sich immer wieder von Neuem anstrengen, alles im Guten zu regeln.
Herbert Renz-Polster ist Kinderarzt. Er befasst sich seit vielen Jahren mit der kindlichen Entwicklung: Vom Babyschlaf über den Kinderzorn bis zur Pubertät. Der 64-Jährige ist Autor vieler, sehr beliebter Erziehungsbücher. Sein neustes Werk heisst «Mit Herz und Klarheit» und ordnet die beziehungsorientierte Erziehung und deren Schwachstellen ein. Renz-Polster lebt mit seiner Frau in der Nähe von Ravensburg, hat vier Kinder und vier Enkelkinder. Er leidet seit mehreren Jahren am Chronischen Müdigkeitssyndrom, einer neuroimmunologischen Krankheit, die ihn körperlich einschränkt.
Auf sozialen Medien wie Instagram wird die bedürfnisorientierte Erziehung abgefeiert. Was halten Sie davon?
Es ist schön und wichtig für Eltern, zu sehen, dass sie keine Freaks sind und dass es andere gibt, die gleich denken. Das kann den Rücken stärken und umgibt diese Familien mit einem wärmenden, schützenden Fell gegen den Mainstream. Der ist noch immer eher autoritär unterwegs. Die sozialen Medien bergen aber auch Gefahren.
Welche?
Dass man sehr viel online im theoretischen Austausch ist und die Familie vergisst. Ich kenne Eltern, die halten sich stundenlang auf Instagram auf. Da frage ich mich: Wann leben sie mit ihren Kindern? Instagram zelebriert ja das Gelingen und nicht das Scheitern und zwingt, zu vergleichen. Man glaubt dann, dass bei den anderen alles gut läuft. Das tut nicht gut.
Gemäss vielen Erziehungsratgebern können wir erst richtig gute Eltern sein, wenn wir unsere eigene Kindheit aufgearbeitet haben. Sehen Sie das auch so?
Ich bezweifle nicht, dass es hilft, wenn man weiss, woher diese Wut und dieses ungemässe Reagieren kommen. Vielleicht geht es mir gerade nicht so gut, vielleicht liegt der Grund auch in der eigenen Kindheit. Deswegen muss man sich nicht immer gleich einer langwierigen und teuren Heilung beim Psychotherapeuten unterziehen. Es gibt viele Wege, um Erfahrungen zu verdauen. Manchmal besteht der Weg auch in dem, was man jetzt tut. In den guten Begegnungen, auch mit den Kindern, die Teil des Alltags sind. In jeder lebendigen, neuen Beziehung liegt Heilkraft. Wir sollten sie feiern.
Was wünschen Sie Familien?
Ich wünsche ihnen, dass sie häufiger die wunderbare, entspannende Seite mit Kindern geniessen können. Dass sie wieder spüren, dass das Leben mit einem Kind das ist, was sie sich gewünscht haben. Familie ist Magie, etwas, das mich neu macht und wachsen lässt. Dass sie wissen, dass sie einen Superjob machen, auch wenn da viel Stress ist. Und dass sie das Vertrauen nicht verlieren: Alles andere wird dann schon irgendwie.