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Inklusion
Integrative Schule
Jedes Kind soll in der Schule dazugehören und nicht ausgesondert sein aufgrund einer körperlichen oder geistigen Einschränkung. Diesem Ziel sind die Kantone verpflichtet. Doch funktioniert das auch?
Klingeln. «Aufstuhlen, bitte!», Katrin Meier, Lehrerin im Zürcher Schulhaus Hirschengraben, atmet tief durch. Fertig für heute. Fast fertig. «Siiiieeehiiie, Frau Meier, kennen Sie dieses Video von dem Vogel, der den Moonwalk macht?» Nein, kennt Katrin Meier nicht. Schnell bekommt sie zur Verdeutlichung eine kleine Moonwalk-Showeinlage ihres Viertklässlers geboten, dann flitzt auch der in den Mittwochnachmittag. Die Treppe hinunter hinter den Klassengspänli her: dem Mädchen mit dem Kopftuch, dem Jungen mit Legasthenie, den Flüchtlingskindern, denen, die am Mathewettbewerb der ETH teilnehmen – und hinter Thomas* her, der schnell die Treppe hinunter laufen kann und nur langsam denken.
Inklusion bedeutet viel Arbeit
Thomas, wie er hier heissen soll, ist mit seiner Lernbehinderung das «Integrationskind» in Katrin Meiers altersdurchmischter 4.–6. Klasse. «Aber was heisst das bei meiner bunten Gruppe schon», sagt die 50-Jährige. «Jedes Kind ist besonders. Mit Schwächen und Stärken. Mir sind alle willkommen.» Pädagogisch wertvolle Sätze, die verdammt nach Phrasen klängen – kämen sie nicht von Katrin Meier. Wortgeklingel ist nicht ihr Ding. Für Schnickschnack fehlt der resoluten Pädagogin die Zeit. Denn Inklusion, wie das Fernziel der integrativen Schule heisst, macht eine Menge Arbeit.
«So etwa 23 Stunden täglich bin ich zugange», witzelt die Lehrerin und findet das nur halb lustig. Denn wer allen gerecht werden will, muss sich auf jedes einzelne Kind einstellen, auch auf das mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf, auch dann, wenn man von Sonderpädagogik wenig Ahnung hat. Wer jedem Passendes bieten möchte, braucht Material auf diversen Anspruchsniveaus, unterschiedliche Prüfungen und Aufgabenstellungen – in etwa multipliziert mit der Anzahl der Schüler. Und jedes Jahr kommen neue Kinder in die Gruppe mit einer neuen Geschichte… Sisyphos schiebt eine ruhige Kugel im Vergleich zu Katrin Meier. Und dennoch!
Sie steht hinter diesem «alle willkommen», fühlt es – und zeigt es. Sonst gäbe es wohl kaum diese Sammlung von Kinderzeichnungen an der Wand, auf denen mit Anfängerschrift steht «für Frau Meier».
Willkommenskultur und Inklusion sind Verwandte ersten Grades. Beides findet scheinbar jeder richtig, beides gilt als politisch korrekt – und beidem folgt oft ein ABER. Fällt in einem Gespräch einer der zwei Begriffe, kommt Stimmung in die Bude. Diese Fragen: «Wer gehört zu uns? Wer nicht? Wer darf mittun? Unter welchen Bedingungen? Um welchen Preis? Was ist selbstverständlich? Und wie entsteht ein Wir-Gefühl?» sind verlässliche Brandbeschleuniger von Diskussionen über das grosse Ganze oder – über Schulunterricht.
Im Frühling 2014 hat die Schweiz die Behindertenrechtskonvention von 2004 ratifiziert, schon 1994 erklärten die Mitgliedstaaten der Unesco (also auch die Schweiz) mit der sogenannten Salamanca-Konvention die Bildung für alle innerhalb des Regelschulsystems für verpflichtend. Beide Abmachungen legen fest: Kinder mit Förderbedarf haben ein Recht darauf teilzuhaben– am öffentlichen Leben, an der öffentlichen Schule. Die Frage ist also nicht mehr, ob gemeinsam gelernt werden soll, sondern nur noch wie. Und da sieht die Situation von Kanton zu Kanton und von Gemeinde zu Gemeinde anders aus, wird der Begriff «integrativ» unterschiedlich interpretiert.

Vielleicht sind Kleinklassen integrativ, weil doch innerhalb eines Schulhauses auf die speziellen Bedürfnisse eingegangen wird. Möglicherweise sind aber auch Time-out-Räume integrativ, in denen verhaltensauffällige Schüler temporär separat unterrichtet werden. Integrativ kann auch sein, dass eine Heilpädagogin im Unterricht neben einem Kind mit besonderen Bedürfnissen sitzt. Aber da ist auch die Befürchtung zu hören, dass all das genau trennend wirkt, werden doch so einzelne Kinder besonders herausgestellt… Und dann ist da noch die Frage: Was zählt überhaupt zum «regulären Schulsystem»? Die Kindergärten, klar. Die Primarschulen, auch. Aber was ist mit den Sekundarschulen? Wo ist dort der Platz eines lernbehinderten Kindes? In der Sek C? In der A? Was ist mit dem Gymnasium? Warum sollen die nicht mitgemeint sein? Wenn jedoch ein Kind mit einer attestierten Lernstörung dort hingehen kann, wieso werden dann «normale» Kinder per Notenschnitt, Aufnahmeprüfung und Probezeit herausgesiebt? Wie weit geht Inklusion?
Und während in den Schulhäusern tapfer gearbeitet und gewurschtelt wird, geht die Diskussion weiter und weiter und weiter. Vermutlich, weil sie an die Frage erinnert, wer eher da war, das Huhn oder das Ei. Im Schulfall eben: Was braucht es zuerst, den Willen zu integrativem Unterricht oder die geeigneten Rahmenbedingungen? Ist doch guter Wille ohne Mittel ineffizientes süssliches Geschwätz und verkleidete Sparmassnahme, Mittel ohne Willen und Haltung: Verschwendung und Murks.
Wenn Inklusion zu Exklusion führt
Jan Habegger (29), Jurist und Projektleiter bei «insieme inklusiv» kann ein Lied vom Murks singen. Eines mit Ben als Hauptfigur. Ben ist zwölf, «Mandant» von insieme und hat Trisomie 21. Die Familie lebt in einem Dorf im Kanton Zürich. In so einer kleinen Gemeinde war es selbstverständlich, dass er zusammen mit seinen Freunden aus dem Kindergarten und der Nachbarschaft in die Dorfschule kam. Endlich ein stolzes Schulkind. Eine zusätzliche Lehrerin wurde extra ihm zugeordnet, ausschliesslich zuständig für Ben. «Leider», sagt Jan Habegger, heute. Als Inklusion getarnte Exklusion sei das gewesen, Ben stets der einzige, der separat betreut wurde, häufig allein mit der Extra-Lehrerin im separaten Räumchen. Oft musste der Junge dort stumpfsinnig Löcher in Folien stanzen. «Die Frau hatte keinerlei Ahnung von seinen Besonderheiten und der Familie hat sie zu verstehen gegeben, dass Ben später am besten auf einem Bauernhof zum Stöcke-Zählen aufgehoben wäre.» Noch immer wird Jan Habegger stinksauer, wenn er an diese «Unterstützung» denkt und daran, wie der Junge wohl gelitten haben mag, ohne das richtig in Worte fassen zu können. «Relativ schnell hat er wieder angefangen einzunässen und die Schule verweigert.» Nach einem Schulwechsel schien alles prima, die neue Heilpädagogin war lieb und kompetent, die Loch-Stanzerei vorbei, Ben glücklich – bis die Schulleitung die Mutter informierte, der Junge mit seiner Behinderung sei für die Klasse nicht länger tragbar, die Lehrerin hätte sich beschwert, das Förderkind mit Heilpädagogin bremse die anderen Schüler und belaste den Unterricht, das verstünden sie, die Familie von Ben, doch sicher, nicht wahr? Schulwechsel.
Ob ein Kind mit besonderen Bedürfnissen als in einer Regelklasse beschulbar gilt, ist Ermessenssache der Schulbehörde. Und Glückssache für die Betroffenen. Heute geht Ben wieder in eine neue Schule. Die alten Freunde fehlen ihm. «Wir von insieme sind für Inklusion und Teilhabe», sagt Jan Habegger: «Aber es gibt noch viel zu tun, denn Integration ist nicht gleichbedeutend mit guter Integration.»
Dabei erwecken Studien auf den ersten Blick einen anderen Eindruck.
So fand Gérard Bless schon vor 25 Jahren an der Uni Freiburg heraus, dass Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten in integrativen Schulformen eine bessere Leistungsentwicklung zeigen als in Förderschulen oder Kleinklassen. Neuere Untersuchungen, etwa vom deutschen Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, belegen, dass integrativ beschulte Förderschüler in Mathematik und Lesen separiert beschulten in ihrem Können um ein Jahr voraus sind. Laut der Zürcher Studie von Andreas Bächthold machen die «normalen» Schüler in integrierten Klassen die gleichen Fortschritte wie Schüler und Schülerinnen, die kein Förderkind in der Klasse haben. Und die Hochschule für Heilpädagogik weiss aus einer Befragung, dass diejenigen mit «special needs» sich in der Regelschule wohlfühlen, nicht überfordert. In der Theorie herrscht monochromes Rosarot.
Doch in der Praxis bröckelt die Farbe zuweilen. Und darunter erscheinen Geschichten wie die von der Durchschnitts-Fünftklässlerin, die im Matheunterricht nur Bruchstücke der Bruchrechnung lernt, weil neben ihr Heilpädagogin und Förderschülerin anderen Stoff beflüstern. Die Geschichte vom Primarlehrer, den es wurmt, dass zwar sein Arbeitspensum durch mehr Vielfalt steigt, nicht aber sein Gehalt. Oder die Geschichte der Sek-Lehrerin, die sich aufgrund der drei verhaltensauffälligen Schüler ihrer Klasse eher als Dompteuse denn als Pädagogin fühlt. Sie ist kein Einzelfall. Schätzen doch Lehrpersonen, laut Studie der PH Zürich, inzwischen 22 Prozent ihrer Schülerinnen und Schüler (Kindergärtler: 20 Prozent) als verhaltensauffällig ein, 15 Prozent davon als aggressiv. Und manchmal ist da auch die Geschichte von diesem Kind, das im Unterricht vermeintlich toll integriert ist, doch auf dem Pausenhof stets allein spielt. Reicht Inklusion nur bis zur Klassenzimmertür und nicht in die Herzen, dann ist «integrierter Förderschüler» lediglich ein schöneres Wort für «der Doofe», wird «spezielle Unterstützung im Unterricht» auf die Dauer genauso zum Schimpfwort wie früher Hilfsschule, Brettergymnasium und Schmalspur-College… Das Label allein bringts nicht.
«Man erlebt viel Heuchelei beim Thema integrative Schule», sagt Allan Guggenbühl, Psychologe, Konfliktforscher und ehemaliger Primarlehrer. «In der Öffentlichkeit gilt das Wertparadigma: Inklusion ist gut. Wer etwas anderes sagt, wird als asozial abgestempelt. Wer will das schon?» Er, notfalls. Wenns um der Ehrlichkeit willen sein muss, nimmt der Psychologe das in Kauf. Mit seinem Krisenberatungsteam wird er in Klassen gerufen, wenn die Lehrperson nicht mehr weiter weiss. «Vor allem in der Oberstufe erlebe ich in Zürich Klassen, in denen praktisch kein Unterricht mehr stattfindet.» Leidlich Ruhe im Klassenraum ohne Toben, Kreischen, Chaos – mehr erwarte die komplett überforderte Lehrperson mancherorts gar nicht mehr.
Nach einer Umfrage des Forsa-Instituts erteilt in Deutschland jeder vierte Lehrer der personellen Ausstattung inklusiver Schulen ein glattes «ungenügend». Mögen auch die Bedingungen in beiden Ländern nicht identisch sein, vergleichbar sind sie dennoch. Auch hierzulande werden Heilpädagoginnen und Klassenassistenzen händeringend gesucht. Nur – wären sie wirklich die Heilsbringer? «Nein», sagt Allan Guggenbühl entschieden. Zu viele Erwachsene in der Kinderwelt Schule störten oft – «wie auch dieses ganze Individualisieren.» Wie bitte? Ist Individualisieren nicht der Königsweg des Unterrichts? «Sicherlich nicht!», findet Allan Guggenbühl: «Wenn jeder sein eigenes Süppchen kocht und jeder Schüler allein an seinen Arbeitsblättern herumdoktert, dann finden viele Schüler das langweilig. Ihnen fehlt so das Gefühl, eine Gemeinschaft zu sein. Sie wollen zusammen über ungerechte Prüfungen jammern oder sich über Spannendes im Schulstoff austauschen.» Und Lernen ohne Beziehung – «das haut einfach nicht hin». Kleines Einmaleins der Pädagogik.
In Winterthur in der 4. Klasse im Schulhaus Ausserdorf sitzt Yannick neben Lukas. Yannick hat ADHS, Lukas einen Gendefekt, der das Hirn beeinträchtigt. Mit seiner Förderstufe drei hat Lukas Anrecht auf eine eigene Heilpädagogin. Fünf Lektionen pro Woche ist Hilde Härtner (59) für ihn zuständig, elf weitere unterstützt eine Assistentin die Klasse. Doch jetzt gerade übt Yannick mit ihm. Geduldig zählt er laut für seinen Freund die Äpfel auf dem Mathe-Blatt, die Lukas auf zwei Teller verteilen soll: «Hier sechs Äpfel: 1, 2, 3, 4, 5, 6. Jetzt drei rüber, zack. Und: tataaa! Drei.»
Die beiden strahlen sich an. Warum Lukas Yannicks Freund ist? «Keine Ahnung.» Die zwei zucken die Achseln. Ist halt so. Warum und weshalb ist ihnen so piepegal wie das Wort Inklusion. Sie mögen sich. Punkt. Hilde Härtner freuts, dass die beiden in der freien Zeit miteinander spielen. Auch wenn der eine Ritalin schluckt und der andere freitags speziellen Lebenspraxis-Unterricht in der Heilpädagogischen Schule erhält. «Ich muss aufpassen, dass Yannick nicht zum Hilfslehrer wird und beide auch eigenständig lernen», sagt die Heilpädagogin. Jetzt steht Lesen auf dem Stundenplan. Hilde Härtner, die gemeinsam mit Klassenlehrer Dario Agustoni den Unterricht plant und die Kinder betreut, verteilt Material: das komplette Taschenbuch «Winzling – Die Geschichte eines Wolfswelpen» an Blitz-Leserin Leandra. Mia, die Schwierigkeiten mit Lesen hat, holt ihr E-Book heraus, weil sie dort die Buchstaben vergrössern kann, und Lukas bekommt den «Lesestick». Drückt er diesen Stift auf ein Feld neben einem Satz, liest der Stick den Satz vor, Lukas sucht dann das dazu passende Bild im «Rotkäppchen». Auch eine Wolfsgeschichte.
Hilde Härtner schlendert von Schüler zu Schüler. Fragen darf, wer Hilfe braucht. Yannick mault, Lukas’ Lesestift sei viel cooler. Naja, egal. Wölfe finden jedenfalls beide «krass». Und dass sie, wenn sie mit Lesen fertig sind, in den Gruppenraum dürfen, mit Herrn Agustoni einen eigenen Podcast erstellen, das ist sogar «megakrass».
Im Gruppenräumchen scheint gut oder schlecht, schlau oder schlicht keine Rolle zu spielen. «So kann integrativer Unterricht funktionieren», findet Allan Guggenbühl. Das ständige Betonen der Leistungsfächer sollte die Schule hintenanstellen; gezielte Lernförderung sei elementar, doch besser – differenziert nach Niveau – in den Randstunden. Wichtig für die Integration seien vielmehr Musik, Zeichnen, Sport, gemeinsame Wanderungen, Theaterstücke im Klassenverband… «Und das ist kein Luxus, sondern die logische Konsequenz daraus, dass Lernen, wie gesagt, nur dann gut funktioniert, wenn es an Beziehung und Gefühl gekoppelt ist.» Am besten an das Gemeinschaftsgefühl.
Katrin Meier im Schulhaus Hirschengraben packt jetzt auch ihre Sachen. Sie steckt den Fantasie-Deutsch-Aufsatz von Viertklässler Leon ein, bei dem der erste Satz lautet: «Bedauerlicherweise bin ich im Fliegen mit dem Teppich noch ein blutiger Amateur, doch ich hoffe, das ändert sich bald», die Schreib-Übung vom ein Jahr älteren Thomas, der noch immer mit jedem Buchstaben ringt, die Hefte mit den schwungvollen Schriften, den ordentlichen, den krakeligen, den unlesbaren… «Im Laufe der Jahre hab ich etwas gelernt», sagt Katrin Meier. «Ich kriege sowieso nicht alle Kinder unter einen Hut. Ich brauche ganz viele Hüte.» Passende. Kunterbunte. Aber alle mit der gleichen Feder dran.
**Namen aller Kinder geändert*