Safari in Kanada
Ich glaub, ich seh einen Elch
Als Erstes», sagt Steve, während er sein Motorboot über die Wellen der Baie Fine bei Killarney steuert, «als Erstes müsst ihr euch seine Umrisse vorstellen. Sonst entdeckt ihr ihn nie.» Steves hellblaue Augen suchen das Ufer ab. Er scannt die Kiefern, die Leerstellen zwischen den Kiefern, die flachgeschliffenen Steine, kein schwankender Ast, kein raschelndes Blätterwerk entgeht seinem Blick. Neulinge, sagt er, würden stets nach den Dimensionen eines Hirsches Ausschau halten. «Aber man muss sich ein Pferd denken. Und dann nochmals einige Zentimeter dazu addieren. » Am Ufer bewegt sich etwas im Grünen. Steve drosselt den Motor, wartet einige Augenblicke, doch es ist nur der Wind. Als der Kapitän wieder losfährt, lässt er den Blick über die offene Wasserfläche gleiten. «Ich seh sie eigentlich dauernd », sagt er, «mit dem Boot muss ich sogar aufpassen, dass ich sie nicht überfahre.»
Dies ist eine Reise mit einer Mission. Sie führt in die endlosen Sümpfe des Algonquin Provincial Parks und in die Fjorde der Georgian Bay, wo ein liebeskranker Gott namens Kitchikewana einst einen Erdball ins Wasser schleuderte und so mehr als 30 000 Inseln schuf. Grandios ist die Landschaft hier im Osten Kanadas, schön wie aus einem Bilderbuch. Doch für einmal sind all die Wälder, Seen und Felsen nur Kulisse. Oder genauer: Habitat. Denn diese Reise ist eine Safari. Hinter jedem Baumstamm, zwischen allen Felsen könnte sich das gesuchte Tier verbergen.
Wobei: Eigentlich ist ja jede Reise eine Safari. Das Wort, das aus der afrikanischen Sprache Suaheli stammt, bedeutet nämlich nichts anderes. Und auch wenn man eher an die Savanne denkt und sich die Umrisse von Elefanten, Giraffen und Löwen vorstellt – wer sagt denn, dass sich für eine Safari nicht auch andere Habitate und andere Tiere eignen? Denn ganz einerlei, ob man Nashörner oder Eichhörnchen, Antilopen oder Steinböcke sucht – gerade für Kinder macht das Wort jede Reise zum Abenteuer, jede Wanderung zur Pirsch und jede Bootsfahrt zur Expedition.
Sie stehlen Salatköpfe
Damit die Safari ein Erfolg wird, gilt es allerdings, ein paar Regeln zu beachten. Und Steve hat gerade eine davon erklärt: Um ein Tier in freier Wildbahn zu entdecken, muss man zuerst die Augen auf seine Umrisse einstellen. Also los: Ein Pferd, nur grösser, mit Buckel, Streichholzbeinen und Doppelkinn – wir wollen einen Elch erspähen. Dieses seltsame Tier, das immer ein bisschen aussieht, als sei es der Phantasie eines Comiczeichners entsprungen.
Steve hat den Blick für Elche. Er erspäht sie auf Hunderten von Metern Entfernung, selbst wenn ihr braungraues Fell sie zwischen den Baumstämmen fast unsichtbar macht. Er beobachtet von seinem Boot aus riesige Bullen, die am Waldrand Äste kauen, er sieht Jungtiere, die am flachen Ufer Wasserpflanzen äsen und manchmal muss er einem Elch sogar den Vortritt lassen. Die trächtigen Kühe schwimmen nämlich gerne vom Festland hinüber zu den Inseln, um dort ungestört ihre Kälber zur Welt zu bringen. Steves ganzes Leben spielt auf diesen Gewässern. Schon als kleiner Junge fuhr er hinaus auf den Huron Lake, heute nimmt er Gäste mit zu verborgenen Buchten oder in besonders reiche Fischgründe. Wenn jemand unbedingt will, hilft er auch mit, ein paar Elche aufzustöbern – obwohl er die Begeisterung für die Tiere nicht ganz versteht. Eine regelrechte Plage seien sie, sagt er, die Augen weiter ans Ufer geheftet: Stehlen Salatköpfe aus den Gärten! Werfen sich auf den Strassen vor Pickups! Verschrecken harmlose Wanderer! «Aber ich mag sie», fügt er dann noch an. «Am liebsten ist mir das Lendenstück.» In Steves Adern fliessen ein paar Tropfen indianisches Blut, was bedeutet, dass er das Recht der Natives in Anspruch nehmen und in den Wäldern seiner Heimat jagen darf.
Bis zu einer Million Elche leben in den Wäldern, Sümpfen und den Prärien Kanadas – aber in diesen Tagen an der Georgian Bay lässt sich kein einziger blicken. Nicht bei der Bootsfahrt mit Steve, nicht bei der Wanderung zum glasklaren Topaz Lake mit Tom, nicht bei der Exkursion ins Naturschutzgebiet des Killarney Provincial Parks. «Aber immerhin», tröstet Tom auf dem Rückweg von der Pirsch, «werdet ihr heute Abend garantiert einen riesigen Elch sehen. » Allerdings nur einen Drittel davon: Sein Kopf hängt als Jagdtrophäe in der Killarney Mountain Lodge. Tom formuliert unterwegs eine weitere Safariregel: Es komme eben nicht nur auf den Ort an, sagt er, sondern auch auf die Tageszeit: «Safari ist nichts für Langschläfer!» Dann rät er, wenigstens die Abenddämmerung zu nutzen, in der die Elche sich manchmal mitten durchs Dorf bis hinunter ans Wasser wagen. Gut möglich, dass man sie dann gleich vor den Blockhütten der Lodge erspähe. «Leider », fügt er an, denn auch Tom hält nicht besonders viel von den Tieren: Zu oft futtern sie seine Apfelbäume leer.
«Ihr müsst still sein»
Die Gäste lassen sich diese Chance nicht entgehen. Erwartungsvoll sitzen die Erwachsenen und die Kinder abends auf den Bänken, Bootsstegen und Steinbrocken am Ufer und sehen zu, wie sich die Dunkelheit über die Baumwipfel senkt. Die Mücken beginnen über dem Wasserspiegel zu tanzen, sanft plätschern die Wellen an die Felsen, die Sonne hinterlässt einen Streifen am Himmel. Und tatsächlich: Innert Minuten verwandelt sich die Idylle in einen Freilichtzoo. Kanadagänse wackeln über das Gras, ein rotgefiederter Robin landet auf einem Schiffmast, zwei Biber paddeln heran, ein Fischotter streckt seinen Kopf aus dem Wasser und vertilgt schmatzend einen Fisch, und dann taucht am gegenüberliegenden Ufer auch noch ein Schatten auf, tollt zu einem Felsen, verschwindet wieder im Wald – ein junger Schwarzbär, der sich für ein paar Sekunden zeigt. Nur die Elche, die bleiben aus. Aber auch das gehört zu einer Safari: Man sieht nicht immer das Tier, nach dem man eigentlich sucht. Aber hey: «Ein Schwarzbär!», wird Tom am nächsten Morgen sagen, «wer will schon einen Elch sehen, wenn er einen Bären haben kann?»
Michelle mag Elche immer noch. Die junge Kanadierin studiert Biologie, in den Semesterferien führt sie Touristen durch den Algonquin Park. Oder eher: auf einen seiner 2456 Seen. Dies ist Michelles erste Saison als Kanuführerin in dem riesigen Naturschutzgebiet, und sie ist jedes Mal aufgeregt, wenn sie einen Bullen oder eine Kuh am Ufer erspäht. «Manchmal», sagt sie, «höre ich sie auch nur grunzen. Elche machen so lustige Geräusche.»
Es ist ein kühler Morgen. Wolken haben sich über den Seen des Algonquin Parks zusammengezogen, bereits zeichnen die ersten Tropfen Ringe auf die Wasseroberfläche, die vierstündige Kanufahrt wird ein nasses Vergnügen werden. Aber das ist kein Hindernis für eine Safari, im Gegenteil. Die Chance, einen Elch zu sehen, sei bei Regen grösser als wenn es zu warm ist, sagt Michelle. Dann nämlich würden sich die Tiere ins schattige, kühle Waldgrün zurückziehen. Bevor es losgeht, legt die Kanuführerin noch eine Regel fest: «Ganz wichtig: Ihr müsst still sein», instruiert sie, «Elche haben ein feines Gehör. Und falls ihr einen seht: sofort aufhören zu paddeln. Das Geräusch vertreibt sie.»
Ein Pferd mit Buckel
Schweigend paddelt die Gruppe los, tief und tiefer in das Wasserlabyrinth des Algonquin Parks. Hin und wieder raunt Michelle einen Satz, weist auf blühende Seerosen oder einen seltenen Vogel hin. Dabei behält sie immer den Waldrand im Auge, um ja keinen Elch zu verpassen. Irgendwann wuchert das Ufer wie eine Wiese in den See, und das Sumpfgras verengt die Fahrtrinne zu einem schmalen Pfad. Stets gilt es, noch eine Insel zu umrunden, und dann noch eine. Der Regen prasselt inzwischen, die Arme schmerzen, und genau in dem Moment, in dem das Jammern beginnt und in dem man sich auch selber fragt, ob ein Elch im Tierpark nicht genauso imposant sein könnte wie in freier Natur, steht plötzlich einer da: Majestätisch ragt das Tier aus dem Sumpfgras, weit entfernt, aber grösser als gedacht, ein Pferd mit Buckel und Streichholzbeinen. Sofort ist die Anstrengung vergessen, Kameras werden gezückt, näher heran, nur näher heran, denkt jeder, fiebrig wie ein Grosswildjäger, und schon ist es passiert: Ein Paddel klatscht aufs Wasser, die Elchkuh hebt den Kopf, wittert, stakst mit langen, schnellen Schritten ans Ufer und verschwindet zwischen den Baumstämmen.
Infos
Die beschriebene Safari ist Teil einer individuellen Mietwagenrundreise mit dem Namen «Auf den Spuren der Elche», die nicht nur in die wunderschöne Natur der kanadischen Provinz Ontario führt, sondern auch in die Metropolen Ottawa und Toronto und an die Niagarafälle. Der Trip mit dem deutschen Reiseveranstalter Dertour beginnt und endet in Toronto, beinhaltet 11 Übernachtungen, Mietwagen, Bootsfahrten und Kanutour. Die Safari kostet ab 1046 Euro pro Person ohne Flug, Kinder bis 6 Jahre sind kostenlos, ab 6 bis 10 Jahren beträgt der Preis ab 195 Euro. Infos unter www.dertour.de
Informationen zu Ontario
Ontario Tourismus, www.ontariotravel.net/de Tel. 0049 89 689 06 38 37
Reisehinweise für Kanada
Infos beim EDA (Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten); Einreisebestimmungen erklärt z.B. auch die Fluggesellschaft Swiss
Auch wenn die Sichtung nur Sekunden gedauert hat: sie macht die Safari endlich zum Erfolg. Alle sind glücklich, und auf der Rückfahrt zum Hotel hat jeder ein Detail mehr entdeckt. Eindeutig ein Jungtier, behauptet einer und die andere fügt an, sie sei sicher, auch noch den Schatten eines Kalbes erspäht zu haben. Digitalbilder werden verglichen, Umrisse herangezoomt, dann hält der Bus mitten auf der Strasse. «Da vorne steht übrigens ein Elch», sagt der Fahrer ins Stimmengewirr hinein, vielleicht wolle ihn ja jemand sehen? Seelenruhig schaut das Tier den Autos zu, grast ein bisschen, blickt wieder auf, dann schreitet auch noch ein zweiter dazu. «Hat euch das denn niemand erzählt?», wird der Busfahrer später fragen. Natürlich könne man die Tiere tief in den Wäldern oder an einsamen Ufern suchen, sich Umrisse vorstellen, zur idealen Tageszeit und schweigend auf Pirsch gehen, aber: «Die meisten Elche sieht man gleich neben dem Highway. Weil sie hier das Streusalz auflecken, das vom Winter übrigbleibt.» Und so ist es der Busfahrer, der die letzte Regel auf dieser Reise verrät: Eine Safari endet nicht immer dort, wo man es erwartet.
Weitere Safaris zu Lieblingstieren
Murmeltiere im Bündnerland
Im Bündner Bregalgatal, auf 2000 Metern über Meer, kann man die Murmeltiere fast nicht verpassen. Ab der Postauto-Haltestelle Avers-Juppa führt ein drei Kilometer langer Murmeltierpfad hinauf zur Alp Bregala. Unterwegs erklären elf Lerntafeln die Lebensweise der pelzigen Tiere. Die Chance, hier ein paar Murmeltiere zu entdecken und zu hören, ist sehr hoch – ausser natürlich, wenn sie gerade Winterschlaf halten. Informationen und Broschüren gibts bei Avers Tourismus, Tel. 081 667 11 67, www.avers.ch und www.murmata.ch
Wale und Delphine am Mittelmeer
Ein einzigartiges Erlebnis wartet in der Strasse von Gibraltar. In der nur 14 Kilometer breiten Meerenge können Kinder und Erwachsene in ein- bis zweiwöchigen Kursen Wale und Delfine in Freiheit beobachten. Täglich fährt man ein bis zweimal mit einem speziellen Forschungsboot hinaus aufs Meer und entdeckt – mit etwas Glück – verschiedene Delfinarte und Grindwale. Die Sichtungsquote, so der Veranstalter, liegt bei grandiosen 98 Prozent. Die Kurse finden von April bis Oktober statt und kosten für Erwachsene ab 480 Franken, für Kinder bis 18 Jahre ab 380 Franken (ohne Unterkunft). Der Veranstalter firmm (Fondation for Information and Research on Marine Mammals) kann auch Bungalows und Hotels in Tarifa vermitteln. www.firmm.org
Affen am Bodensee
Zugegeben, ganz freilebend sind die Affen des Affenbergs Salem nicht – Safarigefühle kommen aber trotzdem auf. In einem rund 20 Hektaren grossen Waldstück tummeln sich über 200 Berberaffen. Hier kommen Kinder ganz nah an die Tiere heran, es gibt keine Gitter und Abschrankungen, und die Affen dürfen sogar mit Popcorn gefüttert werden. Ausserdem sieht man auch Störche und Damwild. Der Affenberg Salem ist von Mitte März bis Anfang November geöffnet. Der Eintritt kostet 8 Euro für Erwachsene, 5 Euro für Kinder ab 6 Jahren. Die Familienkarte gibts für 20.50 Euro. www.affenberg-salem.de
Steinböcke über Luzern
Auf dem Pilatus Kulm kann man eine Steinbock-Kolonie beobachten. Wer ganz viel über die geschickten Kletterer wissen will, bucht eine zweitägige Steinbock-Safari, bei der man im Hotel übernachtet und morgens um 7 Uhr mit einem lokalen Wildhüter loswandert. Die Touren finden von Mai bis Oktober einmal monatlich statt und kosten inklusive Übernachtung und Verpflegung ab 235 Franken pro Person (Kinderpreis auf Anfrage). www.pilatus.ch
Wildpferde im Tessin
Eigentlich sind es keine Wildpferde, sondern verwilderte Haflinger, die im Tessin galoppieren. Die Herde gehörte einem italienischen Bergbauern auf der Alpe Böcc am Monte Bisbino. Nach seinem Tod weiteten sie ihr Territorium immer weiter aus. Das führte zu Streite-reien mit den Bauern, die sich ärgerten, dass die Pferde ihr Gras frassen. Inzwischen sorgt die italienisch-schweizerische Associazione Cavalli del Bisbino für das Wohl der rund 20 Tiere. Wer sie sehen will, sucht am besten oberhalb von Chiasso nach ihnen: Während einer Wanderung an den Flanken des Monte Generoso. Und wie bei jeder Safari gilt auch bei dieser: Man sollte die Tiere, auch wenn sie zutraulich sind, nicht mit Futter anlocken. www.cavallidelbisbino.ch