Naturlager
Ich bin ein Indianer
Wie wird eigentlich aus einem Huhn ein schmackhaftes Poulet an Pilzrahmsauce? Mit einer solch existentiellen Frage ist ein Stadtkind selten konfrontiert. Mein Sohn ist ein Stadtkind, von Geburt weg. Das heisst, seine Naturerlebnisse erschöpfen sich im Berühren von Nacktschnecken und in einem anekdotisch verwertbaren Ausrutscher auf einem Kuhfladen. Jetzt, an der Schnittstelle zwischen Kindheit und Pubertät, grillt er gerne Poulets auf Holzkohle. Wie also wird aus einem Huhn ein Poulet?
Etwas ausserhalb des Lagerplatzes stossen wir zufällig auf Andres Marbach – er ist zuständig für die Metamorphose. Normalerweise wird den Kindern im Lager das Töten der Hühner nicht zugemutet – heute gibt es eine Ausnahme. Mein Sohn gesellt sich zu den drei Buben, die neben einer Kartonkiste kauern, und harrt des Initiationsrituals, das da kommen mag. Ein Junge, der ein Mann werden will, flieht nicht angesichts des Todes.
Erde, Lehm, Schmutz
Koch und Lagerleiter Andres hebt nun das erste von vier braun-weiss gefiederten Hühnchen aus der Kiste. Er schliesst die Augen und drückt das Tier eine halbe Minute lang schweigend an seine muskulöse Brust. Abschied und Danksagung. Dann fasst Andres das Federvieh an den Beinen, schwingt es mit gestrecktem Arm im Kreis, erst langsam, dann schneller. Das sich im Kopf stauende Blut betäubt das Huhn. Den schlaffen Körper legt Andres auf einen Baumstrunk und schlägt mit der stumpfen Kante eines grossen Messers gezielt aufs Genick. Die Beinchen versteifen einen Moment lang, lösen sich, und das Hühnchen vollführt von Nervenzuckungen befeuert seinen letzten, flatternden Tanz. Mein Sohn hält sich die Ohren zu. Nachdenklichkeit steht in sein Gesicht geschrieben. Da ist sie, die sinnlich erfahrene Einsicht, dass Fleisch essen und Tiere töten zusammengehören.
Seit vier Tagen erproben 40 Mädchen und Buben im Alter zwischen 7 und 11 Jahren das Leben ausserhalb der Zivilisation. Sie wohnen in Indianerzelten auf einer beschaulichen Lichtung im Bündner Bergwald, kochen auf dem Feuer Kräuter-Risotto, basteln Traumfänger, schleifen Specksteine zu Amuletten und robben getarnt mit Lehm und Erde durchs hohe Gras. Abends kuscheln sie sich in ihre Schlafsäcke in einem der Tipis. Das Glück hat hier schmutzige Gesichter und schwarze Ränder unter den Nägeln.
Gut gerüstet
1. Voraussetzung für die Teilnahme an einem Ferienlager ist, dass sich das Kind zutraut, eine Woche lang getrennt von den Eltern zu verbringen. Sprich: Es sollte schon öfters bei den Grosseltern oder Freunden übernachtet haben.
2. Selbst indianische Beschwörungsformeln können das Wetter nicht wirklich beeinflussen. Wer in der Natur Ferien macht, muss auch mit Dauerregen rechnen. Kinder sind launischem Wetter gegenüber zwar kulant, wichtig sind dennoch wasserdichte und warme Kleidung und Gummistiefel.
3. Eine gewisse Selbstständigkeit ist von Vorteil. Und Kinder, die nicht ein Minimum an Dreckresistenz mitbringen, leiden in der Natur- schule.
4. Ein Holzsplitter im Finger, aufgeschlagene Knie – im Wald kann sich ein Kind auch mal eine kleine Verletzung einfangen. Deshalb vor Reiseantritt überprüfen, ob der Tetanus-Impfschutz aufzufrischen ist.
Eines fällt auf: Die Kinder gehen ihren Beschäftigungen zufrieden, fast kontemplativ nach. Sie scheinen die städtische Hektik abgestreift, den reizüberfluteten Alltag hinter sich gelassen zu haben. «Das Leben hier draussen an der frischen Luft besänftigt die Seelen», sagt Yvonne Fiordimondo, Naturpädagogin, Lagerleiterin und Mutter von vier Kindern. Selbst Mädchen und Jungen mit ADHS würden in der Lagerwoche deutlich ruhiger.
Vielleicht ist die städtische Unruhe ja einfach eine «Natur-Defizit-Störung», wie sie der viel beachtete amerikanische Naturpädagoge Richard Louv in seinem neuen Buch, «Das letzte Kind im Wald?», beschreibt. Eine mangelnde Verbundenheit mit der Natur schade den Kindern, und es sei nicht abzusehen, welch psychologischen, seelischen und physiologischen Konsequenzen der Naturverlust habe. Kinder brauchen mehr Natur. Das sagte sich auch Simon Hasler, Organisator und Lagerleiter der Tipi-Wochen hier im bündnerischen Feldis. Und gründete deshalb vor acht Jahren die Naturschule Woniya.
In wetterfesten Kleidern, das Gesicht gegerbt von Sonne und Wind, sitzt der 34-Jährige jetzt im grossen Versammlungs-Tipi am Lagerfeuer, die langen Beine zum Schneidersitz verschränkt. Und erklärt, weshalb es für Kinder so lehrreich und wichtig sei, sich eine Woche unter freiem Himmel aufzuhalten: «Sie erleben sich als Teil der Natur und machen konstruktive Grenzerfahrungen.»
Natur-Defizit-Störung
Selber aus Bündnerholz geschnitzt, strahlt Simon die Klarheit und Unbeugsamkeit einer hohen, schlanken Tanne aus. Den Ökonomen sieht man ihm nicht mehr an, ein angefügtes Sozialpädagogikstudium befreite ihn vom Nadelstreifenanzug.
Kinder brauchen also die Natur – ebenso gelte der Umkehrschluss, sagt Simon: Die Natur braucht auch die Kinder. Denn sie sind die Umweltschützer von morgen. «Nur wer die Natur mit allen Sinnen erfährt, geht auch als Erwachsener respektvoll mit ihr um.»
Doch manchmal muss sich die Natur einfach brachial erobern lassen. Federnd bleibt der Pfeil im Hals des Rehs stecken – Volltreffer! Mein Sohn reisst die Arme zur Siegerpose hoch, das Reh macht keinen Wank. Kein Wunder, es ist aus Schaumstoff. Und steht auf einer Wiese zwischen Wildschweinen, Hasen, Enten. Der Bogenparcours ist eines der Lieblingsspiele der Kinder, da pocht das Indianerherz. Auf einem schmalen Pfad schleichen sie dem Waldrand entlang, spannen so leise als möglich den Bogen und lassen den Pfeil loszischen. Und wollen mit der Jagd nicht aufhören, bis die Abenddämmerung die Sicht auch für die schärfsten Adleraugen schluckt.
Mit fast nichts überleben
Eigentlich mag auch Gian (8) das Bogenschiessen. Heute aber will sich das schwere Gefühl auf der Brust des Jungen mit keinem Abenteuerangebot vertreiben lassen. Er hat Heimweh. Auch das gibt es im Camp, die Leiter sind gewappnet. Wenn alles gute Zureden nichts nützt, rufen sie die Eltern an, die ihre kleinen Indianer dann halt schon vor Lagerende nach Hause holen.
Den meisten Kindern aber gefällts – auch dann, wenn es ans Eingemachte geht. Wer möchte, darf jetzt die Hühner rupfen und ausnehmen. Es sind vielleicht 15 Kinder, die beim Ausschlachten dabei sein wollen. Die Gruppe entpuppt sich als wahres Studienfeld für Geschlechterforschung: Denn es sind in erster Linie die Jungen, die sich auf die toten Hühner stürzen, sie mit heissem Wasser übergiessen, ihnen die Federn aus der weissen Haut zupfen und den Kopf abschlagen wollen. «Igitt, isch das gruusig!», ruft Lea (11). Sie steht mit den andern Mädchen sicher in der zweiten Reihe. Darauf öffnet Koch Andres mit einem scharfen Messer den Hühnerbauch und zeigt den Kindern, wie man die Innereien säuberlich und mit einem einzigen Handgriff aus der Bauchhöhle holt. Die Jungs schälen fasziniert die grünen, gelben, violetten und weissen Organe heraus, über die Eier in jedem Reifestadium sind alle verblüfft.
Die Mädchenrunde formiert sich erst später um Andres: Beim Fleisch zerteilen, Pilze schneiden und Zubereiten der Rahmsauce. Ein Nachtessen wie aus einer Gourmet-Küche.
Lagerleiter Simon schöpft sich eine eines Häuptlings würdige Portion auf seinen Holzteller. Diesen und den Holzlöffel fertigte er nach uralter Indianerart selber. Denn wer wie ein Indianer leben will, muss deren Kulturtechniken beherrschen. Solche lernte Simon in Kursen an der Tom Brown’s Tracker School in Amerika. Indianische Philosophie und Fährtenlesen standen ebenso auf dem Programm wie Überlebenstechniken. Einmal während der Ausbildung streifte Simon vier Tage und Nächte lang allein durch die Wälder, ausgerüstet nur mit einem Messer und einem Stückchen Schnur. Das wärmende Feuer entfachte er mit Feuerbohren, mit Brennnesseln und Heidelbeeren stillte er den Hunger. «Es war ein gutes Gefühl, mit fast nichts zu überleben.»
Simon ist zwar beseelt davon, den Kindern und Jugendlichen im Lager ein Stück weit das Lebensgefühl alter indianischer Kulturen zu vermitteln. Ideologisch überhitzt aber wirkt er nicht. Und auch der pädagogische Zuckerguss bleibt aus. So sollen die Mädchen und Jungen kein weltfremdes Gedankengut mit nach Hause nehmen, sondern auch ganz Konkretes und Brauchbares lernen: Giftige von heilenden Kräutern unterscheiden, sich dem Wetter entsprechend anziehen, das Geschirr abwaschen und das Konfi-Brötli zum Frühstück selber streichen. Für viele der jüngeren Kinder keine Selbstverständlichkeit.
Mein Asphaltkind, realisiere ich mittlerweile, ist durchaus fähig, ein bisschen Natur zu ertragen. Auch die vorgängige Sorge wegen sanitär ungenügender Einrichtung hat sich bald zerschlagen. Denn die zwei Holzhäuschen mit Plumpsklo, ausstaffiert mit weissen WC-Sitzen und zartweichem Toilettenpapier, stehen wie Throne inmitten der Natur. Gegen den scharfen Salmiak-Geruch halten wir uns einfach die Nase zu. Die olfaktorischen Sinneseindrücke sind dennoch nachhaltig: Mein Sohn und ich kehren aus den ewigen Jagdgründen als zwei glückliche Rauchwürste ins Unterland zurück.
Ferien im Tipi
Simon Hasler, der Organisator der Naturschule Woniya, bietet Kindern von 7 bis 11 Jahren die Erkundung der Bündner Wildnis. 5 Nächte dürfen die jungen Indianer in einem traditionellen Tipi-Zelt schlafen und 6 Tage lang durch die Natur streifen, mit Pfeil und Bogen schiessen, auf dem Feuer kochen, Spuren suchen und Traumfänger basteln. In Begleitung ausgebildeter Lagerleiterinnen und -leiter. 2012 finden zwischen dem 2. Juli und 18. August wieder mehrere Lager für Kinder und Jugendliche statt. Kosten für das Kinderlager: CHF 390.– (Geschwister ab 2. Kind CHF 360.–). Frühzeitig reservieren!
Infos und Anmeldung unter www.naturschule-woniya.ch, Tel. 081 630 06 18