Erziehung
Heute schon verwöhnt?
Eine kleine Umfrage unter Eltern: «Hast du den Eindruck, du verwöhnst dein Kind?» – «Ich? Nein!», sagt die Freundin halb belustigt, halb entrüstet. «Höchstens wenn die Kleine krank ist oder so.» «Sicher nicht!» ist auch der Kollege von sich überzeugt. «Unsere Kinder kriegen schliesslich nicht immer das, was sie sich gerade in den Kopf gesetzt haben.» «Ja», sagt hingegen eine langjährige Erzieherin, die seit fünfzehn Jahren mit Kindergartenkindern arbeitet und selbst zweifache Mutter ist. «Die Kleinen sind heute viel verwöhnter. Oder anders gesagt: Eltern trauen ihnen weniger zu. Beim Spazieren sind Fünfjährige schon nach wenigen Schritten k.o., weil sie das Laufen nicht mehr gewohnt sind. Einige bringen tatsächlich den Schnuller mit in den Kindergarten – was vor zehn Jahren undenkbar gewesen wäre. Sogar sich selbst die Jacke anziehen, schaffen viele nicht.»
Sprachgeschichtlich kommt «Verwöhnen» vom mittelalterlichen Wort «verwenen», was bedeutet: in übler Weise an etwas gewöhnen. Bezogen auf Kinder ist damit meist ein Verhätscheln gemeint, was zur Verweichlichung führt. So würde sich zumindest Albert Wunsch ausdrücken. Der Erziehungswissenschaftler ist im deutschsprachigen Raum so etwas wie der Anti-Verwöhn-Papst (siehe Interview). «Ist es immer liebevoll, wenn Eltern beim kleinsten Mucks ein Kind hoch nehmen?», fragt er. «Ist es fürsorglich, einem Jugendlichen den Start durch den Tag durch Bereitlegen aller wichtigen Sachen zu erleichtern, weil sonst Wichtiges vergessen gehen könnte?» Verwöhnen, das ist seiner Meinung nach eine Mischung aus falschem Helfen, fehlender Herausforderung und ausbleibender Begrenzung – oft eingeleitet von der Grundhaltung «ich mach das für dich». Wenn etwa die Mutter ihrem 3-Jährigen die Mütze aufsetzt, anstatt ihm zu zeigen, wie er es selbst machen könnte. Oder wenn der Vater die vermeintlich zu schweren Matheaufgaben für seine Tochter erledigt, anstatt ihre Eigenkräfte zu aktivieren, sodass sie die Situation selbst lösen könnte. Oder die telefonierende Mutter, die das störende Kind nur halbherzig zurechtweist, anstatt eine klipp und klare Ansage zu machen.
Verwöhnung verhindert Interesse und Ausdauer
Wer also häufig für sein Kind handelt, es zu lange füttert, anzieht, ihm die Spielutensilien wegräumt, bei Konflikten sofort Partei für das eigene Kind ergreift, der schützt seinen Nachwuchs nicht, sondern macht ihn schutzlos. Denn Verwöhnung beginnt, wo die Herausforderung ausbleibt und verhindert Interesse, Neugier, Ausdauer und Zielstrebigkeit. Oder wie es Albert Wunsch formuliert: «Die Verwöhnung ist das Schlimmste, was einem Kind angetan werden kann. Sie ist ein Verbrechen, weil die Kraft und der Lebensmut des Kindes gebrochen werden.»
Wo aber verläuft die Grenze zwischen liebevoller Zuwendung und ungutem Verhätscheln? Wann gebe ich Geborgenheit und Sicherheit? Und wann werden meine Ängste, wird meine Liebe erdrückend? Für Guy Bodenmann, Professor am Psychologischen Institut der Uni Zürich mit Schwerpunkt Kinder/Jugendliche und Paare/Familien, ist in diesem Zusammenhang wichtig, wie viel Grenzen und Struktur Eltern geben. Dazu gehört ein konsistentes Erziehungsverhalten: Wird eine Regel aufgestellt, muss sie eingehalten werden. In seiner Beratungstätigkeit erlebt der Psychologe oft, dass Eltern gegenüber ihrem Kind nicht konsequent sind – dass etwa ein an Bedingungen geknüpftes Snowboard unabhängig von deren Einhaltung geschenkt wird. «Dies ist ebenfalls eine Form der Verwöhnung», so Bodenmann. Schon im Säuglingsalter machten Kinder ihre ersten Kausalitätserfahrungen, lernten: «Wenn ich weine, kümmert sich jemand um mich.» Diese elementare Kontingenzerfahrung, «Ich habe Einfluss auf die Umwelt», sei enorm wichtig für die Ausbildung des Selbstbewusstseins, so der Psychologe. Einem verwöhnten Kind fehle jedoch diese Erfahrung; wenn es etwas bekomme, ohne die Bedingungen dafür erfüllt zu haben, erlebe es Konsequenzen als von seinem Verhalten unabhängig. Oft entwickelten diese Kinder später psychische Auffälligkeiten.
Wichtig findet Bodenmann auch, dass Eltern lernen, die tatsächlichen Bedürfnisse ihres Kindes wahrzunehmen – zu erkennen: «Was braucht es wirklich?» – und darauf angemessen zu reagieren. Vielleicht will das Baby gerade gar nicht rumgetragen werden, sondern endlich in Ruhe in seinem Bett einschlafen dürfen, und weint deshalb.
Elterliche Bequemlichkeit
Tatsächlich spielt beim Verwöhnen die eigene elterliche Bequemlichkeit eine nicht zu unterschätzende Rolle: Wenn sich die Fünfjährige morgens weigert, sich anzuziehen, obwohl sie es alleine könnte, liegt es einfach nahe, dass man als Elternteil schnell selbst zur Tat schreitet – und damit den Weg des geringsten Widerstands wählt, um endlose Diskussionen und Verspätungen in Kindergarten und Job zu vermeiden. Ist das aber dann schon verwöhnen? Ja, würde die eingangs erwähnte Erzieherin sagen. Auf jeden Fall, fände Albert Wunsch.
Besonders gerne und im klassischen Sinne werden Kinder von Grosseltern verwöhnt. Ausserdem nach akuten Krankheiten oder bei starken Konflikten in der Familie oder im sozialen Umfeld. Auch in Situationen, wenn sich Eltern von ihrer besten Seite zeigen wollen, sich kritisch beobachtet oder unter Zeitdruck fühlen. Kurz: Immer dann, wenn eine Situation als druckvoll erlebt wird, neigen wir dazu, uns diesen unangenehmen Anforderungen zu entziehen.
Nur das Beste für das Kind
Die zu Anfang nach ihren Verwöhngewohnheiten befragten Eltern kommen ins Grübeln: «Dies alles ist schon verwöhnen?» Bei einem Spielplatzbesuch sticht einem plötzlich vieles ins Auge: Eltern überbieten sich geradezu mit ihren Ängsten: «Pass auf!» – «Nicht so hoch!» – «Nicht so schnell!». Eilen rasch mit den passenden Globuli aus der stets mitgeführten Kinderapotheke herbei, sobald sich der Junior ein wenig am Klettergerüst gestossen hat. Und stehen selbstverständlich selbst für kurze Spielplatzbesuche mit einem ansehnlichen Buffet aus Apfelschnitzen und Vollkornkeksen parat. Was sie alle eint: Sie meinen es nur gut, wollen nur das Beste für ihr Kind.
Erziehung heute, das bedeutet nicht zuletzt: Es gibt kein festes Regelwerk (mehr), an dem sich Eltern orientieren können. Stattdessen verlassen wir uns auf unser Gefühl: stillen Babys nach Bedarf und nicht exakt nach 4 Stunden. Und gestehen einem 3-Jährigen selbstverständlich zu, nicht plötzlich sauber sein zu müssen, sondern die Windel noch zu tragen. Schliesslich ist alles irgendwie Verhandlungssache geworden. Aber gerade dies macht es auch so schwer, das richtige Mass zu finden: Wann muss ich meinem Kind helfen und wann überbehüte ich es? «Unbewusst kennt man als Eltern oft den richtigen Weg, hat aber nicht die Energie oder die zeitlichen Ressourcen dafür», sagt Psychologe Bodenmann. «Es geht deshalb nicht nur um die Frage, zu wissen, wie man es richtig macht, sondern um die Kraft, dieses Wissen umzusetzen.»
«Im Prinzip ist es doch ganz einfach», findet jene Erzieherin mit 15-jähriger Arbeitserfahrung: «Man sollte nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig für sein Kind da sein.»
Verwöhnfallen
Was ist das richtige Mass an Zuwendung und Fürsorge? Beispiele aus dem Alltag mit Anti-Verwöhn- Tipps für jedes Alter:
- Kleinkindalter
Ständig etwas Essbares im Mund. Kaum der Brust oder der Schoppenflasche entwöhnt, trifft man Kleinkinder nur noch mit Reiswaffel, Bisquit oder Apfelschnitz zwischen den Zähnen an. Ohne Dauerversorgung verhungern die Kleinen scheinbar. Oder wird so einfach nur ihr Quengeln übertönt? Experten jedenfalls raten: Auch der kindliche Stoffwechsel sollte in Ruhe seiner Arbeit nachgehen können, ohne ständig Nachschub verarbeiten zu müssen. Zudem lernen Kinder sonst nicht, zwischen Hunger und satt sein zu unterscheiden.
- Dreijähriges Kind
Fortbewegung im Kinderwagen. Zugegeben, man kommt deutlich schneller voran, wenn der 3-Jährige im Kinderwagen sitzt. Aber ist das auch in seinem Interesse? Nicht umsonst beklagen Kindergärtnerinnen heute, dass 5-Jährige beim Spazierengehen schon nach wenigen Schritten die Puste ausgeht, weil sie das Laufen nicht gewohnt sind. Deshalb: Den Buggy einfach mal stehen lassen und üben! Am besten kleine, ablenkende Attraktionen auf dem Weg einbauen (Steine sammeln, Geschichten erfinden, alle roten Autos zählen), dann geht es leichter.
- Kindergarten-/Vorschulalter
Anziehen nur mit Papas Hilfe. Wo müssen beim Pulli die Arme reingesteckt werden? Wo ist bei der Unterhose hinten und vorne? Anziehen ist für Kinder eine anspruchsvolle Aufgabe. Und bei manchen Knacknüssen (Strumpfhose!) sind sie auch noch länger auf elterliche Unterstützung angewiesen. Ansonsten aber gilt: Im Vorschulalter können die Kleinen das Anziehen nach und nach lernen – sofern die Grossen sie machen lassen.
- Primarschulalter
Streit mit Gleichaltrigen – Mama schlichtet. Ein Schulkollege hat den Sohn beleidigt, die eben noch beste Freundin zieht über die Tochter her – und Mama greift instinktiv zum Telefon, um den Eltern der Übeltäter ihre Meinung zu sagen. Anstatt sich mit ihren Kindern zu besprechen, wie sie sich verhalten könnten, mischen sich verwöhnte Eltern in Streitigkeiten ihres Nachwuchses mit Gleichaltrigen ein, die diese auch gut hätten alleine lösen können.
- Schulalter
Klavier üben macht keinen Spass? Sofort vom Unterricht abmelden. Das Fussballtraining ist zu anstrengend, Klavier üben zu mühsam, Ballett zu langweilig. Dies mag womöglich alles zutreffen. Doch nur mit Durchhaltevermögen erfahren Kinder, dass es sich auszahlt, dran zu bleiben und sie – bestenfalls – mit sportlichem Erfolg oder Spass an der Musik belohnt werden. Bei Unlust deshalb noch ein paar Wochen abwarten und – falls die Motivation tatsächlich am Boden bleibt – erst dann den Unterricht kündigen.