Pflegefamilien
Grosseltern und Pflegeeltern in einem
Etwa 19'000 Kinder in der Schweiz leben nicht bei ihren leiblichen Eltern, darunter der dreijährige Luis. Er wächst seit zwei Jahren bei seinen Grosseltern auf. Die Behörden haben diese als Pflegeeltern bewilligt. Wie Buchers (Symbolbild) das ungewöhnliche Familienleben meistern.
Rrrums. Das kleine Flugzeug knallt zum dritten Mal auf den Tisch. «Luis, hör auf!», sagt Opa Peter Bucher*. Der Dreijährige grinst seinen Grossvater an, hebt den Arm für einen neuen Versuch, lässt das Flugi dann aber sinken. Seit seinem ersten Geburtstag lebt der aufgeweckte Bub mit den dunklen Haaren bei Corinne und Peter Bucher. Sie sind seine Grosseltern. Und gleichzeitig auch die Pflegeeltern.
«Eigentlich haben wir Luis fast seit Geburt aufgezogen», sagt Corinne Bucher, während sie ihrem Enkel einen Papierflieger faltet. «Seine leiblichen Eltern waren von Anfang an überfordert.» Corinnes Sohn, damals 24 Jahre alt, und dessen vier Jahre jüngere Freundin kannten sich erst kurz, als sie einen positiven Schwangerschaftstest in den Händen hielten. An Luis’ erstem Geburtstag stand Corinnes Sohn dann mit dem Kleinen vor der Tür. «Er war am Boden zerstört, seine Freundin hatte einen anderen. Da haben wir die beiden aufgenommen.»
Was als kurzfristige Lösung gedacht war, wird rasch amtlich: Weil die Mutter von Luis seit Kindertagen IV-Rente bezieht und einen Beistand hat – aus Gründen, die die Grosseltern nicht kennen – schaltet sich die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) ein. «Mein Sohn hätte sich nicht um den Kleinen kümmern können», sagt Corinne Bucher, «er muss erst sein Leben auf die Reihe bekommen, Luis’ Mutter schafft es auch nicht.» Die zur Auswahl stehenden Alternativen waren schnell klar: «Heim, eine fremde Pflegefamilie oder wir», fasst Peter Bucher zusammen. Mussten die Grosseltern lange überlegen? «Keine Sekunde», sagt er. Auch Luis’ Eltern willigten ein – zur freiwilligen Dauerpflege ihres Nachwuchses bei den Grosseltern.
Ein Kind zur Pflege aufnehmen
♦ Potenzielle Pflegeeltern sollten Zeit und Freude haben am Zusammenleben mit Kindern. Es muss ihnen bewusst sein, dass es eine für das Kind wichtige Ursprungsfamilie gibt. Diese gilt es wertzuschätzen – selbst wenn in der Vergangenheit nicht alles gut lief.
♦ Fremdplatzierung als letzte Lösung: Kinder, die eine Pflegefamilie brauchen, kommen meist aus mehrfach belasteten Familien. Sie wurden vernachlässigt, haben seelische/körperliche Gewalt erfahren oder ihre Eltern können aufgrund psychischer Krankheiten/Suchtprobleme nicht für sie sorgen.
♦ Wer ein Kind zur Pflege aufnehmen möchte, braucht eine Bewilligung vom Kanton und wird regelmässig kontrolliert.
♦ Pflegeeltern haben Anspruch auf finanzielle Entschädigung. Diese variiert von Kanton zu Kanton.
♦ Dauer: Neben langfristigen Platzierungen gibt es Wochenend- und Ferienplatzierungen. Ein Kind ist nur so lange fremdplatziert, bis es wieder zu seinen Eltern kann.
♦ Infoanlässe für Interessenten veranstaltet PACH Pflege- und Adoptivkinder Schweiz oder Familienplatzierungsorganisationen wie Familynetwork.
Kein Anspruch auf den Enkel
In der Schweiz leben etwa 19'000 Kinder unter 15 Jahren nicht bei ihren leiblichen Eltern. Die meisten sind in Institutionen untergebracht, rund 5000 bei Pflegefamilien, davon etwa ein Drittel bei Verwandten. Da aber viele Pflegeverhältnisse in der Verwandtschaft nicht gemeldet sind, dürfte die tatsächliche Anzahl höher sein. Generell haben Grosseltern keinen Anspruch auf ihre Enkel – umgekehrt aber auch keine Verpflichtungen im rechtlichen Sinn. Dies gilt auch für Tanten, Onkel, Geschwister, Götti und Gotte. Grosseltern werden bei einer sogenannten Platzierung also nicht bevorzugt. «Sind sie jedoch bereit und in der Lage, lehnt eine Behörde nicht ohne Not ab», sagt Christoph Häfeli, emeritierter Professor und ehemaliger KESB-Berater. Grosseltern springen in der Regel ein, wenn der Babysitter nicht kann, stecken Enkeln Süsses zu und loben für Dinge, die für Eltern selbstverständlich sind. Solche Verwöhngrosseltern können Corinne und Peter Bucher nicht sein. Sie müssen auch mal schimpfen und Grenzen setzen, kurz: den Spagat schaffen zwischen Eltern- und Grosselternerziehung. «Natürlich hatten wir uns das anders vorgestellt», sagt Peter Bucher. «Wir wollten den Kleinen höchstens ab und zu übers Wochenende nehmen. Aber nun ist es eben so.»
Den Kontakt zur Mutter halten
Luis’ Vater lebt mittlerweile ein paar Strassen weiter und schaut oft bei seinem Sohn vorbei. Eineinhalb Tage die Woche verbringt der Bub bei seiner Mutter, die im selben Ort im Kanton Solothurn lebt. Jede zweite Woche übernachtet er bei ihr. «Damit der Kontakt nicht abreisst», sagt Corinne Bucher. Sie findet das gut. Manchmal sei Luis danach ziemlich durch den Wind und es dauere ein paar Tage, bis er wieder durchschlafe.
«Mami!», ruft Luis, zupft Corinne Bucher am Ärmel, verbessert sich aber rasch: «Oma!» Er will mit ihr endlich den Papierflieger testen. Ein grosses, helles Kinderzimmer haben seine Grosseltern für ihn eingerichtet, mit Rennauto-Bett, Spielteppichen und jeder Menge Spielsachen. «Ich denke nicht, dass Luis schon weiss, wer sein Mami ist», sagt Corinne Bucher. «Aber wir achten auf die richtige Bezeichnung.» Manchmal hingegen glaubt sie, er versteht doch mehr: «Vielleicht ist er deshalb so anhänglich und will immer überall dabei sein. Es ist ja schon ein ziemliches Hin und Her.» Das Verhältnis mit seinen Eltern sei «im Prinzip okay», sagt sie diplomatisch. «Aber natürlich gibt es auch mal Stress.»
Pflegeeltern: Rechte und Pflichten
Für Grosseltern, die ihre Enkel in Pflege haben, gelten die gleichen Rechte und Pflichten wie für alle Pflegeeltern. Im Fall von Corinne und Peter Bucher hat die KESB zur Unterstützung ausserdem die Familienplatzierungsorganisation Familynetwork eingeschaltet. Bei dieser müssen die beiden einen Kurs für Pflegeeltern absolvieren, ausserdem besucht eine Familienbegleiterin der Organisation die Familie mindestens einmal im Monat.
Genauso oft müssen die Grosseltern protokollieren, was Luis alles erlebt, neues gelernt und wie oft er seine Eltern gesehen hat. Weil sie Pflegegeld bekommen, gilt es ausserdem in einem Haushaltsbuch aufzulisten, was sie für ihren Enkel ausgeben. «Für diesen Papierkram brauche ich jeweils einen kompletten Tag», sagt Corinne. «Es wird einem nicht gerade leicht gemacht, die Pflege für seinen Enkel zu übernehmen.»
Leibliche Eltern haben Sorgerecht
Hinzu kommt: Die Entscheidungsbefugnis von Pflegeeltern ist relativ klein. Sie können zwar über alltägliche Dinge bestimmen wie Bettzeiten oder den Menüplan. Doch das Sorgerecht bleibt bei den leiblichen Eltern, alle wegweisenden Entscheidungen fällen sie. Für Corinne und Peter Bucher heisst das: Gehen sie mit Luis zum Arzt, müssen sie sich vorher mit Beiständen und Eltern absprechen.
Dasselbe gilt, wenn sie mit ihrem Enkel übers Wochenende verreisen wollen, selbst wenn es nur innerhalb der Schweiz ist. «Das ist manchmal zermürbend», sagt Peter Bucher. So konnten sie sich zwar eigenständig zum MuKi-Turnen anmelden, aber dass Luis an zwei Vormittagen eine Spielgruppe besucht, was Corinne Bucher mehr Zeit zum Arbeiten lässt, ging nur mit Einverständnis der Eltern.
Corinne und Peter Bucher sind sehr junge Grosseltern, 47 und 44 Jahre alt, beide berufstätig – er als Gerüstbauer, sie als Reinigungskraft. Im MuKi-Turnen fällt nicht auf, dass hier Oma und Opa mitturnen. Dabei ist es schon eine Weile her, dass Corinne Bucher mit einem Dreijährigen durch Turnhallen sprang. Sie wurde mit 17 Jahren das erste Mal Mutter, hat drei Kinder grossgezogen und die Zeiten mit einem trotzenden Kleinkind lange hinter sich. Auch Peter Buchers Sohn aus einer früheren Beziehung ist erwachsen. Die Reaktionen aus dem Umfeld waren denn auch gemischt. Neben: «Toll, dass ihr das macht!», hörten sie: «Wollt ihr euch das wirklich nochmal antun?»
Nähe kann Problem werden
Freunde haben sie jedoch keine verloren, seit sie nochmal Eltern geworden sind. «Im Gegenteil, die haben sich eher uns angepasst», sagt Peter Bucher lachend. Im Sommer treffen sie sich oft an der Emme zum Grillieren. «Das war schon immer so –auch Luis liebt es, am Wasser herumzutoben.» Häufig gesellt sich Peter Buchers Arbeitskollege mit gleichaltrigem Sohn hinzu. Und wenn Luis jeden zweiten Freitag bei seiner Mutter übernachtet, können die Grosseltern in den Ausgang.
Ein Pflegeplatz in der eigenen Familie hat viele Vorteile, denn im Idealfall wird das Kind nicht völlig aus seinem Umfeld gerissen. Doch die Nähe kann auch zum Problem werden, weiss der ehemalige KESB-Berater Christoph Häfeli: «Die Beziehung zwischen leiblichen Eltern und Grosseltern ist nun mal konfliktanfälliger als zwischen Fremden, gerade wenn es um Erziehung geht.»
Noch grösser sei das Konfliktpotenzial bei behördlichen Platzierungen, wenn die leiblichen Eltern also nicht zustimmen. «Für manche ist es eine zusätzliche Kränkung, ihr Kind nicht behalten zu dürfen, während es den Grosseltern zugetraut wird», so der Experte. «Sie akzeptieren eher eine Platzierung im Heim.»
Es gelte auch darauf zu achten, dass sich Grosseltern mit der Pflegschaft ihrer Enkel nicht überfordern – vor allem im fortgeschrittenen Alter. Ein Aspekt, der bei Luis’ jungen Grosseltern vernachlässigbar ist. Noch einmal die Schulzeit mit einem pubertierenden Halbstarken durchleben? «Das kann uns nicht schrecken, wir sind ja noch jung und knackig», sagt Peter Bucher und grinst. «Naja», sagt seine Frau, «abends fallen wir schon erschöpft auf die Couch – als meine Kinder klein waren, war ich nicht halb so müde.» Andererseits halte Luis jung. «Die meisten meiner Freunde wissen nicht, was Lego Ninjago oder Cars ist», sagt Corinne Bucher mit einem Lachen: «Ich schon.»
Schlaflose Nächte hat sie höchstens wegen etwas anderem: «Es wäre verdammt schwer, würde Luis eines Tages nicht mehr bei uns wohnen.» Konkrete Anzeichen dafür gibt es allerdings nicht. «Dazu bräuchte mein Sohn erst einen sicheren Job und eine stabile Partnerschaft», sagt Corinne. Luis' Mutter ist wieder schwanger mit Zwillingen, die in diesen Tagen auf die Welt kommen. Ob es dann mit Besuchstagen bei ihr weitergeht, wissen die Grosseltern nicht. «Wir müssen halt flexibel bleiben», sagt Peter Bucher, während er mit Luis den Papierflieger durch die Stube gleiten lässt. «So, wie bisher auch.»
Namen der Familienmitglieder geändert
Einst Redaktorin beim «Tages-Anzeiger», später Korrespondentin in Shanghai, schreibt Kristina Reiss heute als freischaffende Journalistin leidenschaftlich über den Mikrokosmos Familie. Dabei interessiert sie sich für alles, was Menschen bewegt – ihre Wünsche, Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen.