Erziehung
Gesunder Ehrgeiz beim Kind
Wie erreiche ich, dass mein Kind für etwas brennt und dran bleibt? Und was tun, wenn es übertriebene Ambitionen mit perfektionistischen Zügen entwickelt?
«Wünscht ihr eurem Kind eigentlich eine ordentliche Portion Ehrgeiz?», fragte der junge Vater auf dem Spielplatz, während er den Kinderwagen mit dem Neugeborenen schaukelte. «Auf jeden Fall», antwortete die Mutter, die gerade ihren Einjährigen wickelte. «Ohne gesunden Ehrgeiz kommt man nicht weit!» «Aber Karrieristen sind doch unsympathisch und empathielos!», gab die Säuglingsmutter zu bedenken. Eine hitzige Diskussion entbrannte zwischen Klettergerüst und Sandkasten. Schliesslich einigten sich die Erwachsenen: Mit Ehrgeiz könne man es zwar übertreiben, aber grundsätzlich sei es gut, wenn Kinder eine gewisse Portion davon mitbekommen.
Tatsächlich ist Ehrgeiz, noch dazu bei Kindern, ein sehr ambivalentes Thema: Ehrgeiz kann einerseits antreiben und Energie frei setzen, andererseits aber auch blockieren. Doch woher kommt dieser Antrieb? «Generell ist der Wunsch, über sich hinaus zu wachsen, schon ganz früh in uns verankert», sagt Jolanda Hohl im Videocall. Sie ist Primarlehrerin sowie Lern- und Familiencoach mit eigenem Lernatelier in Oeschgen im Fricktal (AG). «Denken Sie nur an ein Baby, das mit aller Kraft vorwärts robbt, um einen bestimmten Bauklotz zu greifen. Oder an einen Zweijährigen, der unermüdlich versucht, einen Turm zu bauen!»
Die Erkenntnis «ich kann etwas, ich habe das selbst erreicht» sei extrem wichtig für Kinder, findet auch Psychologin und Familientherapeutin Annette Cina von der Universität Fribourg, die ebenfalls per Videocall zugeschaltet ist. Schliesslich stütze dies den eigenen Selbstwert – also den Wert, den wir uns selbst beimessen. Der Selbstwert wiederum trägt Kinder ein Leben lang und ist nicht zuletzt ausschlaggebend für eine gesunde psychische Entwicklung. Damit Kinder jedoch an sich glauben und zeigen können, was in ihnen steckt, braucht es einen gewissen Durchhaltewillen – und dabei nützt Ehrgeiz.
♦ Auf die Sache fokussieren, nicht aufs Ergebnis. Dabei dem Kind zu verstehen geben: Du bist für mich als Mensch wertvoll. («Ich sehe, du bist frustriert wegen der Note – aber ich als Mutter mache mir keine Sorgen!»)
♦ Mit Fehlern umgehen lässt sich trainieren, z.B. indem man Idole einbezieht. («Ronaldo wurde auch nicht als Starfussballer geboren. Was sagt er sich wohl, wenn er ein Tor verschiesst? Und was kannst du dir sagen, wenn es bei den Hausaufgaben nicht gut läuft?»)
♦ Vergleiche mit anderen Kindern vermeiden.
Buchtipp: Ulrike Döpfner: «Der Schatz des Selbstwerts. Was Kinder ein Leben lang trägt», BeltzVerlag(2022).
Perfektionismus schadet
Doch ab wann kippt es? Wann schlägt das Ganze ins Gegenteil um und aus dem positiven Ehrgeiz wird schädlicher Ehrgeiz? Wenn etwa die Tochter nur noch traurig ist und nicht mehr gut schläft, weil sie das Gefühl hat, in der Schule mindestens 5–6er schreiben zu müssen. Oder wenn der Sohn sich nicht traut, mit einer neuen Sportart zu beginnen, aus Angst, dort nicht der Beste zu sein. Kurz: «Wird klar, dass sich das Kind stresst und einen ungesunden Perfektionismus entwickelt, sollten Eltern gegensteuern», sagt Annette Cina.
Die Frage ist nur: Wie? «Kinder müssen lernen, auch mit Niederlagen umzugehen, nicht immer nur auf der obersten Stufe des Podests zu landen», sagt die Psychologin. Dabei sollte die Botschaft an den Nachwuchs lauten: «Es ist gut, wie es ist! Du bist okay, wie du bist!» Der Selbstwert dürfe nicht darauf aufgebaut sein, ob einem etwas Bestimmtes gelingt. Wer eine Prüfung verhaut, kann trotzdem im Sozialen auftrumpfen - weil er ein guter Freund ist, zum Beispiel. Vor allem – und hier spricht die Psychologin mit Nachdruck – muss Kindern klar sein: «Egal, was passiert oder welche Leistung ich erbringe – ich werde geliebt.»
Wenn sich der Nachwuchs nur noch auf eine Sache konzentriert, ständig über seine Grenzen geht und daneben alles andere – wie etwa Freundschaften – vernachlässigt, sollten bei Mutter und Vater die Alarmglocken läuten, findet Cina. Letztendlich müssen Kinder einen Lernprozess durchlaufen und erkennen: Was tut mir gut, was nicht? Will ich das wirklich? Und: Welchen Preis bin ich bereit, dafür zu bezahlen?
♦ Legt das Kind Wille und Disziplin an den Tag, darüber Freude zeigen und es stärken. («Was, du hast drei Tage am Puzzle gearbeitet und jetzt ist es fertig? Super!»)
♦ Als Eltern eigene Begeisterung und Ehrgeiz vorleben und dies mit Kindern teilen. (Der Vater züchtet Rosenstöcke und wälzt Literatur, damit ihm das noch besser gelingt. Die Mutter trainiert eine Sportmannschaft und überlegt, wie sie diese zum Sieg führt.)
♦ Kindern die Chance geben, herauszufinden, was in ihnen steckt. Sie darin unterstützen, etwas durchzuziehen – aber nicht übernehmen. Dabei wie ein Trainer reagieren. («Wow, du hast es fast geschafft, noch ein kleines Stück, bleib dran!») Anschliessend das Erreichte zelebrieren und auf diese Weise vermitteln «Siehst du, Durchhalten lohnt sich!»
Zum Dranbleiben ermutigen
Was aber tun im umgekehrten Fall? Wie erreiche ich, dass mein Kind für etwas brennt und dran bleibt – etwa, wenn es um Hobbys geht? Annette Cina überlegt kurz. «Üben braucht Durchhaltewillen», sagt sie schliesslich und rät zu klaren Vereinbarungen zwischen Kind und Eltern. «Nur zweimal in ein neues Sporttraining zu gehen, reicht nicht.» Schliesslich stellen sich Erfolge nicht gleich am Anfang ein. Und auch um Freunde in einer Mannschaft oder Gruppe zu finden, braucht es Zeit. Es gelte deshalb genau hinzuschauen, wenn ein Kind nicht mehr zu einer Aktivität gehen möchte, zu ergründen, was wirklich dahintersteckt. Handle es sich lediglich um Anlaufschwierigkeiten, lohne sich Durchhalten immer. «Denn auch beim Dranbleiben kann ich etwas lernen.»
Wie stark Ehrgeiz und Durchhaltewillen beim Nachwuchs ausgeprägt sind, hängt zum Teil von dessen Charakter ab. Manche Kinder beissen sich eher durch, während es andere mehr anzutreiben gilt. «Hier braucht es von Eltern viel Fingerspitzengefühl», sagt Familiencoach Jolanda Hohl langsam, und betont jedes Wort. Mutter und Vater müssten genau hinsehen, um die Persönlichkeit des Nachwuchses zu erkennen, und sich fragen: Wer ist mein Kind? Was bringt es mit? Aber auch: Warum hat es Mühe damit? Handelt es sich um ein «Nicht-Können» oder ein «Nicht-Wollen»? Die entscheidende Frage: Wie können wir als Eltern unser Kind unterstützen – so, dass es sich in der Gesellschaft wohlfühlt und seinen Platz findet?
Viel entscheidender als der Charakter des Kindes ist für dessen Ehrgeiz und Durchhaltewillen allerdings das, was Bezugspersonen ihm vorleben. Bin ich als Mutter selbst selten zufrieden mit mir und meinen Leistungen? Fokussiert der Vater eher auf das Negative? Loben und kritisieren beide übermässig? Dann lernt das Kind womöglich: Nur das Beste ist gut genug!
Manchmal ist es allerdings auch der Ehrgeiz der Eltern, der sich im Ehrgeiz des Kindes spiegelt und es antreibt. Was nur natürlich ist! So schliessen Eltern nun mal gerne von sich auf ihren Nachwuchs. Die Mutter war in ihrer Jugend eine gute Kunstturnerin? Dann ist es die Tochter natürlich auch! Der Vater hat schon immer gern Fussball gespielt? Der Sohn muss es ebenfalls im Blut haben! «Mutter und Vater können als Modell durchaus helfen», findet Jolanda Hohl – «vorausgesetzt dies passt für die Persönlichkeit des Kindes.» Gleichzeitig sollten Eltern aber auch akzeptieren, dass sich der Lebensweg von Sohn oder Tochter womöglich ganz anders entwickelt.
Spiegel für die Eltern
Und noch eine Herausforderung hält das Elternsein bereit: Durch die Kinder werden Mutter und Vater oft (wieder) mit Themen konfrontiert, die ihnen vielleicht selbst Mühe bereiten. Die Ungeduld der Tochter, wenn etwas nicht klappt, zum Beispiel. Die Scheu des Sohnes, wenn er auf fremde Menschen trifft – kennt man das womöglich nur zu gut von sich selbst? Auch hier gilt: «Eltern sollten sich bewusst sein: Das Kind und ich sind keine Einheit; wir begleiten lediglich eine Persönlichkeit, die sich erst entwickelt», so Jolanda Hohl.
Was übrigens den Säugling und den Einjährigen angeht: Beide gehen längst zur Schule. Als sich die Erwachsenen kürzlich trafen, erinnerten sie sich an ihre Spielplatz-Diskussion von damals und stellten fest: Die «Ehrgeiz ist nicht wichtig»-Eltern haben heute ein Kind, das begeistert Leistungssport betreibt, während die «doch, das braucht es schon»-Eltern ihr Kind eher antreiben müssen. Und die Geschwisterkinder? Sie sind noch mal ganz anders.
Einst Redaktorin beim «Tages-Anzeiger», später Korrespondentin in Shanghai, schreibt Kristina Reiss heute als freischaffende Journalistin leidenschaftlich über den Mikrokosmos Familie. Dabei interessiert sie sich für alles, was Menschen bewegt – ihre Wünsche, Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen.