Frühe Kindheit
Gehen, Sprechen, Denken: Die ersten 1000 Tage
Die ersten 1000 Tage sind entscheidend für die Entwicklung des Kindes. Was Eltern tun können, um ihr Kind dabei zu unterstützen – und was sie besser bleiben lassen.
Es hört sich immer ein bisschen an wie eine Drohung, doch Fachleute aus Medizin und Entwicklungspsychologie sind sich aufgrund der Datenlage erstaunlich einig: Die ersten drei Jahre im Leben eines Menschen bilden das Fundament für das spätere Erleben und prägen uns für den Rest des Lebens. Ob wir übergewichtig werden, anfällig für gewisse Krankheiten, in bestimmten Situationen ängstlich, mutig oder gar übermütig reagieren, hängt stark davon ab, was wir in den ersten 1000 Tagen erleben. Vieles kann also in der frühen Kindheit schieflaufen (und wird es auch, versprochen!). Doch um Defizite soll es hier nicht gehen. Sondern darum, was Babys brauchen, um sich vom ersten Tag an gut entwickeln zu können.
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- Motorische Entwicklung: Gehen lernen
- Sprachliche Entwicklung: Sprechen lernen
- Kognitive Entwicklung: Denken lernen
Wie wir wissen, müssen wir fürs Elternsein weder eine Ausbildung durchlaufen noch eine Prüfung ablegen. In unserer Kultur leben wir auch nicht mehr in der Grossfamilie, sodass wir vielleicht noch nie ein Baby auf dem Arm gehalten haben, wenn wir Eltern werden. An die Stelle von Vorbildern sind Ratgeberbücher getreten, jedes Jahr erscheinen gefühlt fünf Tonnen neue. Natalie Rehm (50), Kleinkindpädagogin aus Männedorf (ZH) und Mutter von zwei Töchtern (16 und 18 Jahre) hat ein Buch geschrieben, das im Ratgeberdschungel heraussticht.
Es enthält grundlegendes Wissen für die ersten drei Lebensjahre, zeitgemäss erklärt und aufschlussreich bebildert. Die zertifizierte Erziehungsbegleiterin bezieht sich auf aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse, etwa des Entwicklungspädiaters Remo Largo oder des Hirnforschers Gerald Hüther, zu einem wesentlichen Teil jedoch auf die ungarische Kinderärztin Emmi Pikler, die zeit ihres Lebens (1902–1984) die ungestörte Entwicklung des Kindes erforschte und eine Pionierin war auf dem Gebiet.
♦ Natalie Rehm: «Gehen Sprechen Denken. Wie sich Babys aus eigener Kraft entwickeln», Kösel (2021), Fr. 27.90
♦ Emmi Pikler: «Friedliche Babys, zufriedene Eltern. Vom achtsamen Umgang mit unseren Kindern», Herder (2021), Fr. 15.10
♦ Remo Largo: «Babyjahre» (2019), Fr. 19.10
Aufgabenteilung
Die zentrale Botschaft dieses aktuellen Werks: Gesunde Neugeborene tragen in sich das Potenzial, sämtliche spezifisch menschlichen Fähigkeiten selbstständig zu erlernen. Dafür brauchen sie ein Umfeld, das wir als Erwachsene schaffen; lernen tun sie alles Wichtige selber. Darin kommt eine Haltung zum Ausdruck, die das Kind nicht zum Objekt macht, dem wir eine bestimmte Erziehung angedeihen lassen. Weder an ihm ziehen und zupfen, es ständig bespielen, bespassen oder fördern ist nötig. Das Kind wird von Geburt an als individuelles und kompetentes Wesen gesehen.
Zur Orientierung unterscheidet Natalie Rehm die Aufgaben des Kindes und diejenigen der Eltern: «Die Aufgabe des Kindes ist es, Gehen, Sprechen und Denken zu lernen. Das sind die drei wichtigsten Entwicklungsschritte, die Babys in den ersten drei Jahren durchlaufen.» Von Natur aus sind Kinder dazu veranlagt, sich den aufrechten Gang, die Sprache und das Denken aus sich selbst heraus anzueignen. Die Mitmenschen dienen als Vorbilder, spezielle Übungsprogramme braucht es keine – das entlastet die Eltern! «Am besten ist es, wenn wir Erwachsene uns so wenig wie möglich einmischen, sondern uns um unsere Aufgaben kümmern», sagt Rehm.
Säuglinge verstehen
Babys und Kleinkinder sind für ihre körperlichen Belange auf die Fürsorge von Erwachsenen angewiesen; sie brauchen genügend Nahrung und Schlaf, Körperpflege, passende Kleidung sowie Schutz und ein sicheres Zuhause. Genauso bedeutsam sind ihre psychischen Grundbedürfnisse. Eine verlässliche Beziehung zum Kind aufzubauen, zählt zu den wichtigsten Aufgaben der Eltern, denn das Gefühl des wohligen Geborgenseins können Babys nicht selbst herstellen. Dazu benötigen sie ein menschliches Gegenüber, das auf angemessene Weise in Resonanz mit ihnen geht.
Wir wissen heute, dass eine sichere Bindung mit einer oder mehreren Bezugspersonen die Basis ist für eine glückliche Kindheit und ein erfülltes Leben. Doch wie können sich Eltern oder Bezugspersonen verhalten, dass eine solche qualitätsvolle Beziehung entsteht? Zuerst muss uns bewusst sein, dass jedes Kind ein empfindsames Wesen ist, das schon als Säugling in der Lage ist mitzuteilen, wie es ihm geht oder ob es sich bei dem, was wir gerade mit ihm tun, wohl fühlt oder nicht. Es kann zwar noch nicht sprechen, aber über Mimik, Körperspannung und Laute teilt es sich mit und wir sind gefordert, seine Äusserungen richtig zu interpretieren.
Emotionale Nahrung
Wie wir mit dem Kind im Alltag umgehen, beeinflusst zu einem hohen Grad, ob es sich gesehen und respektiert fühlt. In der nach Emmi Pikler benannten Pikler-Pädagogik werden sämtliche Alltagssituationen wie wickeln, anziehen, füttern oder baden so ausgeführt, dass die emotionale Beziehung zum Kind gestärkt wird. Das Kind erlebt sich in der ersten Zeit vor allem durch seine sinnlichen Wahrnehmungen. Die Art und Weise, wie wir mit ihm in Blickkontakt treten, es ansprechen, berühren, hochheben, ist deshalb das Allerwichtigste im Erleben des Kindes.
Oftmals tun wir diese Dinge jedoch nebenher oder in Eile und nicht mit unserer vollen Aufmerksamkeit und meinen dann, dass wir das Kind möglichst viel tragen oder mit ihm spielen müssen, damit es genug Zuwendung erhält. Laut Pikler geht es auch anders. Wenn wir mit dem Kind bei sämtlichen pflegerischen Tätigkeiten in innigem und intensivem Kontakt sind, erhält es dadurch so viel emotionale Nahrung, dass es sich davor und danach heiter und ruhig seinen eigenen Aufgaben zuwenden kann, dem Gehen, Sprechen und Denken lernen.
Motorische Entwicklung: Gehen lernen
Das erste Lebensjahr ist zur Hauptsache der motorischen Entwicklung gewidmet. In den Bereichen Sprache und Denken erzielt das Kind ebenfalls Fortschritte, aber weniger leicht erkennbar.
Säuglinge werden völlig gleichgewichtslos geboren. Mindestens ein Jahr lang trainieren sie, bis sie in der Lage sind, ihren Körper so sicher im Raum auszutarieren, dass sie nicht ständig umfallen. Was für eine Leistung! Die meisten Erwachsenen gehen davon aus, dass die Babys dabei auf direkte Hilfestellung angewiesen sind. Eltern wird manchmal empfohlen, die Kleinen regelmässig auf den Bauch zu legen, damit die Nacken- und Rückenmuskulatur möglichst früh trainiert wird. Oder die Kinder werden aufgesetzt und auf die wackligen Beinchen gestellt, bevor sie es selbst gelernt haben. Doch die gut gemeinte Hilfe hat manchmal negative Folgen für die Haltungskontrolle. Studien zeigen, dass unnötige Hilfestellungen dazu führen können, dass die Kinder sich später tendenziell unharmonisch, unökonomisch und unsicher bewegen.
Emmi Pikler erforschte in empirischen Langzeitstudien, wie sich Babys von klein auf motorische Fähigkeiten selbstständig aneignen. Sie stellte fest, dass gesunde Kinder von der Geburt bis zum freien Gehen im Wesentlichen zehn Entwicklungsstufen durchlaufen.
Das Wichtigste in Kürze
♦ Die Ausgangsposition ist die Rückenlage. Das Baby sollte, wenn immer möglich, flach auf dem Rücken liegen, mit genügend Bewegungsfreiheit für Arme und Beine.
♦ Wenn das Kind gezielt zu greifen beginnt, legen wir Spielmaterial erreichbar in seine Nähe, drücken ihm aber nichts in die Hand.
♦ Nach einigen Monaten beginnt das Baby, sich auf die Seite zu drehen, später dann auf den Bauch und wieder zurück, dazu braucht es genügend Platz. In der Bauchlage reckt und streckt es sich und versucht irgendwann, Gegenstände ausserhalb seiner Reichweite zu ergreifen. Das gelingt meist nicht auf Anhieb und anstatt dem Kind das Spielzeug vor die Händchen zu schieben, ist Geduld gefragt. Hilfreich für das Kind ist es, wenn wir in beschreibende Worte fassen, was es gerade tut.
♦ Wenn das Kind krabbelt, können wir ihm ein kleines Podest mit einer erhöhten Fläche zur Verfügung stellen, sodass es auf eigene Faust Erfahrungen sammeln kann mit unterschiedlichen Höhen. Die meisten Kinder krabbeln zuerst mit dem Kopf voran vom Podest, und ist dieses nicht höher als 20 Zentimeter, können sie sich nicht ernsthaft verletzen. Das Podest ist eine gute Vorbereitung auf die Treppe.
♦ Bevor Babys lernen, sich selbstständig aufzusetzen, richten sich manche zuerst in den Kniestand auf oder ziehen sich auf die Füsse hoch. Ein rutschfester Untergrund und stabile Gegenstände zum Hochziehen sind jetzt nötig.
♦ Kinder sollten zum Füttern erst hingesetzt werden, wenn sie sich selber sicher aufsetzen können. Bis dahin füttern wir sie auf unserem Schoss.
♦ Das Kind braucht weder die Hände von Erwachsenen noch Lauflern- oder Gehhilfen, um gehen zu lernen. Auch nachdem es die ersten Schritte gewagt hat, benötigt es möglichst viele Gelegenheiten zur freien Bewegung; für die Weiterentwicklung seiner Motorik eignet sich die Natur ganz besonders.
Sprachliche Entwicklung: Sprechen lernen
Der Spracherwerb ist die zweite Entwicklungsetappe in der frühen Kindheit, ein komplexer Vorgang, der bestimmter Voraussetzungen bedarf. Dazu zählt das Gehen lernen, denn die Bewegungsfähigkeit des gesamten Körpers bildet die Basis für die Sprachentwicklung. Beim Sprechen sind nämlich nicht nur unsere Sprachorgane motorisch aktiv, wie der amerikanische Forscher William S. Condon (1895–1967) herausfand. Simultan führen wir dabei minimale Bewegungen vom Kopf bis zu den Füssen aus, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.
Bevor Kinder erste Wörter sprechen, müssen sie einerseits die Muskulatur ihrer Sprachorgane trainiert haben, aber auch ein Verständnis des Gesprochenen entwickeln. Die ersten rund neun Lebensmonate dienen deshalb der Sprachvorbereitung. Genau wie die Bewegungsentwicklung verläuft auch die Sprachentwicklung individuell.
Das Wichtigste in Kürze
♦ Erwachsene reden mit Kindern unter zwei Jahren intuitiv langsamer und in einer höheren Tonlage, machen kürzere Sätze mit längeren Pausen. Die Forschung zeigt, dass sich dies positiv auf die Sprachentwicklung auswirkt.
♦ Eine bildhafte, beschreibende Sprache, die Bezug nimmt auf die Erlebniswelt der Kinder, ist vorteilhaft.
♦ Kleinkinder sprechen die ersten Wörter und Sätze oft falsch aus. Statt zu korrigieren oder die Fehler nachzuahmen, sprechen wir die Wörter richtig und in einem vollständigen Satz aus.
♦ Lieder, Reime und kleine Berührungsspiele helfen, eine differenzierte Sprache zu entwickeln. Deren Sinngehalt ist zweitrangig und ständig Neues zu bieten ist ebenfalls nicht nötig. Kinder lieben deren tägliche Wiederholung.
Kognitive Entwicklung: Denken lernen
Damit Kinder denken lernen, brauchen sie bestimmte Voraussetzungen, dazu zählt die Sprache. Unter bewusstem Denken wird auch die Fähigkeit verstanden, Zeit- und Raumbezüge herzustellen, Ursache und Wirkung in Zusammenhang zu bringen oder Ereignisse zu begründen. Das freie Spiel ist die beste Voraussetzung dafür. Mit dem sich entwickelnden Denken geht auch die Herausbildung des Ich-Bewusstseins einher, das passiert gewöhnlich im dritten Lebensjahr.
Das Wichtigste in Kürze
♦ Kinder lernen die Welt über Sinneserfahrungen kennen, deshalb wollen sie alles auch mit den Händen oder dem Mund befühlen und erkunden.
♦ Kinder aller Altersstufen sollen stets frei und aus eigenem Antrieb spielen können. Dazu benötigen sie viel Zeit und Ruhe; wir unterbrechen sie dabei möglichst wenig und mischen uns nicht ein.
♦ Es ist sinnvoll, praktische Haus- und Gartenarbeiten im Beisein des Babys zu erledigen, es entsprechend seiner Fähigkeiten einzubeziehen und ausprobieren zu lassen.
♦ Auf Bildschirmmedien in der frühen Kindheit zu verzichten, ist ein Gewinn für die kindliche Gehirnentwicklung.
Buchtipp: Ernährung für die ersten 1000 Tage
Wie können Kleinkinder gesund, im Einklang mit der Natur und ihrer Umwelt ernährt werden? Die beiden Ernährungswissenschaftlerinnen und Heilpraktikerinnen Sascha Inderbitzin und Ulrike Blarer haben ihre langjährige Erfahrung aus Theorie und Praxis in einem alltagsnahen Buch zusammengefasst. Als
ausgebildete TCM-Therapeutinnen vereinen sie östliche und westliche Ernährungskonzepte, erklären wissenschaftlich fundiert, welche Nahrungsmittel in der Schwangerschaft und für Babys und Kleinkinder wertvoll sind und räumen auf mit Ernährungsmythen.
➺ Sascha Inderbitzin, Ulrike von Blarer: «Die ersten 1000 Tage für Mama, Papa und Kind», Bacopa (2021), Fr. 27.90
Veronica Bonilla wollte früher Fallschirmspringerin werden. Seit sie den freien Fall bei der Geburt ihrer Kinder erlebt hat, hat sich dieser Wunsch in Luft aufgelöst. Übergänge und Grenzerfahrungen faszinieren sie bis heute. Dabei liebt sie es, um die Ecke zu denken und sich davon überraschen zu lassen, was dort auftaucht. Und stellt immer wieder fest, dass ihr Herz ganz laut für die Kinder schlägt. Sie war bis 2022 auf der Redaktion fest angestellt, seither als Freie für das Magazin tätig.