Geheimnisse
Geheimnisse von Kindern: gut oder schlecht?
Eltern machen sich oft Sorgen, wenn Kinder etwas vor ihnen verbergen. Dabei behalten kleine Kinder vor allem positive Dinge für sich. Und diese Geheimnissse erfüllen eine wichtige Funktion in ihrem Leben.
Geheimnisse haben einen eher schlechten Ruf. Sie machen einsam und depressiv, sagen viele, nagen am Selbstwertgefühl, an der Authentizität. Sie lassen uns argwöhnisch werden und bestimmen unsere Gedanken. Geheimnisse erfüllen aber auch eine wichtige Funktion, sagen andere, gerade für Kinder.
Ein Erlebnis, ein Gefühl ganz für sich alleine zu haben, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg in die Autonomie, sagt die Erziehungswissenschaftlerin Renate Valtin, die die Entwicklung und Bedeutung von Geheimnissen bei Kindern erforscht hat. Das Kind lernt dabei, dass es selbst entscheiden kann, was aus seinem Innersten es teilen möchte– und was nicht. Es erkennt, dass eine Grenze zwischen ihm und anderen verläuft.
Geheimnis als Teil einer Kinderfreundschaft
Im Verlauf der Kindheit wird das Geheimnis ausserdem zu einem wichtigen Grundstein von Freundschaft. Es markiert deren Beginn oder verleiht ihr neue Tiefe, und ein Verrat bedeutet nicht selten das Ende der Verbundenheit. Gleichaltrigen zu vertrauen und Anvertrautes zu hüten heisst soziale Kompetenzen zu entwickeln. Das Geheimnis fördert das Gefühl von Zugehörigkeit und ein Bewusstsein für das Selbst zugleich.
Mit etwa drei oder vier Jahren beginnen Kinder zu begreifen, was ein Geheimnis eigentlich ist. Voraussetzung ist «das Verständnis, dass es im Kopf eines anderen Menschen anders aussieht als im eigenen», sagt die Rechtspsychologin Renate Volbert, die sich schon seit vielen Jahren damit beschäftigt, wie Kinder mit Geheimnissen umgehen.
Die Fähigkeit, die man in der Psychologie als Theory of Mind bezeichnet, ist ein Meilenstein in der kindlichen Entwicklung: Kinder merken nun, dass der andere nicht unbedingt genau dasselbe weiss wie man selbst, dass sie ihr Gegenüber täuschen können. Spätestens jetzt ist ihnen unwiderruflich klar: Die anderen Kinder können mich auch dann sehen, wenn ich die Augen verdecke und selbst niemanden erblicke – das Ende von Gugusdada. Ein erster Geheimnisbegriff und das Vermögen, regelkonform Verstecken zu spielen, entwickeln sich laut Volbert entsprechend zeitgleich.
Geheimnisse bei Kleinkindern oft positiv
Geheimnisse bedeuten in diesem Alter aber meistens: Überraschungen. Der Schlüsselanhänger etwa, den man in der Kita für den Vatertag bastelt und von dem man Papi nichts verraten soll. «Was nicht ausdrücklich als Geheimnis bezeichnet wird, verstehen kleine Kinder auch nicht als solches», sagt die Professorin an der Psychologischen Hochschule Berlin. Zwischen dem Geständnis, dass es in die Hose gemacht hat oder dass es keinen Brokkoli mag, mache das Kind entsprechend keinen Unterschied, solange es nicht explizit zu Stillschweigen angehalten werde.
Überhaupt seien Geheimnisse für kleine Kinder in der Regel eher positiv, sagt Volbert. Neben der Überraschung für Papi gehört dazu vielleicht, dass Luisa auf dem Spielplatz eine Lücke in der Hecke entdeckt hat, in der sie ihre schönsten Steinchen versteckt. Oder dass Bendrit ein bisschen für Luisa schwärmt.
Zu Hause erfährt Papi dann nicht selten doch vom Schlüsselanhängerbasteln– wenn auch mit dem Zusatz: «Es ist aber eine Überraschung!» Obwohl ein gewisses Grundverständnis also früh vorhanden ist, muss die Fähigkeit, ein Geheimnis zu bewahren, erst heranreifen. Dazu gehört, dass es einfacher ist, einen Umstand zu verneinen oder zu verschweigen, als eine andere Person aktiv zu täuschen, wie Volbert sagt. So sagen Kleinkinder vielleicht, sie hätten, wie geheissen, nicht nachgeschaut, was für ein Spielzeug sich unter der Decke verberge. Die Frage, ob die Puppe denn ein gelbes oder blaues Kleid trage, beantworten sie vermutlich trotzdem mit Gelb.
Ältere Kinder wägen ab
Mit dem Alter nimmt nicht nur die Kompetenz zu, sondern auch die Autonomie der Kinder. «Grössere Kinder behalten Geheimnisse nicht einfach für sich, nur weil man sie dazu angehalten hat», sagt Volbert. Sie treffen aktiv eine Entscheidung, und sie wägen ab: Wer hat zur Geheimhaltung aufgefordert? Vor wem soll etwas verschwiegen werden? Worum geht es? Drohen einem selbst Konsequenzen? Verrät man einen Freund? Erzählt die Fünfjährige dem Mami noch unumwunden, dass ihr Gspänli den Ball in Nachbars Garten gekickt hat, behält der Elfjährige vermutlich für sich, wenn sein bester Freund an der Prüfung abschreibt.
Allen Heckenverstecken und Kindsgi-Schwärmen zum Trotz haben Kinder natürlich auch manchmal Geheimnisse, die schwerer wiegen. Einige davon sind schnell behoben, rücken sie erst ans Licht: Vielleicht war Mia einfach den ganzen Nachmittag so bedrückt, weil sie die Lieblingstasse ihrer Tante zerbrochen hat. Komplizierter wird es, wenn Remo den grossen Bruder zufällig dabei beobachtet, wie er der Mutter Geld aus dem Portemonnaie nimmt. Und Hand aufs Herz: Wer hat noch nie einen Moment lang gefürchtet, jemand habe sich vielleicht an seinem Kind vergangen, weil dieses in letzter Zeit viel verschlossener, trauriger oder reizbarer war als sonst?
Eltern sollten sich nicht vorschnell in Spekulationen verlieren, wenn ihr Kind einmal nicht erzählen möge, sagt Volbert. «Gerade bei kleinen Kindern ist die Wahrscheinlichkeit nicht sehr gross, dass sie Geheimnisse lange für sich behalten, wenn sie Gesprächsangebote erhalten.» Zwar treten sozialer Rückzug, Depressionen oder Aggressivität durchaus auch als Folge beispielsweise eines sexuellen Missbrauchs auf. Doch Verhaltensauffälligkeiten haben diverse Ursachen und sind keinesfalls zwingend ein Hinweis auf Missbrauch.
Nachfragen ist besser als abwarten
Renate Volbert hat in ihrer Karriere viele Missbrauchs- und Misshandlungsfälle von Kindern erlebt. «Nicht alle reagieren bei einem schlimmen Erlebnis gleich», sagt die Rechtspsychologin. Manche erzählen noch am selben Tag und ganz von sich aus, was vorgefallen ist. Andere sind ebenfalls gesprächsbereit, öffnen sich jedoch erst, wenn man sie aktiv auf ihr Befinden anspricht.
Jüngere Kinder wenden sich vor allem an ihre Mütter; grössere vertrauen sich eher Gleichaltrigen an, tun dies jedoch meistens unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Grundsätzlich gilt laut Volbert: Nachfragen ist besser als abwarten. Fragen sollten jedoch ergebnisoffen gestellt werden und nicht die eigenen Befürchtungen widerspiegeln. «Gerade bei kleinen Kindern können suggestive Fragen zu falschen Angaben führen.» Also nicht: Hat der Turnlehrer dir etwas angetan? Sondern eher: Du bist in letzter Zeit stiller als sonst, ist alles in Ordnung?
Natürlich gibt es aber auch Geheimnisse, die man lange oder sogar ein Leben lang für sich behält. «Eltern müssen damit leben, dass Kinder irgendwann selbst entscheiden, ob und mit wem sie ihre Geheimnisse teilen», sagt Volbert. «Da bringt es wenig, 20 Mal nachzuhaken.»
In solchen Fällen bleibt nur das klare Signal, dass man für das Kind da ist, wenn es reden möchte. Und die Hoffnung, dass es seine Entscheidung in ein paar Tagen oder Wochen vielleicht noch einmal überdenkt. Selbst Erwachsene behalten Geheimnisse oftmals nicht ewig für sich, obwohl sie sich das vielleicht vorgenommen haben: Schon nach vier Monaten, zeigt etwa eine Studie, hatten nicht wenige Versuchspersonen etwas preisgegeben, über das sie eigentlich Stillschweigen bewahren wollten.
Kinder haben nicht nur eigene Geheimnisse. Sie selbst sind ihren Eltern zeitlebens immer wieder ein Rätsel. So würden ganz kleine Kinder zwar nichts bewusst vor uns verbergen, schreibt der niederländische Pädagoge Max van Manen in seinem Buch «Childhood’s Secrets». Und doch seien sie schwer zu lesen. Ihre Nöte, Bedürfnisse und Absichten können Eltern manchmal nur erraten. Später falle das Mitteilen dem Kind leichter, doch möchte es nun nicht mehr alles offenlegen. Und: So manch aufregendes Gefühl, so manch überraschende Entdeckung, so manch unerklärlicher, unerschütterlicher Glaube lässt sich aller sprachlichen Kompetenzen zum Trotz schlicht schwer in Worte fassen oder verliert seine Magie im Versuch darin.
«Das Teilen eines Geheimnisses ist ein Geschenk», schreibt van Manen über die kleinen alltäglichen Schätze in einem Kinderleben. Es lässt sich nicht forcieren, ohne dass die Beziehung der Beteiligten Schaden nimmt. Teilen ist Vertrauen, beides lässt sich nicht erzwingen. «Kinder wollen gesehen werden», sagt der Pädagoge, «aber nicht immer durchschaut.»