Familie / Geburt
Geburtspositionen: Mit Haltung gebären
Von Veronica Bonilla Gurzeler Illustration Claudia Blum
Im Spital bringen heute die meisten Frauen ihre Kinder nicht mehr liegend, sondern halbsitzend zur Welt. Gut ist das noch lange nicht.
- Die Gebärende ist wach und aktiv.
- Der Geburtskanal erweitert sich.
- Das Becken ist beweglich – am beweglichsten in der Hängehaltung.
- Der Geburtskanal ist gestreckt, das Kind kann, unterstützt von der Schwerkraft, geradeaus nach unten rutschen.
- Die Muttermunderöffnung wird erleichtert und gefördert.
- Die Beckenbodenmuskulatur wird besser gedehnt und entspannt.
- Die Plazenta wird stärker durchblutet.
- Blutdruckabfall wird verhindert, Kreislaufstörungen treten seltener auf.
- Stehend und auf allen vieren ist der Druck auf die Vena cava und die Aorta am geringsten, Kreislaufprobleme nehmen ab.
- Das Lungenvolumen erhöht sich um etwa 10 Prozent, dadurch ist das Kind besser mit Sauerstoff versorgt.
- Die Herzfrequenz des Kindes wird verbessert.
- Die Hormonausschüttung (Prostazykline und Endorphine) wird begünstigt.
- Die Frau hat mehr Kraft und kann besser pressen.
- Die Schmerzempfindungen werden durch das Wechseln der Körperstellung und Umhergehen vermindert.
- Geringerer Verbrauch von Wehen-, Entspannungs- und Schmerzmittel.
- Die Geburtsdauer verkürzt sich.
Die emotionale Mutter-Kind-Bindung wird durch den sofortigen visuellen Kontakt in aufrechter Haltung gefördert.
Im Kreissaal, der heute Gebärzimmer heisst und nicht mehr von mehreren Frauen gleichzeitig(!) belegt wird, hat sich in den letzten Jahren vieles zum Besseren gewandelt. Zum Glück! Wurden die Schwangeren bis in die 70er-Jahre noch gezwungen, sich auf den Rücken zu legen, die Beine zu spreizen und in dieser passiven und ausgelieferten Haltung oftmals mehrere Tage zu verharren, bis dass sie vom Kind entbunden würden, wird den Gebärenden heute deutlich mehr Freiheit zugestanden. Sitzen, liegen, stehen, umhergehen, auf allen vieren oder ins Wasser: Alles ist möglich und erlaubt, ja, sogar gewünscht. Immer unter der Voraussetzung, dass kein medizinisch auffälliger Befund eintritt, der nach einem Kaiserschnitt ruft – und die Frau dann doch wieder in die Horizontale bringt.
Aktiv gebären oder aufrecht gebären sind Schlagwörter, die heute sowohl von Hebammen wie von Gynäkologen verstanden werden – jedenfalls von den fortschrittlicheren unter ihnen – und gelten gar als Schlüssel für eine interventionsarme Spontangeburt. «Ich freue mich über jede Schwangere, die im Vierfüsslerstand gebärt; diese Frauen sind hochmotiviert und nehmen eine aktive Rolle ein im Geburtsgeschehen», sagt Joachim Kohl, Oberarzt an der Frauenklinik des Luzerner Kantonsspitals. Das Gegenteil ist eine Herausforderung für die Geburtsmedizin: «Stellt die Mutter auf Autopilot und erwartet, dass ihr Kind möglichst schnell und schmerzfrei auf die Welt kommt, wird es schwieriger.»
Trotz Bewegungsfreiheit und einer ganzen Palette von Geburtsaccessoires wie Maiahocker, Seil oder Sprossenwand: In der letzten Phase der Geburt suchen die meisten Frauen im Spital das Gebärbett auf. Im Universitätsspital Zürich sind es mehr als 85 Prozent, am Kantonsspital Luzern rund 90 Prozent. Auf den modernen, in alle erdenkliche Richtungen verstellbaren Gebärbetten sind sie zwar nicht mehr in einer liegenden, sondern in einer halbsitzenden Position – «in einem Winkel zwischen 50 und 70 Grad», wie Oberarzt Leonhard Schäffer vom Universitätsspital Zürich (USZ) sagt.
In aufrechter Haltung gebären
Gut ist das jedoch nicht. Zumindest nicht aus anatomischer, (neuro-)physiologischer und sensomotorischer Sicht, wie Liselotte Kuntner, Physiotherapeutin, Ethnologin und unermüdliche Streiterin für die aufrechte Geburtshaltung, darlegt. «Beim Gebären soll die Frau nicht liegen, sondern aufrecht sein, damit das Becken in einer vertikalen Position ist; halbsitzend ist das nicht der Fall.» In ihrem erstmals 1985 erschienen Buch «Die Gebärhaltung der Frau» erläutert die Pionierin die Vorteile der vertikalen Gebärhaltungen, zeigt etwa, dass das Becken in dieser Stellung beweglicher ist, dass sich sein Eingang um 0,5 und sein Ausgang um 1,5 Zentimeter erweitert. Dadurch geht die Geburt schneller voran, die Schmerzen sind erträglicher; das Kind hat nach der Geburt bessere Apgar-Werte.
Aussergewöhnliches Engagement gründet häufig auf einer einschneidenden persönlichen Erfahrung. So auch bei Liselotte Kuntner. Die Begebenheit geht ins Jahr 1963 zurück. Damals waren die Gebärsäle in Schweizer Spitälern noch ganz in Männerhand; die Hebammen dienten als verlängerter Arm. Die Gebärenden passten sich den autoritären Gegebenheiten an und hinterfragten das Regime kaum. Liselotte Kuntner lag mit ihrem dritten Kind in den Wehen, das, wie sich später herausstellte, 4,5 Kilo schwer war. «Da ich als gesunde und kräftige Schwangere merkte, dass ich im Sitzen mehr Kraft entwickeln konnte, setzte ich mich auf, um das Kind zu gebären», erzählt sie. Doch die Hebamme habe sie angewiesen, sich wieder hinzulegen mit der Begründung, der Kopf des Babys würde zurückrutschen. Nun ging gar nichts mehr und man entschied sich zum Kristeller Manöver, ein bei Gebärenden gefürchteter und nicht ungefährlicher Handgriff. Eine erfahrene Hebamme legt dabei beide Hände auf den oberen Teil der Gebärmutter und versucht das Kind herauszuschieben. Kuntner: «Nach diesem schmerzhaften, manuellen Kraftakt, ausgeführt in der Rückenlage, wusste ich eines ganz sicher: Die Natur hat es nicht so eingerichtet.»
Dieser Gedanke liess Liselotte Kuntner nicht mehr los. Sie vertiefte ihre medizinischen Kenntnisse, bildete sich weiter. Als Ethnologin interessierte sie sich besonders für das ursprüngliche Gebärverhalten bei traditionell lebenden Völkern; sie forschte in Afrika, Nicaragua, Sri Lanka. Und stellte fest, dass Frauen in traditionellen Gesellschaften ihre Kinder immer schon in aufrechter Haltung geboren hatten: sitzend oder hockend auf einer Matte, einem Schemel oder einem Stein. Am Hals ihres Mannes hängend, an einem Baum, an einem Seil. Kauernd, kniend nach vorn geneigt oder auf die Ellenbogen gestützt. Damit nicht genug. Auch die Reise in der Zeit brachte die gleiche Erkenntnis: Darstellungen aus einzelnen Kulturepochen verschiedener Völker zeigen, dass die vertikale Stellung bei der Geburt seit jeher die übliche war. Zu den ältesten Abbildungen gehören Felsmalereien im Tassilligebirge in der Zentralsahara, festgehalten um 6000 bis 10000 v. Chr. Aber auch Skulpturen und andere bildliche Darstellungen aus Ägypten, dem östlichen Kulturkreis und den alten Kulturen Amerikas bilden Gebärende in aktiver, aufgerichteter Geburtshaltung ab.
- Liselotte Kuntner: Die Gebärhaltung der Frau, Marseille-Verlag, Fr. 48.60
- Benita Cantieni, Andrea Tresch: Yoga für Schwangere, Südwest-Verlag, Fr. 29.90
Von der Vertikalen in die Horizontale gezwungen
In Europa hatten sich die Frauen ebenfalls nicht immer ans Bett fesseln lassen während der Niederkunft. Ein Indiz dafür sind die Gebärstühle mit Haltegriffen an den Armlehnen und einem Loch in der Sitzfläche, die viele Hebammen mit zur Geburt brachten. Gut gestellte Frauen hatten ihren eigenen Gebärstuhl; er gehörte zur Aussteuer. Je besser situiert die Frau, desto weicher die Polster und reicher die Verzierungen des Stuhls; ein bäuerlich einfaches Exemplar ist im Freilichtmuseum Ballenberg ausgestellt.
Die Wende, damals als Fortschritt angepriesen, kam vor ungefähr 200 Jahren, als die Ärzte begannen, die bis anhin von Hebammen dominierte Geburtshilfe an sich zu reissen – und die Frauen von der Vertikalen in die Horizontale zu befehlen. Das Bild des Menschen als Mängelwesen habe die Geburtshilfe stark beeinflusst, sagt Wulf Schiefenhövel, der 1978 in Göttingen die erste Fachkonferenz für traditionelle Geburtshilfe und Gynäkologie organisiert hatte.
Zurück in die Gegenwart. Zu einem interessanten Statistikvergleich. Im Geburtshaus Delphys in Zürich brachten 2011 mehr als die Hälfte der Frauen ihr Kind im Vierfüsslerstand zur Welt, 20 Prozent auf dem Maiahocker, die übrigen Frauen entweder sitzend, stehend oder kniend, einige in Seitenlage, wenige liegend. Im Geburtshaus Zürich Oberland sowie im Geburtshaus Ambra Wittinsburg BL zeigt sich ein ähnliches Bild. Zur Erinnerung: Im Spital gebären neun von zehn Frauen halb sitzend auf dem Bett. Weshalb diese Unterschiede? «Es ist nicht so, dass wir die Gebärenden ins Bett befördern», sagt Leonhard Schäffer vom USZ. Etwa 30 Prozent der Frauen hätten eine PDA und wären deswegen beschränkt mobil, zudem sei das Gebärbett der Ort, wo die geburtshilflichen Einrichtungen seien, die Arbeit von Arzt und Hebamme sei auf dieses speziell dafür entwickelte Bett ausgerichtet. Die meisten Geburtshäuser verfügen nicht über ein solches. Schäffer: «Wer in ein Geburtshaus geht, hat häufig von vornherein eine besondere Vorstellung vom Ablauf der Geburt.»
Wer aufrecht gebären will, braucht Ausdauer, Kraft sowie Vertrauen in den Körper, dass er in jeder Situation das Richtige macht. Wer dieses Wissen und diese Fähigkeit nicht bereits hat, kann es in den neun Monaten Schwangerschaft erlernen. Zum Beispiel im Schwangerschaftsyoga oder in der geburtsvorbereitenden Gymnastik.
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