Frühförderung
Früher, schneller, schlauer
Während die übrigen Krippenkinder «bäbelen», liest Hannah das Tagblatt. Schliesslich will man doch wissen, was so auf der Welt vor sich geht. Auf Antrag wird die Fünfjährige vorzeitig eingeschult. Ein paar Jahre später macht ihre jüngere Schwester Kristina das gleiche. Das Tagblatt ist zwar nicht so ihr Ding, dafür verschlingt sie schon im Kindergarten ganze Bände Harry Potter. In der Schule lässt sie die fünfte Klasse aus und geht direkt zur Gymiprüfung. Mathe: 5,75. Deutsch: 5,5. «Was haben wir uns alles anhören müssen», seufzt ihre Mutter, eine Zürcher Anwältin. «Andere Eltern haben sich im Supermarkt vor uns aufgebaut und uns beschuldigt, wir würden unseren Kindern die Kindheit stehlen.» Heute lacht die 45-Jährige darüber, ihre Mädchen kommen prima in ihren Klassen zurecht und prima mit dem Rest vom Leben.
Nur – so glatt wie bei Kristina und Hannah läuft es nicht bei allen 10 bis 20 Prozent der Kinder, die etwa im Kanton Zürich vorzeitig ins Schulsystem eintreten.
Zwar hat sich die Zahl der Gesuche auf frühere Einschulung von 102 im Jahr 2005 (2006: 118, 2007: 386, 2008: 549) auf 623 im Jahr 2009 versechsfacht. Aber sind auch sechsmal mehr Kinder besonders intelligent? Kennen sie eine Abkürzung im Reifeprozess? Oder woher kommt der Trend zu: Früher IN die Schule, schneller DURCH die Schule? Schlagen die Wellen der Empörung über Amy Chuas Kinder-Drill-Buch «Die Mutter des Erfolges» bei uns möglicherweise deshalb so hoch, weil auch in der Schweiz die Tigermoms kräftig am Werk sind? Nichts ärgert einen bekanntlich so, wie der Fehler, den man selber hat …
«In der Tat ist die These früher+schneller+mehr = besser ein gesamtgesellschaftlicher und internationaler Trend», sagt Andrea Lanfranchi, Professor an der Zürcher Hochschule für Heilpädagogik. Statt wie früher munter innerhalb der Landesgrenzen vor sich hin zu bilden, wird seit Pisa verglichen und mit Rankinglisten hantiert, dass die Schwarte kracht.
Hilfe, in Frankreich gehen die Kinder schon mit drei Jahren zur école maternelle! Ach du Schreck, deutsche Schüler kommen mit sechs in die Schule! Gute Güte, kleine Briten büffeln mit vier. Und die Amerikaner und die Asiaten erst! Wo sollen da bloss die Schweizer Kinder bleiben? Um ein halbes Jahr nach hinten verschobene Einschulungsstichtage einzelner Kantone sind eine der Folgen.
Hilfe, ein Zeitfenster schliesst sich
Die Tendenz zur ständigen Vergleicherei hält Andrea Lanfranchi für ebenso fatal wie verständlich. «Ein Land ist nun mal keine Insel und aufmerksam zu beobachten, was in anderen Ländern passiert, ist ja erstmal gar nicht schlecht.» Sicherlich schade es kaum einem Kind, etwas verfrüht in den Kindergarten zu gehen und sicherlich schade es kaum einem Kind, wenn es das nicht täte. «Was dagegen völlig aus dem Ruder gelaufen ist, ist das Verständnis davon, was Frühförderung eigentlich ausmacht.» Förderung bedeute nicht mehr mit Mama zu spielen, mit Papa in den Zoo zu gehen und vom Grosi vorgelesen zu bekommen. Vielmehr starren verunsicherte bildungsambitionierte Eltern gehetzt auf Studien, wie die des amerikanischen National Bureau of Economic Research, die belegt, dass Dreijährige, die Silbenlesen-Lerntrainings durchlaufen hatten, in den ersten Schuljahren im Klassenverband die Poleposition inne haben. Ängstlich werden Publikationen über Entwicklungs-Zeitfenster registriert, die sich ungenutzt, zack, fest verschliessen und den Nachwuchs ohne Mandarin oder wenigstens Englisch zurücklassen.
Dass viele dieser Studien einige Absätze später anmerken, dass der Vorsprung – ausser bei Hochbegabten – meist schon nach wenigen Jahren wieder verloren geht, wird jedoch in der Eile übersehen.
Verständnis lässt sich nicht trainieren
Denn unbestritten ist: Vieles lässt sich antrainieren, wirkliches Verstehen allerdings nicht. Antrainieren zeigt dann solche Effekte wie bei dem Vierjährigen, der zwar präzise zwischen Säugetieren, Reptilien und Amphibien differenziert, jedoch niemals auf die Idee käme, eine Schnecke könne ein Tier sein. Amphibie ja, aber Tier? So geht der Schuss nach hinten los.
Jedes vierte «Chindsgi-Frühchen» fliegt nach einem Monat wieder aus dem Kindergarten oder bleibt im Verlauf der Schulkarriere sitzen, Klassenjüngste kriegen doppelt so häufig ein Aufmerksamkeitsdefizit- Syndrom attestiert. Auch eine Untersuchung des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung zeigt, dass für rund ein Drittel der Schüler, die vor dem jeweiligen Stichtag eingeschult werden, die Wahrscheinlichkeit sinkt, später ein Gymnasium zu besuchen. Erst am Ende der Pubertät holen die Frühstarter wieder auf.
Auch die Darmstädter Wirtschaftswissenschaftler Patrick Puhani und Andrea Weber sahen sich sowohl die Übertrittsquoten zum Gymnasium als auch die Ergebnisse des deutschen Frühlese- Tests «Iglu» an. Auch hier lautete das Resultat: Ältere Schüler schnitten deutlich besser ab. Manch findige Eltern ziehen daraus den Schluss: Kinder-Feintuning lässt sich besser andersherum betreiben. Durch Zurückstellung. In Deutschland werden inzwischen doppelt so viele Kinder zurückgestellt wie noch vor 15 Jahren.
Bezeichnend an dem Phänomen vorzeitige versus verzögerte Einschulung ist, dass ungewohnt viele Studien zum Thema aus ökonomischer Ecke kommen: das Kind als Wirtschaftsfaktor. Erziehung zum Wettbewerbsvorteil. Pädagogik nach Marktverwertbarkeit.
Neu ist die Korrespondenz von wirtschaftlicher Situation und pädagogischem Credo nicht. Sehen darf man sie trotzdem. «In den 80er-Jahren galt unerschütterlich der Grundsatz vom wachsen lassen», so Margit Stamm, Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Freiburg. Kinder sollten damals ungehindert reifen wie Äpfelchen am Baum. Erst dann, wenn sie von sich heraus «schulreif» waren – gemessen mit dem heute leicht lächerlich anmutenden Test: Kann das Kind mit der rechten Hand über den Kopf das linke Ohr erreichen? –, durften sie in die Schule. Manche mit sechs, andere mit acht.
In wirtschaftlichen Boomjahren, als die Globalisierung noch in den Kinderschuhen steckte, kam es eben nicht so drauf an, Kinder möglichst flott fit für den internationalen Arbeitsmarkt zu trimmen.
Klug? Ja. Sozial? Nein.
«Das war allerdings auch nicht nur positiv», so Margit Stamm. «Zu spät in die Schule zu kommen, kann genauso problematisch sein wie zu früh.» Die Schere zwischen den Schülern einer normalen Klasse geht extrem weit auf, wenn mehrere Jahre zwischen den Kindern liegen.
Auch heute schon – so die Aarauer Studie «Lernen und leisten in der Vorschule» – ist die Spannbreite gross.
Jedes dritte fünfjährige Kind kann bereits Buchstaben und Silben lesen, ein weiteres Drittel kann bis zwanzig zählen und Zahlen auch ordnen – aber 22 Prozent der Kinder können gar keine Buchstaben und 6 Prozent keine Zahlen benennen. Ist der Altersabstand noch grösser, wird bei fehlender didaktischer Differenzierung ein unüberbrückbarer Graben daraus. Nur schon in intellektueller Hinsicht.
Betrachtet man emotionale und soziale Reife wird der Graben noch tiefer. Da sind blitzgescheite Jungen, die vor Wut brombeerrot anlaufen, wenn sie mal beim Memory verlieren. Da sind kluge Mädchen, die noch immer auf Kriegsfuss mit dem Klopapier stehen; Buben und Mädchen, die sich zwar toll ausdrücken können, aber ohne ihre Mama kein einziges Wort sagen. Deshalb hat etwa die Gemeinde Meilen Probekindergarten-Tage für «Vorzeitige», an denen all das abgeklärt wird. Jedes zweite Kind wird anschliessend abgelehnt.
Fragwürdiger Galopp durchs Bildungssystem
Und dann gibt es diejenigen Youngsters, bei denen sechs Schuljahre lang alles prima läuft, und plötzlich in der Pubertät entscheiden drei Schamhaare, ein bisschen Busen und das Interesse an der Technik des Zungenkusses darüber, wer in der Klasse dazugehört und wer völlig out ist. Kein Schulpsychologe würde sich soweit aus dem Fenster lehnen und bei Schulreife-Tests gleich eine Geschlechtsreifeprognose mitliefern.
Flexible Einschulungen zu mehreren Terminen im Jahr, wie sie in Holland gang und gäbe sind, Grundstufen, in denen Kinder je nach Entwicklungs- und Kenntnisstand in verschiedenen Stufen lernen können, wären eine Lösung.
Aber am Wichtigsten, so der Leiter des Schulpsychologischen Dienstes Basel-Stadt und Universitätsdozent Peter Gutzwiller, sei die Frage, ob die ganze Hetzerei überhaupt Sinn mache, ob es eigentlich tatsächlich ein Vorteil sei, im Galopp durchs Bildungssystem zu stürmen um flott in den Beruf einsteigen zu können. Er selber habe an der Uni Psychologiestudenten, die mit 22 Jahren ihren Abschluss in der Tasche hätten, bereit für den Arbeitsmarkt. «Aber mal ganz ehrlich, würden Sie einer 22-jährigen Psychologin ohne einen Hauch von Lebenserfahrung von Partnerschwierigkeiten und Sorgen mit den Kindern erzählen? Na, bitte.»
Pisa-Primus Finnland schult Kinder übrigens mit sieben Jahren ein.