Reisen
Flieg, kleine Hexe!
Ein verhext guter Tag wartet auf Mara. Einer, den die 4-Jährige seit Wochen herbeisehnt, von ihm spricht und träumt. In wenigen Stunden werden sie und ihr Vater oben auf der Belalp auf ihren Besen steigen und die Schneehänge runtersausen.
Jetzt aber reibt sich Mara noch den Schlaf aus den Augen. Unten in Brig kuschelt sie sich auf dem Sofa eng an ihren Vater Roman Perren (48). Mara wohnt mit ihren Eltern und dem kleinen Bruder Tim im historischen Städtchen direkt an der Saltina. Vor 20 Jahren schwoll das nun so unschuldig dahinplätschernde Flüsschen zu einer Flut und zerstörte die Briger Altstadt. Roman steht noch heute das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, wenn er von den wütenden Wasser erzählt. Als diese Autos auf Fensterhöhe durchs Dorf rissen, Geschäfte aushöhlten und Menschen unter sich begruben. Vielleicht sind das die Kulissen – die Naturgewalten, Stürme, schroffe Felsen, hingewuchtet wie von Teufels Hand – welche im oberen Wallis die schaurigen Sagen und gruseligen Märchengestalten geboren haben, die man sich bis heute erzählt.
Spinnen und Warzen
«Fürchtest du dich nicht vor Hexen?» Mittlerweile hat Mara gefrühstückt und sitzt hellwach und mit durchgedrücktem Rücken auf dem Schminkstuhl im kleinen Stoff- und Nähatelier «All in One» in Brig. «Neeiiin!» ruft sie, «das sind doch alles liebi Häxjini!» Eine solche möchte sie heute auch sein. Dennoch: Ein brandschwarzer Zahn, eine Spinne auf der Backe und «e grüüsigi Wärza» gehören dazu. Neben Mara zupfen zwei Frauen an Roman, stülpen ihm Röcke über, binden Schürzen um und pinseln ein Spinnennetz auf seine Wange. Mara greift sich immer wieder ins Gesicht – in der Wärme beginnt die Schminke wie Windpocken zu jucken. «Gähwer ändli» ruft sie, sie will auf die Bretter. Skifahren hat sie längst im Blut, als ehemaliger Skilehrer stellte sie Roman schon mit zwei Jahren auf die Latten und rutschte mit ihr Hänge hinunter. «Das machen alle Eltern im Wallis so», erklärt der mittlerweile zum Hexerich mutierten den baffen Unterländerinnen.
Mittelalterliches Treiben
Mara hat sich unterdessen ihre Tschiffra auf den Rücken geschnallt, eine Holzkratte, aus der ihr Glückshexchen, Maiskolben, Moosgeflecht und Sonnenblumen gucken. Auf der Fahrt hinauf nach Blatten, vorbei an Kreuzen mit dem Gekreuzigten, warnen Plakate vor «Hexengekreisch» im Bergdorf. Immer wieder biegt gfürchiges Gesindel um die Ecke und bietet «Krötenschleim!» und «Spinnensaft!» feil, giftgrüne und knallrote Getränke, die nach Beeren und Waldmeister schmecken. Eine ganze Woche lang ist das Dorf auf Hexen ausgerichtet. Wie aber kam die Walliser Gemeinde zu solch mittelalterlichem Treiben? Die Geschichte führt weit zurück: Zu dunklen Zeiten wohnte eine Hexe am Natischerberg, die mit einem frommen Mann verheiratet war. Um ihren Geliebten im Aletschji zu besuchen, verwandelte sich die Böse jeweils in einen schwarzen Raben. Eines Tages sah sie beim Rückflug ihren verhassten Mann auf einem Kirschbaum Chersi pflücken. Da dieser ausgerechnet an jenem Tag zu beten vergass, kotete die Hexe dem Aufblickenden in die Augen, worauf der Mann vom Baum stürzte und starb. Sie aber verbrannte kurz darauf, durch richterliches Urteil befohlen, jämmerlich auf dem Scheiterhaufen.
Achtung, Startnummer 102
Jahrhunderte später inspirierte die Sage den Skiclub Belalp, zu Ehren des armen Kirschbaummannes, zum Volksskirennen Belalphexe. Seit über 30 Jahren stürzen sich im Januar ganze Rudel von Hexenmeistern und wilden Weibsstücken von der Belalp 12 Kilometer hinunter nach Blatten. Es ist der Höhepunkt einer buchstäblich verhexten Woche. Den Auftakt machen die Kleinen zu Beginn der Woche mit dem Mini-Maxi-Rennen auf einer stark verkürzten Teilstrecke. Dabei schwingen sich die einen Häxli mit Vater oder Mutter auf den Besen, andere starten einzeln oder in einer Gruppe. Die einen packt das Rennfieber, andere rutschen lieber von Tor zur Tor und landen zwischendurch lachend im Schnee. Ungeduldig warten Mara und ihr Vater grosse und kleine Hexen durch den Schnee, behangen mit Federn und Efeu, spitze Hüte auf dem Kopf. Mara lutscht an sauren Gummiwürmern, der letzten Hexenstärkung vor dem Start. Roman rupft ungeduldig an seinen Röcken: «Ich weiss nicht, wie ihr Frauen das aushaltet mit dem Zeugs um die Beine!»
Endlich! Startnummer 102 – auf eure Plätze! Roman schiebt Mara Richtung Starttor. Halt! Die Warzennase klebt noch auf der Stirn, schnell runter damit auf die Nase. Den Hexenbesen zwischen die Beine klemmen – und huuii! stechen die beiden den Hang hinunter, begleitet von Hexengekreisch, schrillem Gelächter und Rätschengeknalle. «Hopp Schwiiz!» brüllt es hinter den beiden her. Die bunten Fetzen flattern um ihre Beine, in konzentriertem Stemmbogen fahren Vater und Tochter um die Pfosten. Wie die meisten Hexenfamilien interpretieren sie den Begriff «Rennen» sehr frei – wichtig ist, dabeizusein. Auf den 60 Pistenkilometern auf der Belalp ist ausserhalb der Hexenwoche nicht viel los. Das Skigebiet liegt wie in ein Amphitheater gebettet zwischen Hülsenhorn und Schienhorn, es ist beschaulich statt mondän, familiär statt pompös. Über Mittag essen Feriengäste und Einheimische in einer der Skihütten zusammen Schnipo oder löffeln hausgemachte, mit Rahm und Heublumen verzierte Gemüsesuppe.
Der Hexerich hilft
Im Ziel schlägt Mara Applaus entgegen: Bravo! Hexenmässig gut gemacht! Aus schwarzen Boxen federt die Schlagermusik, in grossen Kupferkesseln köchelt Fondue. Die kleine Hexe aber ist so erschöpft, dass sie die Feststimmung gar nicht mehr richtig wahrnimmt und einfach müde vom Besen kippt. Der Hexenmeister nimmt seiner Tochter die Tschiffra ab und drückt sie an sich. Den tollen vierten Platz auf der Rangliste nimmt Mara zur Kenntnis. Vorerst aber landen Skier, Filzperücke, Hexenrock und Kratte in einer Ecke. Morgen ist früh genug, sich aufs nächste Hexenrennen zu freuen.
Infos bei Blatten-Belalp Tourismus, 027 921 60 40 ➺ www.belalphexe.ch