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Bücher
Eine Wissenschafterin erklärt, was Lesen mit Kinderhirnen macht
Von Ümit Yoker, Illustrationen Martina Paukova
Ganz in einem Buch zu versinken – das ist weit mehr als ein wundervoller Zeitvertrieb, sagt die Leseforscherin Maryanne Wolf. Wie kann richtiges Lesen in Zeiten digitaler Zerstreuung überhaupt noch gelingen?
Als die digitalen Medien sich in unseren Leben breitmachten, lautete eine der grossen Fragen: Hören wir nun auf zu lesen? Heute wissen wir: Mitnichten. Mehr als hunderttausend Worte nehmen wir jeden Tag auf, so haben es zumindest zwei Wissenschaftler in den Vereinigten Staaten vor einiger Zeit ausgerechnet. Hunderttausend Worte. Jeden Tag. Damit liesse sich ein ganzes Buch füllen. Liesse, denn diese Worte kommen nicht aus Büchern, sondern aus Nachrichten, Überschriften, Schlagzeilen zusammen. «Wir verbringen täglich so viel Zeit im Internet», sagt die Leseforscherin Maryanne Wolf. «Es kann nicht sein, dass dies nicht fundamental etwas an der Art ändert, wie wir lesen.» Kein Mensch kann täglich derart viele Nachrichtenmeldungen bewältigen, wenn er Texte so liest, wie wir es in den letzten 5000 Jahren getan haben. Wir lesen nur noch flüchtig, überfliegen und überspringen und kaum je bis zum Ende. Was für ein Verständnis von Lesen entwickeln unsere Kinder da? Wird es für kommende Generationen nicht mehr sein als oberflächliches Vergnügen? Ein Ort, an dem man gerade so lange verweilt, bis der nächste Reiz ruft? Oder wie es die amerikanische Wissenschaftlerin Wolf in ihrem Buch «Schnelles Lesen, langsames Lesen» (2019) mit den Worten Barack Obamas formuliert: Sind Informationen nicht für viele Junge bereits «zu einer Zerstreuung, reinem Zeitvertrieb, einer Form von Unterhaltung geworden statt zu einem Instrument der Teilhabe, einem Mittel der Emanzipation?»
Von Hesse bis Harry Potter
Wer Maryanne Wolf begegnet, und sei es nur via Bildschirm, weiss augenblicklich um die Liebe dieser Frau zum Buch. Bald trägt sie aus dem Stand und mit ausladender Geste aus einer Gutenachtgeschichte vor, die sie einst ihren Söhnen erzählte, bald erweist sie Hermann Hesse ebenso aufrichtig die Ehre wie Harry Potter. Ganz in Texten zu versinken – das ist für sie aber weit mehr als ein wunderbares Hobby. Die Entwicklungspsychologin und kognitive Neurowissenschaftlerin beschäftigt sich schon viele Jahre damit, was im Gehirn geschieht, wenn wir lesen. Sie ist überzeugt: Kinder eignen sich mit diesem dichten, ganz absorbierten Lesen entscheidende Kompetenzen für die Zukunft an: Sie lernen, Analogien zu bilden und die Welt im Buch mit der eigenen abzugleichen, Geschichten auf ihre Plausibilität hin abzuklopfen, Schlussfolgerungen zu ziehen. Sie proben, von gedruckten Worten zu eigenen Gedanken zu gelangen.
Und nicht nur das: Kinder lernen mit Büchern, was Mut ist und was Toleranz. Sie erfahren, wie es ist, steinreich zu sein oder mitten im Krieg aufzuwachsen, was Hinterlist bedeutet. Wie es ist, einen Haufen Geschwister zu haben oder so klein zu sein, dass man in eine Westentasche passt. Es zähle zu den «wichtigsten, wenn auch völlig unzureichend gewürdigten Leistungen einer intensiven Lektüre», schreibt Maryanne Wolf in ihrem Buch, dass sie uns erlaube, «sich auf die Perspektive und das Empfinden anderer einzulassen». Erst wenn wir uns ganz in einer Geschichte verlieren, stellt sich im besten Fall ein, was uns in Begegnungen im digitalen Raum gerade immer mehr abhandenkommt: Empathie.
All diese Prozesse erfordern jedoch Zeit: Worte, Sätze so lange wirken zu lassen, bis daraus Bilder und Fragen aufsteigen. Wahrheit von Erfindung zu trennen. Einsicht und Erkenntnis zu gewinnen. Natürlich, Kinder müssen seit jeher erst einüben, sich ganz auf eine Sache zu konzentrieren. Leicht war das noch nie. Gerade dürfte es aber noch ein ganzes Stück schwerer geworden sein. Lesen zu lernen, sodass wir davon mehr mitnehmen als einen wilden Haufen von Informationsbröckchen, ist eine langsame Tätigkeit, sie verlangt Ausdauer. Wo die nächste Ablenkung immer nur einen Swipe weit entfernt ist, mögen und vermögen Kinder diesen Aufwand weiterhin zu leisten? Sind wir Erwachsenen überhaupt selbst noch willens, uns diese Fähigkeiten zu bewahren?
Freude am Wort
Den Grundstein für ein gutes Leseleben legen Erwachsene, lange bevor ein Kind selbst zu lesen anfängt. Sie werde regelmässig gefragt, erzählt Leseforscherin Wolf, weshalb man schon Babys Geschichten vorlesen solle, wo diese doch noch gar nicht sprächen. «Die ideale Leselaufbahn beginnt aber auf dem elterlichen Schoss.» Diese frühe Verbindung von Geborgenheit und Büchern, von körperlicher wie emotionaler Nähe und Sprache ebnet entscheidend den Weg zur Freude am geschriebenen Wort. Gleichzeitig führen Eltern auf diese Weise früh, aber sachte immer wieder an neue Begriffe heran, an Formulierungen, die Kinder im Alltag nie antreffen würden, an Reime und Lautmalereien, an Erzählweisen aus vergangener Zeit.
Ob all dies auf Papier geschieht oder dem Tablet – es macht einen Unterschied. Zu diesem Schluss kommt Wolf weder aus Nostalgie noch aus grundsätzlicher Technologieskepsis. «Es ist keine Frage, dass das Internet ungeheuer viele Möglichkeiten bereithält, um ungeahnte Welten zu entdecken und Menschen und Ideen zu vernetzen.» Trotzdem plädiere sie dafür, im ersten Lebensjahrzehnt dem gedruckten Wort den Vorzug zu geben. Kinder lernen anders lesen, wenn Geschichten einen konkreten, physisch greifbaren Ort haben, wo sie sie zuverlässig antreffen. Sie halten öfter inne, wenn sie etwas nicht verstanden haben, sie geben sich mehr der eigenen Fantasie hin. Echte Buchseiten seien die «chronisch unterschätzten Petrischalen der frühen Kindheit».
«Kinder sollten sich erst einen eigenen, persönlichen Wissensschatz aufbauen, bevor sie sich auf externe Dienstleister dieser Art verlassen», sagt Maryanne Wolf zudem. «Nur dieser Abfolge traue ich zu, dass sie wissen, wann sie etwas nicht wissen.» Das bedeutet nicht, dass die Art, wie wir an Bildschirmen lesen, grundsätzlich schlecht ist. Schliesslich bleibt uns oft schlicht nichts anderes übrig, als querzulesen und auszulassen, um der schieren Buchstabenflut irgendwie beizukommen – und bestenfalls das Wichtigste herauszufiltern. Die Lösung ist für Wolf, dass Kinder früh verstehen, dass es je nach Medium, aber auch je nach Inhalt und Situation zwei ganz unterschiedliche Arten der Informationsverarbeitung mit eigenen Regeln und Rhythmen gibt.

Kritisches Nachdenken
Wohin es führen kann, wenn wir glauben, dass uns Google und Co. den anstrengenderen Weg kritischen Nachdenkens abnehmen, sehen wir bereits heute: Wir ziehen uns immer mehr auf das zurück, was unserer Meinung entspricht, was vertraut ist und gut verdaulich. Information ist aber nicht Wissen. Wissen bedeutet, neue Informationen fortwährend mit Erlerntem abzugleichen, eigene Kenntnisse zu hinterfragen und zu ergänzen.
Gerade diese Fähigkeiten dürften unsere Kinder heute mehr brauchen denn je. In einer Zukunft, deren Anforderungen und Unüberschaubarkeit stetig zunehmen, wird kaum mehr jemand darum herumkommen, sich mit komplexen Inhalten auseinanderzusetzen und diese kritisch einzuordnen – seien es Abstimmungsunterlagen oder Mietverträge, Gerichtsurteile oder Medizinberichte, Arbeitsdokumente oder dubiose Nachrichten. Das, sagt Maryanne Wolf, sei das Paradoxe: Dass wir ausgerechnet jetzt Gefahr laufen, unser Urteil unbekümmert anderen überlassen.
Ümit Yoker hat Psychologie und Linguistik studiert und arbeitet freiberuflich für diverse Schweizer Zeitungen und Zeitschriften. Sie schreibt über Gesellschaft und Familie, Psychologie und Sprache – und alles, was ihr sonst noch an interessanten Themen in die Hände fällt.