Schule / Koedukation
Eine Klasse für sich
Mädchen und Buben haben das gleiche Recht auf Bildung und gehen in die gleichen Schulen. Und doch wählen beide Studium und Beruf so stereotyp wie anno dazumal. Ist die Koedukation schuld? Hilft vielleicht zeitweilige räumliche Trennung, damit alle ihr Potenzial besser nutzen können?
Es schien, als habe das Thema inzwischen schütteres Haar und Runzeln um die Augen. Irgendwie fossil diese Diskussion darüber, ob Buben und Mädchen gemeinsam unterrichtet werden sollen oder doch lieber voneinander getrennt. Schliesslich würde heute jeder sofort ausgebuht, der noch offen so Sätze sagt wie «Das ist doch nichts für Mädchen» oder «Mathe ist ein Bubenfach». Und wenn die EMMA einst titelte «Koedukation macht Mädchen dumm – zurück zur Mädchenschule», dann waren das die 80er. Lange her.
Vermeintlich.
Denn «die Schülerschaft», piepegal ob Junge oder Mädchen, gibt es noch immer nicht. Mal erschrecken Studien, die belegen, dass Jungen die derzeitigen Bildungsverlierer sind mit einer doppelt so hohen Schul-Abbrecher-Quote und einem Anteil von drei Vierteln an schulischen Stützprogrammen. Von der Oberhoheit bei Leseschwäche und Disziplinproblemen ganz zu schweigen.
Und mal beunruhigen solche Zahlen: Nur 18 Prozent der Schweizer Professorenschaft ist weiblich, Mädchen stellen 6 Prozent bei den höheren Berufsabschlüssen in MINT-Fächern (Mathematik/Informatik/Naturwissenschaft/ Technik), an Fachhochschulen sind 14 Prozent der Studierenden in diesen Fächern Frauen; im Kanton Zürich wählt nur jedes dritte Mädchen am Gymnasium das mathematischnaturwissenschaftliche Profil. Und das, wie die neuste OECD-Studie zeigt, obwohl Mädchen in Mathematik bis zum Einsetzen der Pubertät sogar besser sind als Jungen.
Was ist da los? Warum meiden Mädchen Maschinenbau wie Veganer das Kotelett? Warum sind dagegen Männer im Kindergarten Exoten? Wieso antworten Schweizer Buben und Mädchen, nach ihren Lieblingsfächern gefragt, noch immer wie einst ihre Eltern: Mädchen bevorzugen Sprachen, Buben Naturwissenschaften? Gene können nicht der Grund sein. Immerhin sind in Osteuropa und Asien Informatik und Naturwissenschaften bei beiden Geschlechtern gleichermassen gefragt. In Ungarn sind 45 Prozent der Physikstudierenden weiblich, in Rumänien sind es 50 Prozent.
Irgendwas läuft in der Schweiz schief. Und schief laufen sollte es nicht länger in Zeiten, in denen der MINT-Bereich händeringend nach Fachkräften sucht, um die etwa 14 000 offenen Stellen zu besetzen und die Lehrerschaft in Kindergarten und Primarschule inzwischen etwa eine Geschlechterverteilung aufweist wie in einem Bauchtanzkurs.
Deshalb flammt jetzt die Koedukationsdebatte wieder auf. Fördert nach Geschlecht getrennter Unterricht vielleicht doch die Potenziale besser? Immerhin gibt es – wenn auch umstrittene – Studien, die behaupten, dass in Deutschland bis zu 40 Prozent Studentinnen in «Männerfächern» aus reinen Mädchenschulen stammen, obwohl die inzwischen mit der Lupe zu suchen sind. In Amerika haben sich im vergangenen Jahr 500 Schulen von der Koedukation verabschiedet und kehren zurück zu reinen Mädchen- und Jungenschulen. Ja, was denn nun? Befreit nach Geschlechtern getrennter Unterricht von dem Druck, sich geschlechtsrollenkonform zu verhalten? Bietet er Schutzräume? Die Möglichkeit, Schulstunden passender auf Interessen zuzuschneiden? Möglicherweise sogar die Raumtemperatur perfekt gendergerecht zu regulieren? Lernen doch angeblich, laut amerikanischer «National Association for Single Sex Education», Knaben bei 20,5 Grad am besten und Mädchen bei 23,8 Grad.
Oder ist es doch eher so, wie die Gegner der Monoedukation finden, dass das Kriterium Geschlecht als alles entscheidendes nun wirklich mal der Vergangenheit angehören sollte. Weil gute Bildung das Individuum fördern müsse. Egal ob männliches oder weibliches. Die Schlussfolgerungen der aktuellen Diskussion für den Schulunterricht können also sehr unterschiedlich sein.
Peter Labudde ist Professor und Leiter des Zentrums für Naturwissenschafts- und Technikdidaktik an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Er ist ein Verfechter temporärer Monoedukation, zeitweilig nach Mädchen und Jungen getrenntem Unterricht in Naturwissenschaften und Sprachen. Hannelore Faulstich-Wieland ist Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg, Genderforscherin und hält davon absolut gar nichts. Im folgenden Interview erfahren Sie mehr über die beiden unterschiedlichen Blickwinkel.
Potenzial entwickeln. Aber wie?
Er und sie im Streitgespräch: Peter Labudde, Leiter des Zentrums für Naturwissenschaftsund Technikdidaktik an der Fachhochschule Nordwestschweiz, macht sich für temporären geschlechtergetrennten Unterricht stark. Hannelore Faulstich-Wieland, Genderforscherin und Erziehungswissenschaftlerin aus Hamburg, hält nichts davon.
wir eltern: Waren Sie selbst auf einer reinen Mädchen- beziehungsweise Jungenschule?
Hannelore Faulstich-Wieland: Ja, war ich. Damals gab es noch nichts anderes. Das Mädchengymnasium war neusprachlich, das Jungengymnasium naturwissenschaftlich ausgerichtet. Typisch. Eigentlich haben mich Naturwissenschaften mehr interessiert. Aber als einziges Mädchen aufs Jungengymnasium – das habe ich mich nicht getraut. Das Mädchengymnasium war ein Schock für mich. Unser Lehrer hat tatsächlich gesagt: «So, jetzt machen wir mal ein bisschen Physik für Mädchen, das wird nicht so schwierig.» Nein, ich habe für künstliche Geschlechtertrennung nicht viel übrig.
Peter Labudde: Ich war auf einem Jungengymnasium. Mich hat das nicht sonderlich geprägt. Das war damals einfach so und fertig. In Rumänien sind 50 Prozent der Physik-Studierenden Frauen. Das spricht gegen «angeborene» Buben- und Meitli-Fächer.
Peter Labudde
Hannelore Faulstich-Wieland: Genau, das ist Unsinn. Deshalb macht eine Trennung des Unterrichts auch keinen Sinn. Die Unterschiede innerhalb der Geschlechter sind viel grösser als die zwischen ihnen. Das haben die Pisa-Studien gezeigt. Dramatisierung des Geschlechts ist nicht sinnvoll.
Peter Labudde: Die Zahl ist richtig. In Osteuropa sind die Fächer überhaupt nicht in der Art an ein Geschlecht gebunden. Beziehungsweise: Die Fächer werden nicht in der gleichen Art nach männlich und weiblich sortiert. Kurz nach dem Mauerfall habe ich im Osten einen Vortrag vor Naturwissenschaftslehrenden gehalten: Der Raum war voller Frauen. Bei uns dagegen gibt es noch viele Stereotype. Stereotype sind hinderlich, wenn man möchte, dass jedes Kind seine Talente verwirklichen kann. Deshalb finde ich – und das belegen zahlreiche Studien – dass ein zeitweiliges Aufheben des gemeinsamen Unterrichts in einzelnen Fächern für beide Geschlechter mehr Möglichkeiten eröffnet, aus diesen Verhaltensmustern herauszukommen. Mädchen müssen sich nicht extra vermeintlich «mädchenhaft» verhalten, wenn ohnehin nur Mädchen anwesend sind. Für Buben gilt das umgekehrt genauso.
Hannelore Faulstich-Wieland: Falsch. Es gibt keine einzige seriöse Studie, die klar zeigt, dass monoedukativer Unterricht geschlechtsrollenuntypisches Verhalten in Schule und Beruf begünstigt. Da wirken ganz andere Faktoren. Mädchen, die heute an eine Mädchenschule geschickt werden, kommen meist aus einem bildungsbürgerlichen Haus. Lehrende, die sich für diese selten gewordene Schule bewusst entscheiden, sind möglicherweise besonders motiviert. Rechnet man solche Faktoren heraus, ergibt sich kein Unterschied. Was allerdings Lehrer und Eltern den Kindern unterschwellig vermitteln, das ist wichtig. Nicht, ob die einen in diesem Raum sitzen und die anderen nebenan. Übrigens gibt es auch Untersuchungen, die sagen, getrennter Unterricht verstärke sogar ein konservatives Rollenverständnis.
Peter Labudde: Fakt ist: Das Selbstbewusstsein von Mädchen und Jungen ist je nach Fach nicht gleich verteilt. Jungen denken generell von sich selbst, sie seien stark in den MINT-Fächern, Mädchen denken das nicht. Jungen denken sogar dann gut von sich, wenn sie schlecht sind; und Mädchen denken schlecht von ihren Leistungen in MINT-Fächern, selbst wenn sie gut sind. Buben melden sich schon mal zackzack mit einer halbgaren Antwort, Mädchen nicht. Nehmen Lehrkräfte denjenigen, der sich als erster meldet, dran, entsteht dann so eine Art Selffulfilling Prophecy. Die Knaben werden besser, weil sie mehr beachtet werden. Auch die unterschiedliche Attribuierung «Jungs sind faul, laut, unordentlich – aber mathematisch naturwissenschaftlich talentiert », «Mädchen sind fleissig und ordentlich» ist oft eine Diskriminierung der Mädchen. Sie sind oft nicht nur fleissig – sondern begabt.
wir eltern: Also die Jungen deckeln, die Mädchen hätscheln? Obwohl doch inzwischen die Knaben die Bildungsverlierer sind?
Hannelore Faulstich-Wieland: Deckeln klingt hart. Aber ja, Jungen müssen lernen: So geht es nicht. Man braucht Fleiss, man braucht Ordnung. Und es ist nicht liebenswert und männlich, das nicht zu liefern. Und Mädchen immer wieder zu sagen, wie brav sie sind, macht sie klein.
Peter Labudde: Genau. Man sagt ihnen damit indirekt: Du bist nicht intelligent, nur fleissig. Dabei sind viele Mädchen in Mathematik talentiert. In einem Unterricht, in dem nur Mädchen wären, würden sie sich mehr zutrauen und Mathe und Physik nicht immer mit Männern assoziieren. So etwas lässt sich auflösen. Nehmen wir Medizin: Vor 30 bis 40 Jahren war «Arzt» ein Männerberuf, heute ist es fast ein Frauenberuf. Es geht also nicht um Geschlecht, sondern um ungehindertes Entwickeln von Potenzialen.
Hannelore Faulstich-Wieland: Das sehe ich auch so. Ich glaube allerdings, dass temporäre Trennung das Gegenteil bewirkt. Getrennter Unterricht würde so aussehen, als bekämen die Mädchen Naturwissenschaften «light». Dieses ständige Hochspielen des Geschlechts ist oldfashioned. Individualisieren ist effizienter als in Schubladen zu stecken.
wir eltern: Wie ist es denn nun: Wählen Mädchen von Mädchenschulen nun häufiger «untypische» Fächer»?
Hannelore Faulstich-Wieland: Die Studien widersprechen sich. Ausserdem geht es um viel mehr als um ein organisatorisches Problem. Es geht um die Bewertung und Wertschätzung einzelner Fächer, es geht um gesellschaftliche Strukturen und Rollenzuschreibungen, die nach wie vor festgefahren sind. Filmaufnahmen vom Unterricht zeigen, dass Jungen noch immer für ganz andere Sachen gelobt oder beachtet werden als Mädchen. Das passiert unbewusst, aber es passiert.
Peter Labudde: Ich will ja keine generelle Rückkehr zu reinen Mädchen- und Jungenschulen. Aber gerade in der Pubertät ist es sinnvoll, ab und an die Jungen und Mädchen unter sich zu lassen. Für getrennte Schulen bin ich nicht, weil es amerikanische Untersuchungen gibt, die zeigen, dass Mädchenschulabsolventinnen zwar häufiger MINT-Fächer wählen, aber den Beruf dann nicht ausüben, sondern in extrem stereotypes Rollenverhalten etwa als Hausfrau zurückfallen.
Hannelore Faulstich-Wieland: Sag ich ja. Das Problem ist viel umfassender als nur eines der Unterrichtsorganisation. Nehmen Sie einen Hörsaal für Maschinenbau. Da heisst es: «Guten Morgen meine Herren, guten Morgen meine Dame.» Das Selbstbewusstsein muss man erst mal haben.
wir eltern: In Grundschulen sind Buben und Mädchen noch gleichermassen an Naturwissenschaft und Technik interessiert und gleichermassen ehrgeizig. Dann geht die Schere auf…
Hannelore Faulstich-Wieland: Gendersensibilität muss deshalb möglichst früh anfangen. Achten Sie mal darauf, wie viele Mütter zu ihren Töchtern sagen: «Ach, Mathe, das habe ich auch nie verstanden.» So etwas wirkt.
Peter Labudde: Wissenserwerb knüpft an Vorerfahrungen an. Wenn aber die einen nur mit technischem Spielzeug spielen und die anderen nur mit Puppen, dann gibt es sehr unterschiedliche Vorerfahrungen, an die der Schulstoff anknüpfen kann.
wir eltern: Wäre es also günstig, Lippenstifte im Chemieunterricht zu behandeln, um die Mädchen zu packen?
Hannelore Faulstich-Wieland: Um Gottes Willen, bloss nicht. Das würde Klischees nur verstärken. Aber es ist richtig: Anknüpfungsfähigkeit ist zentral für den Wissenserwerb. Man könnte in Physik also gerade so gut statt über die Benzinpumpe zu sprechen, über die Herzpumpe sprechen.
Peter Labudde: Beispiele aus dem Sport interessieren beide Geschlechter. Volleyball ist neutraler als Fussball.
wir eltern: Eine steile These gegen die Monoedukation lautet: «Wer Sexismus mit Geschlechtertrennung heilen will, handelt wie jemand, der Rassismus mit Apartheid bekämpfen möchte.»
Hannelore Faulstich-Wieland: Knackig, dieser Satz aus der «Süddeutschen Zeitung». Er hat einen wahren Kern. Denn er beinhaltet, dass immer das Ganze eine Rolle spielt, die Wertschätzung in einer Gesellschaft. Solange Männliches noch höher bewertet – und bezahlt – wird, werden Jungen es auch als Abstieg werten, in «Mädchendomänen» gut zu sein. Das wäre ein Statusverlust. So lange die allgemeine Sichtweise so ist, würde auch Mädchen in getrenntem Naturwissenschaftsunterricht unterstellt, sie bekämen Nachhilfe.
Peter Labudde: Das sehe ich nicht so. Der Stoff wäre ja vollkommen identisch. Ich bin davon überzeugt, dass Mädchen allein sich dann in den Naturwissenschaften mehr zutrauten. Und Buben sich vielleicht auch mehr in den Sprachen engagierten oder eine vermeintlich weiche Seite zeigten. Dann zögen sie als Beruf vielleicht auch eher Kindergärtner oder Praxisassistent in Betracht.
wir eltern: Braucht es für mehr Gleichheit gleich viele Lehrer und Lehrerinnen? Mehr männliche Vorbilder in den Schulen?
Hannelore Faulstich-Wieland: Schon wieder so ein Klischee. Jungen brauchen nicht Lehrer und Mädchen Lehrerinnen als Vorbild. Beide brauchen eine gute Lehrperson. Nebenbei: Seit bestimmte Berufsbezeichnungen wie etwa Kauffrau/Kaufmann neutral geworden sind, interessieren sich auch Mädchen stärker für diesen Beruf. Wir sollten auf unsere Sprache achten. Sie wirkt subtil und stark.
Peter Labudde: Das Geschlecht des Lehrkörpers finde ich zweitrangig. Es sind Kompetenz, Persönlichkeit, Fähigkeit zu begeistern und Sensibilität, die zählen.
wir eltern: Ihre Tipps, wie beide Geschlechter gleichermassen zum Zug kämen:
Hannelore Faulstich-Wieland: So viel soziale Gemeinsamkeit wie möglich, so wenig Klischees wie möglich. Individualisierung wo immer es geht. Aber bitte nicht wieder nach dem simplen Kriterium Geschlecht sortieren, das zementiert nur. Und Eltern und Lehrkörper gendersensibel machen. 50 Prozent der Eltern denken noch immer, Mathe sei eher etwas für Buben, dann ist da das Spielzeug, unglaublich stereotype Fernseh-Serien … Auch Lehrer und Lehrerinnen müssen dringend über ihre Vorurteile nachdenken: Sind tatsächlich Mädchen vor allem ordentlich, Jungen schwierig? Wie viel Aufmerksamkeit schenken sie wem und wofür? Welche Klischees transportiert das Unterrichtsmaterial? In der Lehrerausbildung ist es zentral, von der Vorstellung wegzukommen, Homogenität einer Gruppe wäre das Beste. Und: Weder Jungen noch Mädchen haben Lust, getrennt unterrichtet zu werden. Dazu gibts Zahlen. Dann soll man ihnen das auch nicht aufpfropfen. Die Welt ist auch nicht getrennt.
Peter Labudde: Mein Tipp: so früh wie möglich Erfahrungen in den vermeintlich «untypischen» Bereichen fördern. Schon im Kindergarten. Und – temporäre Geschlechtertrennung in der Pubertät.