Armut
Ein wenig leben
Nicht alle Familien in der Schweiz können in der Weihnachtszeit unbesorgt Geschenke für ihre Liebsten kaufen. Bei manchen ist auch in unserem reichen Land das Geld so knapp, dass sie monatelang planen und sparen müssen, damit es überhaupt eine Bescherung gibt.
Claudia Hensles* Jahr ist zweigeteilt: Nach Weihnachten spart sie für die Sommerferien, nach dem Sommer dann für die Weihnachtsgeschenke. Wenn die 45-jährige Mutter zweier Kinder vom Sparen spricht, dann heisst das nicht einfach, regelmässig auf etwas zu verzichten. Sparen heisst für sie, sich auch beim Notwendigen noch fragen, ob es vielleicht ein paar Wochen ohne geht. Schliesslich sollen auch ihre Töchter unter dem Weihnachtsbaum Geschenke finden, einmal im Jahr wenigstens verreisen dürfen. Auch wenn die alleinerziehende Mutter und ihre beiden Töchter Amina (7) und Yasemin (15) zu den Menschen in der Schweiz gehören, die als arm gelten.
Ferien und Weihnachtsgeschenke – kann, ja darf man da wirklich von Armut sprechen? Man muss. Das mag absurd klingen, wenn täglich Bilder in die gute Stube flimmern, in denen Armut für die Betroffenen Hunger bedeutet oder Kinderarbeit. Tatsächlich hat Armut in der Schweiz kein augenfälliges Gesicht. Arme Kinder haben hierzulande keine eingefallenen Wangen und aufgeblähten Bäuche. Sie wühlen nicht in der Mülltonne und leben nicht unter irgendeiner Brücke. Dank den Sozialwerken haben sie genug zu essen und ein Dach über dem Kopf.
Trotzdem hat das Leben am oder unter dem finanziellen Existenzminimum, wie Armut in der Schweiz offiziell bezeichnet wird, nachhaltige Auswirkungen auf das Leben, die Zukunft: Auf die Gesundheit der Familienmitglieder, auf soziale Beziehungen, auf die Wohnsituation und die Bildungsmöglichkeiten. Und: Wer arm ist, hat, wie auch Claudia Hensle berichten wird, wenig Perspektive auf ein besseres Leben.
Einkauf nach 17 Uhr
Die 45-jährige Schweizerin steuert ihren Wagen durch den Nieselregen. Auf dem Rücksitz sitzt Amina und malt mit dem Finger an die angelaufene Scheibe. Den Honda hat Claudia Hensle vor etwas über einem Jahr für 800 Franken gekauft; er hat schon 215 000 Kilometer auf dem Zähler. Sie ist auf das Auto angewiesen, um zu ihrer Arbeit als Nachtwache in einem Pflegeheim zu gelangen. Bald müsste sie den Wagen vorführen. Reparaturen kann Hensle nicht bezahlen. Deshalb wird sie ihr Auto verschrotten lassen (dafür bekommt sie 150 Franken) und eine andere Occasion suchen. Nicht ganz einfach: Das Auto darf nicht mehr als 1000 Franken kosten. Mehr hat sie nicht auf der hohen Kante.
Ihr Samstagnachmittagseinkauf folgt dem immergleichen Muster: In Begleitung von Amina klappert sie alle Grossverteiler der nahegelegenen Kleinstadt im Mittelland ab. «Ich kaufe nie alles im gleichen Geschäft », sagt sie und zieht vor dem Eingang zum Einkaufszentrum noch rasch an einer Zigarette.
Vorgängig informiert sie sich im Internet, wo es Rabatte gibt und studiert die Werbung, die Aldi und Lidl ihr nach Hause schicken. Sie weiss stets von jedem Produkt, wie viel es in welchem Geschäft kostet. Hensle kauft konsequent das günstigste Produkt und sucht die Geschäfte am Samstag erst nach 17 Uhr auf, wenn viele Waren herabgeschrieben sind. Mit breitem, gerundetem Rücken steuert sie ihren Einkaufswagen durch die Gänge und füllt ihn nicht nach Menüplan, sondern nach Aktionen.
Im einen Geschäft greift sie nach den grünen Verpackungen der Budget-Linie, im anderen hält sie Ausschau nach den roten 50-%- Aufklebern. Auch das von Aminas grosser Schwester gewünschte Elsève-Shampoo ist gerade im Doppelpack günstiger zu haben. Hensle legt es zu den anderen Einkäufen und sagt: «Amina und ich benutzen ein Shampoo aus dem Aldi zu 80 Cent die Flasche. Das will Yasemin natürlich nicht mehr.»
Mit noch nassen Haaren öffnet Claudia Hensle einige Tage später die Türe. Die 3-Zimmer-Wohnung in einem grösseren Block liegt nahe bei der Autobahn, doch die Strasse ist ruhig und es gibt einen grossen Rasen zum Spielen. Während beide Töchter je ein eigenes Zimmer haben, schläft die Mutter in einer fensterlosen Abstellkammer. Die Matratze liegt auf dem Boden und füllt den Platz von Wand zu Wand aus, nur ein Vorhang trennt Hensles einzigen Rückzugsort vom Rest der Wohnung.
Amina spielt auf dem Balkon mit den beiden Meerschweinchen. Yasemin liegt in Trainerhose und Kapuzenpullover bäuchlings auf dem Sofa, ist mit ihrem Telefon beschäftigt. Ständig vibriert und piepst es; Facebook-Updates, Nachrichten und Anrufe gehen ein. Die Mutter bemüht sich, dass die 15-Jährige trotz der finanziellen Situation der Familie nicht zu stark eingeschränkt ist. So hat diese wie ihre Freunde auch ein Smartphone.
Fernsehen statt ausgehen
Telephone, Internet, Fernsehen – mit rund 170 Franken im Monat ein nicht unwesentlicher Posten im Budget der Familie. Darauf zu verzichten kommt aber nicht infrage: Die Mutter schränkt sich lieber anderswo ein. Yasemin braucht ihr Telefon, um mit Kollegen in Kontakt zu sein.
Der Fernseher liefert Unterhaltung – schliesslich ist Claudia Hensle 90 Prozent ihrer freien Zeit zu Hause. Ausgehen, schon nur mit einer Kollegin auswärts einen Kaffee zu trinken, das kann sie sich nicht leisten. Und das Internet hilft ihr sparen, Ricardo sei dank. So hat sie Aminas Bett, inklusive Matratze und Bettwäsche, für einen Franken auf der Auktionsplattform gekauft; die gesamte Einrichtung des Zimmers der Erstklässlerin hat weniger als 100 Franken gekostet. Auch Weihnachtsgeschenke und viele Kleider ersteigert sie auf Ricardo. «Letzte Weihnachten war geil», schaltet sich Amina ins Gespräch ein, «ich habe einen Nintendo bekommen.» Claudia Hensle zwinkert und flüstert: «Ricardo.» Sie freut sich, wenn sie ihren Töchtern Wünsche erfüllen kann.
Sie selbst hat sich aus einem tiefen Loch wieder hochgearbeitet. Ihre Lebensgeschichte hat Spuren hinterlassen; Hensles Haut ist fahl, den Augen fehlt das innere Leuchten. Seit ihr Mann im Sommer 2009 den Wegweisungsentscheid der Schweiz akzeptiert hat und in die Türkei ausgereist ist, hat sie alle ihre Kräfte mobilisiert, um ihr Leben zu ordnen.
Am weissen Esstisch in der schlicht eingerichteten Wohnung erzählt sie offen von ihrer desaströsen Ehe. Ihr Mann war gewalttätig, kontrollierte seine Frau auf Schritt und Tritt, verbot ihr sogar Kontakt zu ihrer Schwester, der einzigen Verwandten. Meist arbeitslos, gab er trotzdem mit vollen Händen Geld aus. «Ich musste mich innerlich distanzieren», sagt Hensle, die damals Vollzeit als Sachbearbeiterin arbeitete, für die Kinder sorgte, den Haushalt erledigte. «Denn egal, was ich machte und wie viel ich arbeitete, es nützte nichts.»
Die Schuldenberge wuchsen ihr über den Kopf. Krankenkassenrechnungen blieben unbeglichen, die Kinder waren nicht geimpft, jahrelang hatten sie keinen Arzt gesehen. Tochter Yasemin, auf der Schwelle zum Teenageralter, schon damals gepierct und Raucherin, war voller Aggressionen. Am Tag, nachdem ihr Mann die Schweiz verlassen hatte, suchte Claudia Hensle die Opferhilfe auf und liess die Scheidung einleiten.
Yasemin
Tag und Nacht im Einsatz
«Von Anfang an war es mein Ziel, auf eigenen Beinen zu stehen», sagt Hensle. Das hat sie geschafft. Die Unterstützung der Sozialhilfe braucht sie nicht mehr, seit sie vergangenen Frühling im Pflegeheim eine Festanstellung erhalten hat. Zehn bis zwölf Nächte im Monat arbeitet sie nachts im Heim. Dann trägt Yasemin die Verantwortung für die kleine Schwester.
Der unregelmässige Tagesrhythmus und die aufgrund ihrer Mutterpflichten fehlende Möglichkeit, den Schlaf der durchwachten Nächte aufzuholen, machen Claudia Hensle zu schaffen. «Ich mache diesen Job wegen der Nachtzuschläge», sagt sie. Mit Putzarbeiten in einem Kindergarten kommt sie auf ein Arbeitspensum von insgesamt 70 bis 80 Prozent. Inklusive Alimentenbevorschussung (500 Franken) hat sie ein Einkommen von höchstens 4000 Franken. Kann sie den Kindergarten aufgrund von Schulferien nicht putzen oder bezieht sie selbst Ferien und erhält deshalb den Nachtwache- Zuschlag nicht, fällt das Einkommen auf 3400 Franken. «Damit kommen wir nicht durch», sagt Hensle. Sie ist bemüht, stets ein Polster von einigen Hundert Franken auf dem Sparkonto zu haben.
Die Zeiten des Chaos sind vorbei. Aus einem kleinen Kästchen auf dem Tisch zieht sie ihr gelbes Empfangsscheinbuch hervor. Am 26. jeden Monats, sobald ihr Lohn eingegangen ist, geht sie damit auf die Post und begleicht sämtliche Rechnungen. «Das gibt mir ein gutes Gefühl», sagt sie. Was übrig bleibt, teilt sie je nach Monat durch vier oder viereinhalb und weiss so genau, wie viel Geld für jede Woche zur Verfügung steht.
Stehen unvorhergesehene Ausgaben an, wird es rasch zu eng. 30 Franken einfach so für ein weiteres Piercing, das sich Yasemin wünscht, liegen nicht drin. Diese hat Verständnis für die Situation. «Yasemin macht mir grosse Freude, sie ist sehr vernünftig», sagt die Mutter. Und Yasemin sagt: «Es würde mich sowieso langweilen, immer shoppen zu gehen.» Ihre Kollegen hätten auch nicht viel Geld, sagt sie, sie müsse also ihre Situation nicht vertuschen. Trotzdem will sie um keinen Preis auf den Bildern erkennbar sein.
260 000 arme Kinder
In der Schweiz messen Fachleute die Armut, indem sie die eingeschränkten Lebensumstände Armutsbetroffenermit dem Lebensstandard der Gesamtbevölkerung in Beziehung setzen (man spricht daher von «relativer Armut»). Nach einer ökonomisch orientierten Definition hingegen ist arm, wer in einem Haushalt lebt, dessen Einkommen unterhalb der Armutsgrenze liegt. Gemäss Berechnungen der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) liegt die Armutsgrenze für eine Alleinerziehende mit zwei Kindern bei 3800 Franken. Für ein Paar mit zwei Kindern liegt die errechnete Armutsgrenze bei 4600 Franken. Gemäss Schätzungen des Hilfswerks Caritas leben in der Schweiz 700 000 bis 900 000 Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Davon sind 260 000 Kinder – pro Schulklasse zwei bis drei. Regula Heggli, Leiterin Sozialpolitik bei Caritas Schweiz, sagt: «Armut ist damit keineswegs ein Randphänomen.» 50 Prozent der Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Besonders armutsgefährdet sind Kinder mit alleinerziehenden Eltern, Kinder mit mehr als zwei Geschwistern und solche mit Migrationshintergrund.
Kinder, deren Familien zu wenig Geld haben, essen weniger gesund, leben häufig an einer benachteiligten Wohnlage, sind «uncool» gekleidet. Von Armut betroffene Kinder haben häufig ein schlechteres Selbstwertgefühl, entwickeln Schulschwächen. Studien zeigen: Nicht nur Reichtum wird vererbt, sondern auch Armut. Der Basler Soziologieprofessor Ueli Mäder: «Der Bildungsstand der Eltern und deren finanzielle Möglichkeiten tragen zur Reproduktion der sozialen Ungleichheit bei – aber auch Vorurteile des Lehrpersonals sowie schulische Inhalte, die sich an der Mittelschicht orientieren.»
Falle Armut
Erstklässlerin Amina hingegen begreift noch nicht, dass die Familie mit einem kleinen Budget auskommen muss. «Sie ist diejenige, die immer wieder nach etwas verlangt », sagt die Mutter. Via Hilfswerk Caritas hat Amina eine «Gotte» bekommen, die mit ihr alle paar Wochen etwas unternimmt, mit ihr bastelt oder in die Natur hinausgeht.
Obwohl Claudia Hensle seit der Trennung von ihrem Mann Kontakte aufgebaut hat, verfügt die Familie nur über ein kleines soziales Netz.
«Wir haben es gut als Dreiergespann», sagt Hensle. Ihr Leben hat sie nun wieder im Griff. Doch die Schulden, die ihr Exmann angehäuft hat, liegen als schwere Last auf ihren Schultern. Würde sie eines Tages mehr verdienen, könnten die Gläubiger wieder vor der Türe stehen. So sagt sie: «Ich habe wenig Aussicht darauf, ein besseres Leben führen zu können.» Träume aber hat sie trotzdem: «Ich möchte eine Ausbildung machen, eine grössere Wohnung finden», sagt sie. Doch das muss warten – Claudia Hensle hat zurzeit keine Reserven: «Die vergangenen drei Jahre habe ich gearbeitet, um all dies aufzubauen. Nun muss ich zuerst mal durchatmen.»
**Alle Namen sind von der Redaktion geändert worden.*