
Flurin Bertschinger
Monatsgespräch
«Kein Kind ist faul»
Von Ivetta Malaci-Dadecko
30 Jahre lang hat Sepp Holtz in seiner Praxis Kinder behandelt und dabei miterlebt, wie sich Sorgen und Nöten der Eltern verändert haben. Er plädiert dafür, dass Eltern ihren Kindern den Lead überlassen.
«wir eltern»: Herr Holtz, sind die Kinder, die Sie als Kinderarzt behandeln, heute anders als in den 80er- oder 90er-Jahren?
Sepp Holtz: Die Kinder ändern sich kaum. Aber die Eltern – oder wir als Gesellschaft.
Sind die Ansprüche an die Kinder gestiegen?
Ja. Die meisten Eltern von heute bemühen sich intensiv, allen Herausforderungen gerecht zu werden und ihr Kind optimal zu fördern. Interessant ist, dass das deutsche Wort «Fördern» von «Fordern» kommt. Das widerspiegelt eine Anspruchshaltung, die mir keine Freude bereitet. Kinder wollen sich eh entwickeln. Wichtig ist die Frage, was wir als Eltern oder Schule tun können, um eine positive Entwicklung zu ermöglichen. Ein Kind muss sich selbstbestimmt entwickeln dürfen. Leider erlebe ich zu viel Förder- und Forder-Wahn. Wenn ich von jemandem höre, ein Kind sei faul, muss ich leer schlucken. Wenn ein Kind «faul» ist. kann sich der angeborene Entwicklungsdrang nicht zeigen, etwas ist verschüttet – ein Ansatz, der mir viel besser gefällt. Auch ein Kind mit einer schweren Behinderung will sich im Kleinen entwickeln. Fast alle Kinder haben die genetische Voraussetzung dazu.
Heute schiessen Diagnosen wie Pilze aus dem Boden – es wimmelt von Befunden wie Lese-Rechtschreibstörung oder ADHS. Wie erlebten Sie diese Entwicklung?
Man schaut heute sicher genauer hin, aber auch anders. In der Anwendung der Diagnostik wird immer klarer, dass es keine klaren Kategorien gibt wie ADHS oder Nicht-ADHS. Häufig handelt es sich um ein Spektrum. So wie man vom Autismus-Spektrum spricht. «Hyperaktivität» etwa kann man nur dann definieren, wenn man weiss, was Normaktivität ist. Es gibt Studien, die zeigen, dass Kinder im Alter von 7 bis 10 Jahren das grösste Bedürfnis nach Bewegung haben. Ausgerechnet in diesem Alter müssen sie in der Schule viel sitzen, und normaler Bewegungsdrang wird dann als Hyperaktivität missinterpretiert. Ich habe ganz wenige Kinder mit einem ausgeprägten «echten» ADHS erlebt, das sich nicht aus Überforderungssituationen bei Teilleistungsschwächen erklären lässt.
Wir erleben rasante Veränderungen bezüglich Technik und Kommunikation. Wie beeinflusst das die Entwicklung der Kinder?
In den 80er- und 90er-Jahren hat Remo Largo einen Neuromotorik-Test zur Untersuchung der motorischen Geschicklichkeit bei Kindern entwickelt, an welchem ich mitgearbeitet habe. In einer Neuvalidierung hat es uns interessiert, ob sich die Feinmotorik der Daumen bei der Nutzung des Handys verändert oder ob die Kinder gar ungeschickter wurden, da sie mit iPads und Handys vermehrt nur herumsitzen. Neurologisch ist die Antwort: Nein. Es braucht viel länger bis sich körperliche Veränderungen abzeichnen. Das eine ist Neurologie, das andere Anpassung. Wenn ein Kind nicht übt zu balancieren, dann kann es das nicht. Genetische Veranlagung bekommt man geschenkt, aber um die Veranlagung optimal einzusetzen, muss man üben.
Wieviel Screen-Zeit ist Ihrer Meinung nach noch gesund?
Je länger man mit der Bildschirmzeit wartet, desto besser. Viele dieser Cartoons sind eine massive Überforderung. Ein Kind im Vorschulalter kann diesen schnellen Bildwechseln kaum folgen.
Sepp Holtz (* 1956) hat als Kinderarzt Tausende von Kindern behandelt. Sein Wegbegleiter war Remo Largo, dessen medizinische Haltung in der Kinderheilkunde ihn bis heute prägt. Zusammen erstellten sie Lehrfilme über kindliches Spiel-, Ess- und Erkundungsverhalten und die Motorik. Zuletzt war Sepp Holtz Oberarzt am Kinderspital Zürich. Nach 30 Jahren Praxistätigkeit geht er 2023 in den Ruhestand.
Im Podcast «Familienbande», den Sepp Holtz zusammen mit Pro Juventute, dem Kinderspital Zürich und der Elternbildung CH produziert, unterhält er sich mit seiner Tochter. Mit ihr spricht er über Sorgen, Ängste und Botschaften, die in den Fragen der jungen Mutter verborgen liegen. Ein guter Begleiter im anspruchsvollen Eltern-Job.
Also am besten gar kein Bildschirm?
Ich empfehle den Eltern, Kindern im Vorschulalter – wenn überhaupt – Filme zu zeigen, die man immer wieder anschauen kann und dies, wenn möglich, gemeinsam mit den Kindern zu tun. Die Altersempfehlung muss berücksichtig werden, das Tempo soll langsam sein. Kinder geniessen das. Von Eltern gutgemeinte «lehrreiche» Filme können ein kleines Kind ebenso überfordern wie ein rasanter Trickfilm. Auch ein neues, aufregendes Buch beim abendlichen Schlafritual kann bei einem Kind auslösen, dass es hellwach ist, statt herunterzukommen. Toll sind Rituale, deren Ablauf die Kinder gut kennen. Das verschafft ihnen Sicherheit und fördert die Entspannung.
Eltern sind mitunter überfordert, wenn ihre Kinder hartnäckig Videospiele oder Fernsehzeit verlangen.
Ich erlebte häufig, dass Primarschulkinder sich darüber beschwerten, dass ihre Eltern sie nicht gamen lassen. Ich ging über das Fit-Modell heran: Bringt mein Kind die Leistung in der Schule? Hat es Freunde im realen Leben? Macht das Kind am Esstisch mit? Dann können die Eltern dem Kind Medienzeit zugestehen, denn es ist im Alltag ja integriert. Wenn ein Kind die Hausaufgaben aber nicht macht, weil es ständig am Handy hängt und die Freunde nur noch virtuell trifft, und wenn alle am Tisch, auch die Eltern, ins Handy starren und nicht mehr miteinander reden, empfehle ich, die Medienzeit zu kappen. Zu viel Medienzeit ist das Symptom eines Übels, nicht die Ursache.
Ein anderes Thema: Loben. Soll man es wirklich unterlassen?
Von übertriebenen Loborgien halte ich nichts. Ich glaube daran, dass aufrichtiges Interesse am Kind wertvoller ist, auch wenn etwas schiefläuft. Der Weg ist das Ziel. Ich halte es mit dem Komiker Karl Valentin, der gesagt haben soll: Wir brauchen unsere Kinder nicht zu erziehen, sie machen uns sowieso alles nach. Die Frage ist, was kann man einem Kind zumuten, ohne es zu überfordern? An diese Grenze würde ich gehen. Dort ist für das Versuchen allenfalls Lob angezeigt. Wenn wir die Hände sinnbildlich mehr auf den Rücken legen, geben wir einem Kind die Möglichkeit zu zeigen, wo es steht und wozu es fähig ist.
Was meinen Sie genau mit «Hände auf den Rücken legen»?
Das ist eine Haltung gegenüber dem Kind. Es bedeutet, nicht zu sehr anzuleiten, aber sehr wohl ehrliches Interesse an den Aktivitäten des Kindes zu zeigen. Eltern tun sich und den Kindern einen Gefallen, dem Kind den Lead zu überlassen und allenfalls nur zu reagieren.
Apropos Lead überlassen: Mein vierjähriger Sohn hilft mir liebend gerne in der Küche. Das artet allerdings oft im Chaos aus. Ein Dilemma!
Ein Kind möchte die Eltern imitieren, das ist angeboren. Eltern sollen sich überlegen, wie sie das Umfeld gestalten, damit das Kind teilnehmen kann. Es muss Erfolgserlebnisse haben, ohne dass die Eltern dabei durchdrehen.
Remo Largo und ich haben vor über 20 Jahren einen Lehrfilm über Essverhalten der Kinder gemacht. In der Vorbereitungsphase hat mir eine Grossmutter erzählt, ihr 1-jähriges Enkelkind könne sauber essen. Sie hat ihm ein so grosses Lätzchen genäht, dass sie ihm damit die Hände nach hinten binden, und es sauber füttern konnte. Sie hat es gut gemeint, aber gleichzeitig eine sensible Phase der Entwicklung unterbunden: Es geht nicht darum, dass der Tisch und der Boden sauber bleiben, sondern darum, dass ein Kind lernt, selbstständig zu essen, und das geht nur über spielerisches Üben.
Wie sehen Sie die heutige Rolle der Eltern?
Ich habe grosse Hochachtung vor den Leistungen der Eltern. Gleichzeitig merke ich: Viele Eltern gelangen, wie auch früher, in der Bewältigung des Alltags zeitweise an ihre Grenzen. Dies gilt nicht nur für Eltern. Auch ich ertappe mich dabei, nicht genügend Erholung einzubauen. So kommt es vor, dass ich auf dem Weg zur Arbeit noch ein medizinisches Gespräch über die Freisprechanlage führe. Früher habe ich während der Fahrt über Gott und die Welt nachgedacht. Wenn Eltern auch in diesem Kreislauf gefangen sind, leiden die Kinder darunter.
Worunter genau leiden die Kinder?
Kinder brauchen innere und äussere Verfügbarkeit von vertrauten und verlässlichen Personen. Äussere Verfügbarkeit meint hier die kontinuierliche Zeit, die man einem Kind widmet. Es braucht, um vertraut zu werden, eine gewisse Quantität an Zeit, sei es bei Eltern oder einer Bezugsperson in der Krippe. Die Idee einer ausschliesslichen «Quality Time» genügt nicht, wenn man das Kind nicht gut kennt.
Und was wäre die «innere Verfügbarkeit»?
Innere Verfügbarkeit geht mit einer inneren Ruhe einher. Hier ist die Frage, ob man als Elternteil so unter Alltagssorgen leidet, dass man keine Nerven mehr für die Kinder hat und sie vor den Bildschirm setzt, damit man seine To-Do-Liste abarbeiten kann. Zum Elternsein gehört, dass man müde und ausgelaugt ist, das ist normal und kein Zeichen von Versagen. Besonders Alleinerziehende haben eine grosse Last zu tragen und stellen häufig die eigenen Bedürfnisse weit nach hinten. Ich versuche gestressten Eltern zu raten, sich Erholungsinseln zu schaffen, um zur Ruhe zu gelangen. Danach besteht die Chance, wieder verfügbar zu sein.
Wir Eltern sind oft unheimlich gefordert – Kinder sollten sich doch auch einmal mit sich selbst beschäftigen können!
Kinder dürfen auch lernen, mit Langeweile umzugehen und aus sich heraus etwas zu entwickeln. Es gibt Kinder, denen das schwerer fällt, da braucht es eine motivierende Umgebung. Kinder müssen nicht den ganzen Tag von den Eltern geführt und bespasst werden. Sie müssen auch ihr eigenes soziales Umfeld pflegen. Eltern sollten sich erlauben dürfen, das Kind, aber auch sich selbst glücklich zu machen.