Elternkolumne
Egoismus in Zeiten der Pandemie
Echt jetzt!? In der Zeit von Corona wird oft an Rücksicht und Solidarität appelliert. Ist das wirklich nötig, fragt sich unser Kolumnist Reto Hunziker
Ich weiss nicht, ob ich in meinem Leben schon einmal so wütend auf andere Menschen war. Auf jene Corona-Ignoranten, die in Kauf nehmen, dass andere leiden, nur damit sie selbst es möglichst bequem haben. Auf solche, die nicht einsehen wollen, Teil der Gesellschaft zu sein – weil es ihnen derart gut geht, dass sie auf andere nicht angewiesen sind. Und auf solche, die sich bockig stellen, weil sie mal etwas nicht zu hundert Prozent selbst entscheiden können.
Ich habe mich gefragt: Wurden die nicht erzogen? Und sind die nicht verheiratet? Irgendwer musste es ihnen doch im Verlauf des Lebens erklärt haben: Als Egoist kommst du nicht weit. Moment, so stimmt das nicht. Sie sind ja immerhin so weit gekommen, erwachsen zu werden, ohne mitbekommen zu haben, dass sie es als Ego nicht weit bringen. Das ist eigentlich schon arg weit. Vielleicht besser: Als Egoist machst du dich unbeliebt. Wobei, das ist den meisten Egoisten wohl eh egal. Es ist schlicht falsch, nur an sich zu denken. Irrational, asozial, arschig.
Auch ich musste das lernen. Denn wir sind von Geburt an reichlich egoistisch. Wer Geschwister hat, lernt aber rasch zu teilen. Zwangsläufig. Schön demonstriert, dass man Rücksicht nehmen soll, bekommt man auch in einer Partnerschaft. Zum Beispiel, wie bei mir, in Form eines «Das hat mich verletzt», geäussert von meiner Frau. Wäre ich meine Frau und sie hätte gesagt, was ich gesagt habe, ich wäre nicht verletzt. Aber sie war verletzt – und das alleine müsste mich interessieren. Ich möchte nicht, dass meine Frau verletzt ist, selbst wenn ich das Gefühl habe, sie sei zu Unrecht verletzt. Die einfachste Lösung ist, dass ich mir von ihr erklären lasse, was sie verletzt hat, akzeptiere dies, verlaute, dass es nicht meine Absicht war, sie zu kränken und versuche, es künftig zu vermeiden. Nicht ganz einfach, schon klar, weil: Stolz und so. Aber im Grunde enorm logisch.
Das gleiche Schema in der Schokokuss-Debatte. Selbst wenn ich als Hellhäutiger der Ansicht bin, dass der M-Kopf schon immer so geheissen und sich jahrelang niemand daran gestört hat und ich ausserdem finde, der Begriff sei doch nicht der Rede wert, müsste es mir doch einleuchten, hier auf jene zu hören, die es betrifft. So wie ich ja auch niemandem, der sich das Bein gebrochen hat, sage, wie wenig ihn das zu schmerzen habe.
Ähnlich bei Homöopathie. Wissenschaftlich ist nicht erwiesen, dass die Wirkung von Globuli über den Placebo-Effekt hinausgeht. Dennoch übernehmen die Krankenkassen die Kosten dafür, wofür am Ende der Steuerzahler in die Tasche greift. Ist das fair? Na, sehen wir es mal so: Wenn sich eine Patientin (aus Solidarität verwende ich das generische Femininum) dank Globuli besser fühlt, dann könnte ich das doch positiv sehen, sogar wenn ich Homöopathie-Gegner bin. Spart womöglich Gesundheitskosten, weil der Betroffenen etwa lange Abklärungsprozesse erspart bleiben. Und glauben muss schliesslich nicht ich daran, sondern sie.
Ebenso bei Feminismus, Religion und in vielen allen anderen Bereichen des Lebens. Eigentlich immer, wenn es um «die Gesellschaft» geht. Die Stich- respektive Zauberworte dazu lauten Empathie und Toleranz. Auch was ich nicht verstehe oder nicht gutheisse, muss ich manchmal mittragen. Manchmal zähneknirschend. Ich bin zum Beispiel nach wie vor nicht von der Dringlichkeit von neuen Kampfjets überzeugt. Aber wenn sich eine Mehrheit damit besser fühlt. Dann halt.
Partnerschaften und Familien sind Mini-Gemeinschaften, sie machen uns erst gesellschaftstauglich. Die Corona-Prävention oder das Impfen sind soziale Experimente wie das Gefangenendilemma. Wer macht mit, weil er einsieht, dass wir aufeinander angewiesen sind? Wer foutiert sich darum? Am Ende muss eine Mehrheit mitziehen, sonst funktioniert das Konstrukt Gesellschaft nicht. Entsprechend versuche ich, mich möglichst wenig über Intolerante aufzuregen. Weil: Empathie und so.