Die Familie wächst – das Chaos ebenfalls. Allen Grund für unseren Kolumnisten Nils Pickert, eine Liebeserklärung an seinen Clan zu schreiben.
Die Chefin von dem Ganzen und ich kennen uns schon ziemlich lange. Damals wusste ich nicht, dass hinter dem Mädchen mit den baumelnden Beinen auf der Schulfensterbank ein ganzer Clan steht. Aber heute, 20 Jahre später, ist mir auch dieser Teil von ihr ans Herz gewachsen.
Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass Kinder mit einer rüstigen Uroma aufwachsen, mit der sie trotz aller Alters- und Sprachbarrieren (Schwäbisch) gerne Zeit verbringen. Und es ist auch keine Kleinigkeit, dass sich Oma, Opa, Onkel und Tante zu uns auf den Weg gemacht haben, um mit uns gemeinsam das Haus für die Ankunft unseres vierten und letzten Kindes fertigzumachen.
Zimmerkarussell ist angesagt: Emma nach unten, Emil in ihr altes Zimmer und das verbliebene wird renoviert für Theo und das Gummibärchen. Also erstmal für Theo. Wenn Gummibärchen einen richtigen Namen hat und laufen kann, darf es zu seinem Bruder. Vorher liegt es neben mir im Beistellbettchen. Das wird ermüdend, anstrengend und unfassbar grossartig. Familie eben.
Und zwar nicht diese Bilderbuch-Werbespot-Familienlüge, wo Menschen immer bei strahlendem Sonnenschein in schneeweissen Klamotten übers Gras tollen und später breit grinsend irgendwelche Schokoriegel futtern. Nicht dieses antiseptische, fleckenlose Bild von dem, wie es angeblich sein soll. Stattdessen eine volle Dosis Realität. Mit angeheiratetem Stiefvater für meine Liebste und einer Schwägerin für mich, obwohl ich gar nicht verheiratet bin. Mit Halbgeschwistern, die nie etwas anderes waren als «meine kleinen Brüder».
In dieser Realität sind Theo und sein Onkel im Moment so krank, dass sie ihr Innerstes über diverse Körperöffnungen mit der Aussenwelt teilen. Jemand kümmert sich um die beiden, jemand anderes hat Geburtstag, überall liegen Geschenke und Zeug herum. Zimmer werden zugewiesen, Matratzen verteilt, das Haus platzt aus allen Nähten. Mittendrin laute Musik, schallendes Gelächter, Würgegeräusche und ein sehr quengeliger Theo. Hämmern, Schrauben, Möbel herumwuchten. Die sehr schwangere, sehr bezaubernde Chefin von dem Ganzen drückt mir einen Kuss auf den Mund und den Quengel in die Hand, nimmt sich einen Akkuschrauber und macht sich über meinen halbzerlegten Schrank her.
Ich schaukle Theo ein bisschen hin und her und schleiche mit ihm durch das wüste Gebäude, das bis vor Kurzem noch mein halbwegs geordnetes Zuhause war und es hoffentlich bald wieder sein wird. In jedem Zimmer bietet sich ungefähr der gleiche Anblick. Zusammengenommen sieht es aus, als hätte ein Riese mal eben das Dach vom Haus gerissen, um zuerst den Inhalt seiner Taschen über uns auszuleeren und anschliessend eine gigantische Farbbombe auf uns zu werfen. Nachdem er einige Minuten über unsere dummen Gesichtsausdrücke gelacht hat, setzt er das Dach wieder zurück. Und da stehen wir nun. Nichts ist fertig. Alles ist in Arbeit. Niemand hat einen Plan. Jeder weiss es besser.
Ich könnte jetzt furchtbar genervt sein. Vom Krach, Dreck und den Schrullen dieser merkwürdigen Leute. Von dem fiebernden Kleinkind in meinem Arm und dem Starrsinn, mit dem meine Hobbyschreinerin im siebten Monat Mobiliar zerlegt und Sachen schleppt. Davon, dass alle durcheinanderreden, weil jeder etwas unheimlich Wichtiges zu sagen hat, das die anderen kaum interessiert. Von dieser seltsamen Wahlverwandtschaft.
Stattdessen bin ich dankbar. Für die Loyalität, den Irrsinn und die Liebe. Fürs Einfachdasein, wenn es darauf ankommt.
Nachher kommt der Geburtstags-Emil und wie von Zauberhand (irgendwer wird es schon machen) werden ein Kuchen und die restlichen Geschenke auf dem Tisch liegen, die in dem ganzen Chaos mittlerweile kaum noch aufzufinden sind. Der Rest der weitverstreuten Sippe ruft an. Und heute Abend koche ich als Vegetarier meinem Kerlchen sein Lieblingsessen: Hackbraten mit selbstgemachten Spätzle und Rotkohl. Das klingt natürlich vollkommen verrückt. Ist aber… Familie. Meine Familie.
Nils Pickert
Nils Pickert (Jahrgang 79) arbeitet als freier Journalist und bloggt u.a. für «wir eltern». Mit pinkstinks.de engagiert er sich gegen Sexismus in der Werbung. Er lebt mit Frau und 4 Kindern in Kiel.