Kinderhort
Die strengen Fräulein
Im Hort simmer nöd alli glücklich gsi – aber für eus Chinder häts halt müesse si», heisst die erste Zeile eines Gedichtes, das Inge Werner kürzlich für ein Horttreffen geschrieben hat.
Jetzt sitzt die 68-Jährige auf dem weissen Sofa in ihrem mit Kolonialstilmöbeln eingerichteten Wohnzimmer und reicht zum Kaffee buttrig zarte Vanille-Baumnuss-Makrönchen. Selbstgebacken, versteht sich. Und schnell wird klar, dass Inge Werner nicht nur gut backen kann: Egal, was die beschwingte alte Dame anpackt, sie tut es mit Leidenschaft. Mit Hingabe erzählt sie auch ihre «Hortgeschichten», gestikuliert, springt auf, sinniert: «Alles ergibt heute einen Sinn – auch die vielen schwierigen Momente in meinem Leben.»
Inge war noch keine fünf Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter mit einem Flüchtlingstransport des Roten Kreuzes 1947 aus Leipzig in die Schweiz kam. In Zürich gestrandet, fand Inges Mutter schnell Arbeit als Schneiderin. Ein Glück für die Kleinstfamilie, denn eine Arbeitslosenentschädigung gab es damals noch nicht. Da Inge ihren Grosseltern zu wild war, blieb nur der Hort. «Anfangs habe ich jeden Morgen geweint, aber das half natürlich nichts, es ging nicht anders.»
Wie für viele andere Kinder auch, war für Inge Werner der Hort damals die einzige Institution, die sich der Betreuung der Kinder ausserhalb der Schule annahm. Die Vorläufer der Tagesstätten hatten vor allem eine Funktion: Die Gesellschaft vor asozialem Gesindel zu schützen. Man sprach von sogenannten «Bewahrungseinrichtungen mit fürsorgerischem Charakter», wie aus der Chronik der Stadt Zürich hervorgeht. Damals eine schiere Notwendigkeit. Denn die Industrialisierung spülte im 19. Jahrhundert zuhauf Kinder auf die Strasse, die in der schulfreien Zeit sich selber überlassen waren.
Vor genau 125 Jahren eröffnete die Stadt Zürich den ersten Hort. Dieser hatte nicht mehr «fürsorgerischen», sondern «pädagogischen » Charakter. Wobei die Amtsmänner sich schon damals vornehmlich um das erzieherische Manko von Buben sorgten.
«Der Jugendhort», beschreibt die Gründerliteratur, «soll die Schüler vom verderblichen Gassenleben fernhalten und der Verwahrlosung entgegensteuern.» Nutzniesser der ersten Einrichtung waren 25 Knaben. Wobei das erzieherische Konzept fern jeder Kuschelpädagogik lag – es glich vielmehr einer Therapie mit Vorschlaghammer: «Wichtig ist die Einwirkung auf das Kind durch Gewöhnung, Zucht und Ordnung, Reinlichkeit, gute Sitte und fleissige Arbeit», heisst es in den archivierten Dokumenten.
Inge Werner lacht: Nein, so hartherzig ging es bei ihr in den 40er-Jahren nicht mehr zu und her. «Die Fräulein», erzählt sie, «waren zwar streng und manchmal missmutig, aber richtig gezüchtigt wurden wir nicht.»
Dennoch: Einige der pädagogischen Massnahmen scheinen aus heutiger Sicht noch immer einem Gruselkabinett entsprungen. Da hiess es zum Beispiel, bei Tisch den Teller leer zu essen. Für die hungrige Inge war das kein Problem. Aber sie erinnert sich an vier kleine Mädchen, die Tag für Tag verzweifelt die Speisen herunterzuwürgen versuchten. Das konnte Inge nicht mitansehen: «Ich schlich zu den Kindern und ass die Resten von ihren Tellern.»
Was heute als körperlicher Übergriff geahndet würde, verstand man damals als Förderung von Wohlanständigkeit: Insbesondere die Jungen wurden von den Fräulein kräftig an den Ohren gezogen oder an der besonders fiesen Stelle am Schläfenhaar gezupft.
Der Hort war immer auch Spiegel der Gesellschaft. Früher wurden Erziehungs- und Betreuungsprobleme grundsätzlich innerhalb der Grossfamilie gelöst: Eltern, Geschwister, Grosseltern und Gesinde hegten, pflegten und züchtigten die Brut im Kollektiv. Der Staat kümmerte sich bestenfalls um die Kinder von «gefallenen Müttern» oder jene aus komplett verwahrlosten Familien: So fungierte der Hort schlicht als Auffangnetz für Arme.
Während und nach den beiden Weltkriegen nahm die Zahl der Horte zu – noch immer aber waren sie Sammelbecken für Kinder von Arbeitslosen oder krisenbetroffenen Familien. Und selbst Anfang der 1980er-Jahre haftete den Kindertagesstätten noch der Ruch der Armengenössigkeit an. Wer sie nutzte, hatte ein familiäres Problem. Gewandelt hat sich das Bild des Hortes erst im Laufe der 80er-Jahre: Seit eine Generation von gut ausgebildeten Frauen ihren Job nicht mehr einfach quittiert, wenn das erste Kind zur Welt kommt. Die Mütter wollen weiter arbeiten – aber auch ihre Kinder gut betreut wissen. Die Nachfrage nach Betreuungsplätzen hat seither stets zugenommen: In der Stadt Zürich besuchen heute 10 000 von 26 000 Kindern einen Hort.
Der Zürcher Stadtrat und Schulvorsteher Gerold Lauber sieht sich nicht nur mit einer erhöhten, sondern auch einer veränderten Nachfrage konfrontiert: «Heute möchten Eltern, dass ihre Kinder den Hort dort vorfinden, wo sie auch zur Schule gehen.» Das ist noch längst nicht überall der Fall. Das Ziel sei deshalb, die getrennten Institutionen Schule und Hort pädagogisch und geografisch zusammenzuführen. Und daraus den «Lebensraum Schule» zu gestalten.
Auch wenn für Inge Werner Schule und Hort mehr Pflicht als Lebensraum war, pflückt sie aus ihren Erinnerungen lieber die Blumen statt das Unkraut. «Als Einzelkind», erzählt sie, «freute ich mich einfach darüber, so viele Gspänli zu haben, das war viel besser als zu Hause alleine rumzuhocken.» Vom Chindsgichind bis zum Sekschüler besuchten ja alle dieselbe Tagesstätte. Klar, vor dem grossen und starken Herrmann fürchtete man sich ein wenig, sein männliches Gebaren schüchterte ein. Aber mit den Jahren gehörte auch Inge zu den Grossen – den «Habitués», wie sie sich vornehm ausdrückt.
Im Sommer auf den Spaziergängen im Wald bauten die Mädchen Puppenhäuschen aus kleinen Ästen und Moos. Am liebsten jedoch bastelte, werkelte und strickte Inge. Die Krönung der Woche aber sei jeweils das Mittagessen am Freitag gewesen: «Nach der Suppe gab es zum Dessert Berliner mit Vanillecreme.» Nur die Besuche in der Waffelfabrik in Altstetten mit Fräulein Därner waren noch schöner. Dort erhielten die Kinder jeweils zwei Tüten voll mit Ausschussware.
Heute versteht sich der Hort als öffentliche Dienstleistung. Therese Domfeld, Fachbereichsleiterin Tagesstrukturen im Schulamt Zürich, bezeichnet Eltern denn auch als Kunden: «Diese brauchen flexible Lösungen – deshalb müssen die Horte künftig noch bedarfsgerechter werden.»
Flexibilität und elterliche Forderungen waren im Hort, den Inge Werner kennt, Fremdwörter. Hat sie deshalb Schaden davon getragen? «Nein! Der Hort hat mich beschenkt und stark gemacht», sagt sie und erzählt ihre Geschichte zu Ende: Als sie 11 Jahre alt war, schafft es auch ihr Vater, aus der DDR zu fliehen und wieder mit Frau und Kind zusammenzuwohnen. Inge aber empfindet ihn als Eindringling. Und irgendwie als Grund für die späteren missglückten Männerbeziehungen. Zweimal hat sie geheiratet und sich wieder scheiden lassen, sie zog drei Kinder gross, teilweise allein, und hat heute zwei Enkelinnen. Eine Liebesbeziehung aber pflegt sie seit den 50er-Jahren: jene zu Elvis Presley. Der Rockmusiker steht als lebensgrosser Pappkarton in Inge Werners Büro und im Schlafzimmer beschützt er sie grossformatig eingerahmt an der Wand. In unzähligen Alben sammelt sie noch heute alles, was sie über ihr Idol in die Hände kriegt. «Mein Leben», sagt das ehemalige Hortkind, «ist heute einfach perfekt.»