Schulheim
Die Kinder von Kasteln
Julian liebt diese Ziegen. Jeden Morgen, bevor es richtig hell ist, stapft der Neunjährige mit hartem Brot und Gemüse durch die noch feuchte Wiese, um sie zu füttern. Manchmal guckt er zu, wie die Geissen sich mit ihren Hörnern stossen, herumhüpfen oder durch das steinige Gelände rund ums Schloss klettern. Besonders den weissen Bock hat er gern: «Den mag ich, weil er total ängstlich ist und wunderbar weich.» Schwierig und liebenswert ist schliesslich kein Widerspruch. Das gilt im Schloss Kasteln für alle.
32 verhaltensauffällige Mädchen und Jungs wie Julian leben hier hoch über Oberflachs zwischen den Weinbergen. 32 Kinder, die die Simpsons mögen, Fussball, Pommes, das Alpamare und zu lange Geschichten haben für ihre 8 bis 16 Jahre. In keiner davon fehlt das Wort «überfordert». Da waren Regelschullehrer mit dem ewig störenden Viertklässler überfordert. Mütter von Geldsorgen, Ehestreit und Arbeitsstress. Und Kinder waren überfordert durch depressive Eltern, Väter, die ihr Kind zur Strafe unter die kalte Dusche stellen. Onkel, die allzu nett zum Gottenmaitli waren und durch Familien, in denen es alles gibt, ausser Zeit füreinander.
Passt – passt nicht.
Ins Sonderschulheim Schloss Kasteln kommt, bei wem integrative Förderung, Familienbegleitung und schulpsychologischer Dienst gescheitert sind, oder wer von Geburt an mehr Heimstationen als Gutenachtküsse erlebt hat.
Wie Sylvie. Statt Bilder von Mama oder Papa hat die schmale 12-Jährige Fotos ihrer diversen «Bezugspersonen» ins Album geklebt: Sylvie mit Bezugsperson 1 bei der Fasnacht. Sylvie mit Bezugsperson 2 beim Bräteln. Sylvie neben Geburtstagskuchen und Bezugsperson 3. Das abgewetzte Plüschpony «Harmony», an das sie sich zum Einschlafen kuschelt, ist das Abschiedsgeschenk aus ihrem ersten Heim. Nicht eins von Mama zur Geburt. Die sieht sie ohnehin selten. «Meist auf Facebook.»
Jetzt sitzt Sylvie hier bei Frank Steinmüller im Deutschunterricht. Thema: 100 wichtige Wörter. Diktat. Langsam liest der Lehrer vor: «Ich», «alle», «kommen», «viele»… «Ein wichtiges Wort fehlt: Arschloch!», ruft Micha in die Klasse. Sylvie schüttelt ärgerlich den Kopf. Sie will sich nicht ablenken lassen. Sie möchte die Schule gut machen, damit sie vielleicht später einmal Tierpflegerin werden kann. Oder auf einem Bauernhof arbeiten. Das muss doch zu schaffen sein, ein ganz normales Leben: «Mit Tieren. Vielleicht auch mit Familie. Das muss ich mir aber noch überlegen.»
Sylvie
Die 12-Jährige nagt am Bleistift. «Viele»? Wie schreibt sich das? Mit F? Mit V? Mit ie oder doch i? Wie war das noch gleich? Gestern hat sie die Wörtli doch extra noch geübt! Sich zu konzentrieren, fällt Sylvie schwer. ADS, Aufmerksamkeitsdefizit heisst ihre Diagnose. Ruhig bei der Sache zu bleiben, ist eine Herausforderung, und auch zu erkennen, was das bedeutet, «sich passend zu verhalten ». Darf man bei Ärger schreien? Jemanden, den man mag, einfach umarmen? Schwierig. In einer Regelklasse hätte Sylvie keine Chance. Andere in ihrem Alter pauken statt «viele» das Passé composé und rechnen mit x und y. Aber bei 25 (statt wie hier 7) Kindern pro Klasse bleibt keine Zeit für Probleme. Wer nicht in die Norm passt, fällt raus. Die Zahl der nicht Passenden steigt. Allein im Schloss Kasteln gibt es etwa fünfmal so viele Bewerber wie freie Plätze.
Im Kanton Zürich etwa wurden im Jahr 2001 2412 Mädchen und Jungen in einer separierten Sonderschule unterrichtet. Im Jahr 2011 waren es 2858. 2005 lautete bei 784 dieser Kinder die Diagnose «Verhaltensauffälligkeit », 2011 bei 877.
Diktat der «Exzellenz»
Im Kanton St. Gallen ist, laut «Weltwoche», seit den 90er-Jahren ein Zuwachs an Sonderschülern um 40 Prozent zu verzeichnen, wobei die Zahl der geistig- und körperlich behinderten Sonderschul-Klientel naturgemäss konstant geblieben ist.
Was läuft da falsch? Erzeugt das Angebot die Nachfrage? Werden Lehrer übersensibel und melden vorschnell die beiden anstrengendsten Schüler der Klasse zur Sonderbeschulung an? Gilt, wie es der Pädagoge Wolfgang Bergmann schreibt, in der Gesellschaft ein Diktat der «Exzellenzpädagogik», das Hürden aufstellt, über die nur die Besten kommen oder zumindest nur die, die nichts mit sich rumschleppen? Oder werden die Kinder schwieriger? Die Abgabe des ADHS-Medikamentes Ritalin ist, laut einer Studie des Bundesamtes für Gesundheit, innerhalb von nur drei Jahren um 40 Prozent gestiegen.
Auch im Schloss treten die meisten Schüler mit Rezept und Tabletten ein. «Vor 15 Jahren, als ich hier anfing, war es genau umgekehrt», so Schulheimleiter Toni Bächli. «Damals nahmen nur wenige Medikamente. » Heute bekommen 80 Prozent etwas gegen Unruhe und Traurigkeit.
Lägen da nicht diese Pillen neben den Tellern, wäre beim Mittagessen in der Wohngruppe Urgiz nichts davon zu merken. Die acht Kinder lachen, mäkeln über die Erbsen zum Essen, bringen die bunte Girlande überm Tisch zum Wackeln, verplanen den freien Mittwochnachmittag, räumen die Spülmaschine ein, meckern darüber, dass sie staubsaugen müssen und tun es dann doch – ganz wie es in einem kreuznormalen Familienleben eben ist.
Vorbilder gesucht
Nur kennen tun das die wenigsten von ihnen. Intakte Familien sind hier so häufig wie vierblättrige Kleeblätter auf der Wiese. Präsente Väter auch. Sie fehlen als Entlastung der Mutter, sie fehlen als Geldverdiener und – sie fehlen als Vorbilder. Frank Steinmüller springt da schon mal in die Bresche. «Sie, Herr Steinmüller, wann gehen wir wieder biken?» «Sie, Herr Steinmüller, wie wärs mit ner Runde Tischtennis?», «Sie, Herr Steinmüller » vorne, «Sie, Herr Steinmüller» hinten.
Männer, die ansprechbar sind, gerne lachen, Skippo, Monopoly oder Fussball mit ihnen spielen, kennen nur wenige der Kasteln- Schüler von daheim. Auch keine, die klare Regeln vorgeben. «Richtlinien sind hier wahnsinnig wichtig», sagt der Lehrer, «Strukturen. Orientierung. Die Kids müssen wissen, was wann ansteht. Was geht und was nicht.» Deshalb steht an der Tafel minutengenau das Tagesprogramm und deshalb gibt es einen unumstösslichen Sanktionskatalog: Gegenstand werfen: 1 Strafpunkt. Mobbing: 5 Punkte. Fluchen: 1 Punkt. Furzen: 3. Je besser die Bilanz der Klasse, desto grösser die Chance auf einen Ausflug, einen Film oder eine Velotour.
Gärtchen statt Dschungel
Grenzen und Leitplanken, damit haben hier viele Probleme. Mirco beispielsweise, der mit seinen zehn Jahren zu Hause gewohnheitsmässig bestimmt hat, was gekocht wird, welche Turnschuhmarke gefälligst zu kaufen ist und Lehrer eher als Lakaien denn als Autoritäten angesehen hat. Da ist Sven, der seine Wut nicht recht in den Griff kriegt und der 13-Jährige, der findet: «Unterricht? Nö, keinen Bock drauf.» Sie alle lernen hier erst mal, dass der Alltag kein Dschungel ist, sondern ein Gärtchen. Ordentlich aufgeteilt in Beete für Rosen, Stachelbeeren und Blumenkohl. Aufwendig zu pflegen, dafür verlässlich und – weniger beängstigend.
Angst hat der achtjährige Fabio häufig. Mit acht Jahren ist man klein. Zu klein zumindest für das Kuddelmuddel von Mama, Pflegefamilie und Verantwortung für drei kleinere Geschwister. Selbst die Bettwäsche, die sich jedes Kind beim Eintritt ins Schloss aussuchen darf – «Meine hat ganz herzige Delphine! » – wollte er nicht mit seinem Namen anschreiben: «Denn dann kann ich das doch nicht an meine Brüder weitervererben.» Jetzt wuselt er vergnügt durch die Gänge, versucht, die Besucherin charmant zu überzeugen, dass zwei Januargeborene sich doch vielleicht mal ein schönes Geschenk machen könnten – vor allem die Ältere dem Jüngeren – und zeigt in seinem Zimmer stolz sein sonnenbeschienenes Bett, das Foto von Mama und den Geschwistern an seiner Pinnwand, das «fast ganz selbst genähte» Kissen, und hilfsbereit gibt er ein gutes Lebensrezept weiter: «Wenn man vor etwas Angst hat, dann muss man eine Taschenlampe nehmen und fest drauf leuchten.»
Fast alle Jungs und Mädchen finden nach einer Weile im Schloss eine Methode, ihr Päckchen zu tragen und trotz des Rucksacks ihren Weg zu machen. Als arme, bedauernswerte Häschen behandelt sie hier niemand. «Ich bin für mein Verhalten selbst verantwortlich », heisst deshalb eine der Regeln im Schlossknigge.
«Mitleid ist unangebracht», sagt Michael Huber, Sozialpädagoge und Leiter der Gruppe Gislifluh. «Mitleid ist herablassend. Die Kinder hier sind voller Fähigkeiten. Man muss sie nur sehen.» Manchmal auch erst freilegen. Wie Samuels gutes Herz, weshalb der 13-jährige unbedingt Altenpfleger werden möchte; wie Lukas Sportlichkeit, Jans Schlagzeugtalent, Alicias Humor … Ein Drittel der Kasteler wird «reintegriert», kommt zurück in die Regelschule und Familie. Auch die anderen schaffen meist eine Lehre oder Anlehre.
Also Happy End für alle? Rosamunde Pilcher im Aargau? Das nun auch wieder nicht. Erst heute Mittag gabs eine Prügelei. Eine Ohrfeige von Josef. Gerangel mit Fabio. Schreierei, Tränen, Gepetze.
Aus den Kindern werden auch im Schloss nicht urplötzlich allzeit brave Lämmchen. Muss auch nicht. Ein bisschen wie die Ziegen zu werden reicht: liebenswert, mit Hörnern – und trittsicher in steinigem Gelände.
**Namen von der Redaktion geändert*