Verzicht auf bestimmte Lebensmittel ist nicht nötig
Die Angst vor Allergien
Von Monika Zech
Aus Angst vor einer Allergien enthalten viele Eltern ihren Kindern gewisse Lebensmittel vor. Neue Studien hinterfragen diese Prävention.
Regula Grossenbacher ist Nahrungsmittelallergikerin. Deshalb riet ihr der Kinderarzt, ihre beiden Kinder mindestens 6 Monate lang voll zu stillen. Sie solle ihnen im zweiten Lebenshalbjahr auch keine Breie mit häufig allergieauslösenden Nahrungsmitteln wie Milch, Eiern, Fisch, Soja, exotischen Früchten, Tomaten und Zitrusfrüchten geben.
Und nun das: Alle diese Vorsichtsmassnahmen, so Grossenbachers Fazit nach der Lektüre diverser Berichte, wären nicht nötig gewesen, eventuell sogar kontraproduktiv. Denn die Karenz, also das Meiden bestimmter Lebensmittel im ersten Lebensjahr, sei nicht nur völlig überflüssig, heisst es neuerdings, sondern fördere vielleicht sogar das Auftreten von Nahrungsmittelallergien!
Allergische Reaktionen sind lästig und weit verbreitet, rund 2 Millionen Schweizerinnen und Schweizer leiden darunter. «Dabei interpretiert das Immunsystem an sich harmlose Eiweissbestandteile aus Pollen, Lebensmitteln oder Hausstaubmilben als gefährliche Krankheitserreger», erklärt Karin Stalder, Mitarbeiterin bei «aha!», dem Schweizerischen Zentrum für Allergie, Haut und Asthma. Es bildet Antikörper, die so aggressiv sind, dass sie zu geschwollenen Schleimhäuten der Atemwege, Schnupfen, tränenden Augen, Husten oder Hautausschlägen führen.
Die «Hygiene-Hypothese
«Betroffene empfinden Nahrungsmittelallergien oft als besonders mühsam, weil sie die Gestaltung des täglichen Menüplans sowie die Ausser-Haus-Verpflegung massiv erschweren», sagt Stalder. Logisch also, dass Eltern ihren Kindern dieses Schicksal ersparen möchten. In den 1980er- und 1990er-Jahren gingen etliche Allergiespezialisten davon aus, dass der Darm von Babys noch unreif sei, weshalb allergene Stoffe aus der Nahrung besonders leicht in den Körper eindringen und die Bildung von Antikörpern fördern können.
Je später ein Kind also mit allergenen Esswaren in Kontakt komme, umso ausgereifter sei der Darm, Eiweissbestandteile könnten nicht mehr so einfach eindringen und Nahrungsmittelallergien entstünden seltener. Sogar die Mütter sollten deshalb während der Schwangerschaft und Stillzeit möglichst auf allergene Menüs verzichten.
Unzählige Eltern hielten sich daraufhin an die rigiden Karenzvorschriften für allergiegefährdete Babys im ersten Lebensjahr. Bis die Hygiene-Hypothese kam. Sie besagt, dass Bauernhof- und Krippenkinder seltener an Allergien leiden als solche, welche in einer keimfreieren Umgebung aufwachsen. Scheinbar lässt der frühe Kontakt mit möglichst vielen verschiedenen fremden Stoffen das Immunsystem toleranter werden. Das gilt auch für Lebensmittel.
Fisch könnte vor Allergien schützen
Diverse Untersuchungen zeigen mittlerweile auf, dass möglicherweise Kinder, die erst spät mit allergenen Lebensmitteln in Kontakt kommen, ein höheres Allergierisiko haben als solche, die bereits im ersten Lebensjahr davon kosten dürfen. «Neue Studien stellen in der Tat in Frage, ob das Vermeiden bestimmter Nahrungsmittel im ersten Lebensjahr sinnvoll ist», sagt Roger Lauener, Chefarzt für Kinder und Jugendliche im Ostschweizer Kinderspital in St. Gallen. Die Amerikanische Gesellschaft für Pädiatrie sowie die Europäische Pädiatrische Ernährungskommission haben deshalb ihre Empfehlungen für die Ernährung allergiegefährdeter Babys geändert.
Alle Babys sollen ab dem 7. Lebensmonat genau das Gleiche essen dürfen, egal, ob sie allergiegefährdet sind oder nicht. Vorher ist ohnehin Muttermilch die beste Vorbeugung gegen Allergien. Sie enthält vom ersten Schluck an reichlich Spuren aus den verschiedensten Lebensmitteln, welche die Mutter isst. Sowohl der Geschmackssinn als auch das Immunsystem des gestillten Babys lernen von ganz früh an die unterschiedlichsten Facetten der Ernährung kennen.
Es gibt sogar Hinweise, dass Fisch in der mütterlichen Ernährung während der Schwangerschaft und Stillzeit besonders schützend vor Allergien wirken könnte. Waren Grossenbachers Bemühungen also tatsächlich umsonst? Eltern müssten jedenfalls kein schlechtes Gewissen haben, wenn sie ihr Kind nicht mehr vorbeugend vor allergenen Lebensmitteln schützen, sagt Lauener: «Eine Garantie, dass ein Kind dereinst frei von Allergien sein wird, kann den Eltern leider niemand geben.» Unbestritten ist, dass Kinder, welche nachgewiesenermassen allergisch auf ein Nahrungsmittel reagieren, dies strikt meiden müssen.
Weitere Informationen unter: www.ahaswiss.ch
ERNÄHRUNGSEMPFEHLUNGEN FÜR BABYS
Schwangerschaft und Stillzeit
Die Mutter darf sich völlig normal ernähren, muss mögliche allergieauslösende Nahrungsmittel nicht meiden.
Die ersten 4–6 Monate
Ausschliesslich Muttermilch oder teilhydrolisierte HA-Milch (für Allergierisikokinder), in Einzelfällen sogenannte vollhydrolisierte Säuglingsmilch.
Ab Ende des 6. Monats
- Muttermilch oder normale Folgemilch
- Zwischen dem 5. und 7. Monat mit Beikost beginnen
- Alle 7 Tage ein neues Nahrungsmittel, damit mögliche Allergien und Unverträglichkeiten sofort erkannt werden können
- Breie mit Kartoffeln, Gemüse, Fleisch, Obst, Getreide, dazwischen Brot oder Reiswaffeln
- Quark, Käse und unverdünnte Kuhmilch enthalten zu viel Eiweiss und sind deshalb bis zum ersten Geburtstag zu schwer verdaulich, Joghurt darf ab dem 7. Monat gegeben werden
- Fisch, Nüsse und Eier sind nicht verboten, allerdings sind Erdnüsse für Kleinkinder bis 3-jährig wegen Erstickungsgefahr ungeeignet
- Vom 1. Geburtstag an darf das Kind am Tisch mitessen
Teilnehmer gesucht für eine Studie: Es geht um eine Studie zum Thema Allergie-Entwicklung und Ernährung. Es werden Mütter gesucht, die bereit sind, im ersten Lebensjahr des Kindes jede Woche einen kurzen Fragebogen auszufüllen und monatlich eine Stuhlprobe einzuschicken. Das Kind würde dann im Alter von 4 Monaten, 1, 2 und 3 Jahren untersucht.
Weitere Info unter www.ck-care.ch/care-kinderstudie