Sind Märchen noch in, fragt sich Opi. Eigentlich schon, denn in ihnen stecken Wahrheiten, die auch heute noch gelten. Aber vielleicht muss man sie etwas anders erzählen.
Es war einmal… Kennen meine Enkel Märchen überhaupt noch? Und soll ich sie ihnen erzählen? Wenn ich ihnen etwas erzähle, dann ist es oft ein Bilderbuch. Am liebsten sind mir dabei Wimmelbücher, in denen man ganz verschiedene Geschichten findet und Figuren und Tiere, die auf jeder Seite vorkommen. Dann können Lio und Opi ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Oder ich spinn ihm eine Geschichte aus den gemeinsamen Erlebnissen, die wir gerade hatten. Aus einem Spaziergang durch den Wald zum Beispiel.
Und die Märchen? Geben wir damit nicht uraltes Erzählgut dem Vergessen preis, wenn wir sie auslassen? Weiss Lio dereinst nichts von Rotkäppchen, Schneewittchen, Hänsel und Gretel und wie sie alle heissen? Klar, die sind nicht immer Kinder like. Aber es sind Geschichten, die unsere Kultur prägten. Müsste man die als Europäer nicht kennen?
Vielleicht muss man sie ein bisschen aktualisieren, denn in vielen von ihnen stecken Wahrheiten, die auch heute noch gelten. Hänsel und Gretel zum Beispiel, die zu Hause keine Grundlage für ein sorgenfreies Leben mehr hatten. Ihre Eltern schicken sie weg in den dunklen Wald. Ist doch antiquiert, hör ich schon. Aber wie viele Hänsels und Gretels sind derzeit rund ums Mittelmeer unterwegs - weit weg von ihrem Daheim, wo sie nicht mehr leben konnten? Wie viele stehen vor dem Lebkuchenhaus Europa?
Oder nehmen wir das tapfere Schneiderlein. Am Anfang seines glanzvollen Aufstiegs bis in die Königshäuser stand der grosse Bluff «Sieben auf einen Streich». Wenn wir uns heute umschauen: Wie viel Bluff und Schein macht Karriere? Nicht an Königshöfen wie im Märchen, aber an den politischen und wirtschaftlichen Schalthebeln der Macht.
Kürzlich ist mir ein anderes Märchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm in die Finger gekommen: «Der alte Grossvater und der Enkel» heisst es und passt in diesen Blog, da es viel über den Umgang der Generationen miteinander aussagt auch in der heutigen Zeit noch. «Es war einmal ein steinalter Mann, dem waren die Augen trüb geworden, die Ohren taub, und die Knie zitterten ihm. Wenn er nun bei Tische sass und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe auf das Tischtuch und es floss ihm auch etwas wieder aus dem Mund.» So beginnt es. Und weil das seinem Sohn und seiner Frau nicht passte, verbannten sie ihn beim Essen mit einer Holzschüssel hinter den Ofen. «Wie sie da so sitzen, trägt der kleine Enkel von vier Jahren auf der Erde kleine Brettlein zusammen. ‹Was machst du da?› fragte der Vater. ‹Ich mache ein Tröglein,› antwortete das Kind, ‹daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich gross bin.›» Das hat gewirkt. Umgehend hat der Grossvater wieder seinen Platz am Tisch.
Blogger Martin Moser
Martin Moser (1959), Produktionschef Tageszeitungen der AZ Medien, ist seit 30 Jahren verheiratet und Vater von drei erwachsenen Kindern. Er hat zwei Enkel (Lionel, 2011, und Enyo, 2014) und legt auch mal einen Opi-Tag ein. Bloggt für «wir eltern» über Opi-Kinder-Enkel-Erlebnisse und -Beziehungen und kramt auch mal in seinen eigenen Erinnerungen.