Wochenbett
Betreuungsnotstand im Wochenbett
Eine Frau ist nach schweren Geburtskomplikationen monatelang bettlägerig. Um ihr Baby und ihre zweijährige Tochter kann sie sich nicht kümmern. Ihr Mann muss arbeiten. Unterstützung von sozialen Institutionen erhält sie keine. Sie ist nicht die Einzige, wie unsere Recherchen zeigen.
Nur ein paar Tage noch, denkt Rahel Rupp, als sie im Dezember 2021 eine Woche nach der Geburt ihrer Tochter das Spital verlässt. Ein paar Tage nur noch, dann würde sie Cataleya wickeln, stillen, selbst für sie sorgen können. Dann würden die starken Krämpfe nachlassen und die ungewöhnlich hohen Entzündungswerte sinken.
Zwei Noteingriffe hat die junge Mutter da schon hinter sich. Unter dem Druck der Wehen war die Kaiserschnittnarbe aus ihrer ersten Geburt aufgeplatzt, ein Riss an der Gebärmutter bis zur Scheidenwand, Cataleya kommt mit einem Notkaiserschnitt zur Welt. Als sich der Zustand von Rahel massiv verschlechtert, muss sie zwei Tage später erneut operiert werden. Trotzdem habe sie so schnell wie möglich nach Hause gewollt, zu sehr habe sie ihre ältere Tochter vermisst, nicht zuletzt hätten sie auch die Ärzte nicht von ihrem Entscheid abgehalten, erzählt die 33-Jährige vor ein paar Monaten im Gespräch. Die Aargauerin hat die Haare straff zum Pferdeschwanz gebunden, die Lippen rot geschminkt, es lässt sie nicht strenger wirken. Sie hat ihre Geschichte schon oft erzählt, aber sie spult sie weder ab, noch macht sie sie zur flammenden Anklagerede. Die Mutter lächelt viel, wenn sie spricht. Fast scheint es, als könnte sie selbst nicht recht glauben, was ihr alles widerfahren ist.
An ein normales Wochenbett ist damals nicht zu denken. Rahel kommt vor Schmerzen wochenlang kaum aus dem Bett. Dazu kommt: Noch im Spital war sie eines Morgens in einem durchnässten Bett aufgewacht. Eine Belastungsinkontinenz, so die Diagnose. Die Inkontinenz wird auch psychisch zur enormen Belastung: «Ich war 31 und musste auf einmal rund um die Uhr eine Windel tragen.» Würde das nun ihr Leben sein? Es sind ihr Mann Stephan und ihre Mutter, die in dieser Zeit nicht nur für sie und Cataleya, sondern auch für die eineinhalb Jahre alte Adriana sorgen und den Haushalt machen. Sein Arbeitgeber hat Stephan Rupp drei Wochen Vaterschaftsurlaub gewährt, und er kann dazu zwei Wochen Ferien nehmen. Mägi Weber wird von der Hausärztin für knapp zwei Wochen krankgeschrieben, damit sie ihrer Tochter helfen kann, die 58-Jährige ist noch erwerbstätig. Niemand ahnt da, dass diese paar Wochen nirgends hinreichen werden.
Die Nachsorge bei der Frauenärztin nach sechs Wochen, ein Routinetermin eigentlich, bringt Rahel endlich den korrekten Befund: Eine Fistel hat die Inkontinenz ausgelöst, der Riss durch Harnleiter und Blase ist eine Konsequenz der Geburtskomplikationen. Es wird eine Schiene gelegt, sodass dieser zusammenwachsen kann. Zum ersten Mal kehrt so etwas wie Normalität in den Alltag der vierköpfigen Familie ein.
Doch nicht für lange: Der Riss schliesst sich nicht wie erhofft, eine Harnleiterimplantation wird notwendig – es ist die vierte Operation in fünf Monaten. Als die zweifache Mutter ein paar Tage später das Spital verlässt – mit einem Katheter am Bein und der Empfehlung, nicht schwer zu heben – ist sie wie vor den Kopf geschlagen: «Hatte ich nicht klar kommuniziert, dass ich nun alleine mit einem Baby und einem Kleinkind zu Hause sein würde?» Sowohl Mann als auch Mutter sind schliesslich längst wieder fest in den Arbeitsalltag eingebunden. Über Umwege erfährt Rahel von einem internen Sozialdienst, der sie hätte unterstützen sollen. Sie beschwert sich im Spital, und dieses weist ihr umgehend eine Sozialarbeiterin zu, die für die Familie eine Betreuungslösung sucht. Nur: Die Eltern müssen alle Angebote ausschlagen. «Vieles konnten wir uns finanziell schlicht nicht leisten», erklärt Rahel. «Und die Nächte allein mit Baby wären in keinem Szenario abgedeckt gewesen.» Das wäre aber entscheidend, denn Stephan ist Betriebswächter und arbeitet im Schichtdienst.
Einmal mehr organisieren sich Rupps familienintern: Eine Woche können die beiden Mädchen bei den Grosseltern väterlicherseits verbringen, und das, sagt Rahel, obwohl ihre Schwiegermutter ebenfalls gesundheitlich angeschlagen sei. Stephan findet mit seinem Vorgesetzten einen Weg, die eigentlich erst für September eingetragenen Ferien im April zu beziehen. Vier Wochen hätte sie nun also, weiss die junge Mutter in diesem Moment, um zu Kräften zu kommen. «Danach musste ich einfach funktionieren.» Noch ernüchternder aber ist die Erkenntnis: «Wenn dich in dieser Notlage dein familiäres Netz nicht trägt, bist du aufgeschmissen.»«Familie wird in der Schweiz immer noch weitgehend als Privatsache betrachtet», sagt Franziska Villiger-Theiler, die als Kinderärztin auch Cataleya und Adriana medizinisch begleitet.
In ihrer Praxis in Wettingen erfährt sie immer wieder von Schicksalen wie jenem der Rupps. Sie suche dann Anlaufstellen heraus und vermittle Betreuungsangebote, aber nicht immer gelinge es ihr, eine passende Lösung zu finden. «Ich fühle mich oft hilflos», erzählt sie. «Es dürfte eigentlich nicht sein, dass Familien in solchen Dingen auf ihre Kinderärztin angewiesen sind.» Sie staune immer wieder, wie es trotzdem fast alle schafften, diese schwierige Zeit irgendwie zu überbrücken – meist mit sehr viel Rückhalt von Angehörigen, Freunden oder Nachbarn.
Natürlich gebe es gute Dienste, an die sich betroffene Familien wenden können, betont Villiger-Theiler. Je nach Kanton und Gemeinde falle die Auswahl jedoch sehr unterschiedlich aus. «Ganz viel hängt schlussendlich vom grossen Engagement einzelner Personen und Organisationen ab.» Manchmal greife auch das öffentliche Gesundheitssystem, etwa, wenn bei einer schweren postpartalen Depression die Mutter gemeinsam mit dem Baby hospitalisiert werden könne. «Aber auch dann ist nicht geklärt, wer etwa zu den Geschwisterkindern schaut.»
Hinzu kommt: Viele Lösungen sind privat und müssen von den Betroffenen selbst finanziert oder mitfinanziert werden. Gerade zügig verfügbare Hilfe hat meist ihren Preis. Wer für fünf Tage pro Woche einen Notfallplatz in der Kita braucht, für eines oder mehrere Kinder oder eine Nanny einstellen muss, zahlt bald einmal mehrere Tausend, wenn nicht Zehntausende von Franken. Und auch wenn Organisationen wie das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) oder die Spitex lohnabhängige Tarife für den Entlastungsdienst oder die Haushaltshilfe verrechnen, heisst das nicht, dass sich diese alle leisten können. Kostenlose und niederschwellige Angebote haben dafür oft lange Wartefristen oder decken die Bedürfnisse der Betroffenen nur begrenzt ab.
«Die Lösungen sind sehr individuell und abhängig davon, wo eine Familie wohnt, wie sie versichert ist und welche finanziellen Mittel sie hat», sagt auch Franziska Hochstrasser, die stellvertretende Leiterin des Sozialdienstes im Kantonsspital Aargau. Wo das Geld knapp sei, lohne es sich aber, einen Antrag an Organisationen wie das SRK auf Kostenerlass zu stellen oder gemeinnützige Stiftungen um Hilfe zu bitten; der Sozialdienst unterstütze Familien beim Aufsetzen solcher Gesuche. Die Sozialarbeiterin räumt aber ein: Natürlich bedeute dies für die Betroffenen auch administrativen Aufwand und Abwarten in einer Lage, die eigentlich keinen Aufschub dulde.
Einig sind sich deshalb Fachleute: Ohne die eigenen Eltern oder Schwiegereltern ist eine solche Notlage fast nicht zu bewältigen. «Grosseltern sind in der Schweiz unverzichtbar», sagt Villiger-Theiler. Aber selbst wenn diese einsprängen – irgendwann kämen auch Grosseltern an ihre Grenzen.
Manchmal beanspruchen Familien aber auch bewusst keine Hilfe von aussen. Denn so unbegründet sie in den allermeisten Fällen sein mag: Die Angst, dass einem das Kind weggenommen wird, wenn man erst einmal eingesteht, dass man gerade nicht alleine für dieses sorgen kann, ist für viele Eltern sehr real. «Das hat vielleicht auch historische Gründe», gibt Villiger-Theiler zu bedenken. Schliesslich sei es noch nicht allzu lange her, dass Kinder in der Schweiz aus ihren Familien gerissen wurden. «Heute braucht es aber extrem viel, bis jemand fremdplatziert wird.»
Solche Zurückhaltung erlebt auch Franziska Hochstrasser regelmässig. Sie wünscht sich deshalb: «Familien sollten wissen, dass es mehr als legitim ist, Hilfe zu holen.» Ein solcher Schritt bedeute nicht, die Entscheidungsfreiheit aufzugeben. Rahel ging es damals nicht anders: Mehrmals habe man sie darauf hingewiesen, dass sie sich auch an die Anlaufstelle der Psychiatrischen Dienste des Kantons Aargau wenden könne: «Für mich aber war klar: Dort gehe ich bestimmt nicht hin.» Denn: Was wäre, wenn man sie dort behielte? Wer würde dann zu ihren Töchtern schauen? Wie lange könnte ihr Mann der Arbeit fernbleiben, bevor er seine Stelle verlöre? «Ich hatte immer das Gefühl, dass ich mit niemandem hundertprozentig offen sein kann.» Ohne therapeutische Hilfe wäre aber auch Rahel nicht dort, wo sie heute ist. Inzwischen hat die Aargauerin eine Selbsthilfegruppe Geburtstrauma gegründet, unterstützt von der kantonalen Selbsthilfeorganisation, und bei der Eidgenössischen Kommission dini Mueter (EKdM), die sich für bessere Bedingungen rund um Mutterschaft und Kinderbetreuung einsetzt, hat sie eine eigene Arbeitsgruppe initiiert. «Es darf einfach nicht mehr sein, dass Familien so auf sich alleine gestellt sind.»
Wenn Mutter oder Vater aus gesundheitlichen Gründen nach einer Geburt ausfallen, ist der Beistand für Familien gerade auf Bundesebene sehr dürftig. So deckt die obligatorische Kranken- oder Unfallversicherung keine Kosten für Kinderbetreuung oder Haushaltsführung. In manchen Fällen können Leistungen über die Zusatzversicherung abgerechnet werden, doch gilt es, dort die Voraussetzungen gut zu prüfen. Und die hart erkämpften zwei Wochen Vaterschaftsurlaub? Sind in einer solchen Ausnahmesituation viel zu schnell vorbei.
«Den Familien bleibt als einziger Weg oft nur, den gesunden Elternteil krankschreiben zu lassen», sagt der freisinnige Ständerat Damian Müller, der sich schon länger mit dem Thema beschäftigt. Erst kürzlich erreichte er mit einer Motion eine klarere Umsetzung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung. Eltern von schwerkranken Kindern sollten einfacher Leistungen beziehen können und so finanziell besser abgesichert sein. Die 2021 in Kraft getretene Gesetzesänderung hätte bisher weder Eltern noch Arbeitgeber wie vorgesehen entlastet, kritisiert der Politiker. Eine Anpassung des Erwerbsersatzgesetzes soll dies verbessern.
Der Sozialdienst des Kantonsspitals Aarau empfiehlt Familien ebenfalls, prüfen zu lassen, ob in einer Betreuungsnotlage ein ärztliches Zeugnis ausgestellt werden soll. «Viele Väter scheuen einen solchen Schritt jedoch», weiss Franziska Hochstrasser, die stellvertretende Leiterin des Sozialdienstes im Kantonsspital Aargau. «Die Sorge, die Stelle zu verlieren, ist gross.» Die Sozialarbeiterin empfiehlt, transparent mit dem Arbeitgeber zu kommunizieren; nicht selten sei das Verständnis grösser als gedacht, und der oder die Vorgesetzte habe selbst schon Ähnliches erlebt.
Die Angst ist aber nicht immer grundlos. Im Gegensatz zu Ländern, die Elternzeit gewähren und nicht Mutterschaftsurlaub, sei man in der Schweiz nicht darauf eingestellt, dass auch frischgebackene Väter im Betrieb eine Weile lang weniger präsent seien, sagt Franziska Villiger-Theiler, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin. «Schon eine Woche unbezahlten Urlaubs wird von vielen Arbeitgebern als grosses Entgegenkommen gesehen.» Die Kinderärztin weiss von einer Familie, in der die Mutter nach der Geburt mehrere Wochen hospitalisiert war und der Vater für diese Zeit krankgeschrieben wurde, um bei den anderen Kindern zu Hause zu bleiben. Wenig später wurde er entlassen. Eine Umstrukturierung, hiess es als Begründung. Alles schwarzmalen will die Kinderärztin dennoch nicht: Die neue Generation wolle vieles anders machen – und dürfte auch als Vorgesetzte ein neues Verständnis der Vaterrolle mitbringen.
Handlungsbedarf sieht auch Pro Familia, der Dachverband der Familienorganisationen in der Schweiz. Die Organisation unterstützt unter anderem eine Standesinitiative des Kantons Waadt: Bei schweren Komplikationen nach der Geburt, so deren Anliegen, sollen Mutterschaftsurlaub und Mutterschaftsentschädigung um die Dauer des Spitalaufenthalts verlängert werden, wenn dieser mehr als zwei Wochen dauert. Heute könnten Mütter dies zwar geltend machen, wenn das Baby krank sei – nicht aber, wenn sie selbst länger hospitalisiert würden. Die Ständeratskommission für soziale Sicherheit und Gesundheit hat die Forderung inzwischen als Motion eingereicht.
Dieser Text erscheint in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Magazin «Grosseltern»