Spielen
Bang bang!

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Vor dem Kinderzimmer geht es manchmal zu und her wie Samstag abends vor dem In-Club. Hinein kommt nur, was genaustens geprüft ist: Eine barbusige Barbie? Vergiss es, zu sexistisch, zu dünn. Der blinkende Roboter? Billiger Quatsch. Spielzeugwaffen? Auf gar keinen Fall! Gut genug ist das hochwertige, teure Spielzeug: die Holztiere vom Bauernhof, die Briobahn, das Puzzle und vielleicht noch der Lerncomputer. Alles pädagogisch. Alles von Fachleuten geprüft und empfohlen. Schliesslich ist Spielen gleich Lernen.
Letzteres stimmt. Nur ist das wertfreie Spiel in Verdacht geraten, blosse Zeitverschwendung zu sein. Also wird es pädagogisch überholt und didaktisch aufbereitet. Nicht umsonst machte der Begriff «pädagogisch wertvoll» in der Wohlstandsgesellschaft der Nachkriegszeit Furore: «Welche Freude für sorgende Eltern, ihren Kindern sinnreiches und psychologisch wertvolles Spielzeug zu schenken, entwickelt es doch die schlummernden Kräfte im Kinde auf vorteilhafte Weise.» So warb bereits 1959 ein Spielwarengeschäft in Schweizer Zeitschriften und Zeitungen. Bis heute ist jedoch nicht definiert, was denn nun genau «pädagogisch wertvoll» ist. Gemäss Reto M. Zurflüh vom Spielwaren Verband Schweiz existiert kein eigentliches Label dafür. Zum Glück vielleicht: Denn Erwachsene und Kinder verstehen unter wertvollem Spiel oft ganz etwas anderes.
«Lasst eure Kinder in Ruhe!», fordert deshalb Wolfgang Bergmann in seinem gleichnamigen Buch, das Ende April, kurz vor seinem Tod, erschienen ist. Der Erziehungswissenschaftler gehörte zu den bekanntesten Deutschlands und kämpfte ein Berufsleben lang gegen die pädagogische Vereinnahmung des Kinderzimmers. Vehement pochte er auf das Recht der Kinder, spielen zu dürfen wann und womit sie wollen. Egal, wie pädagogisch sinnlos das auf uns Erwachsenen wirken mag. Denn Kinder spielen, weil sie die Welt von Grund auf kennenlernen müssen. «Allem voran entwickeln Kinder im Spiel die Sprache», weiss Logopädin Claudia Dürmüller. Sie bringt Kinder mit Kommunikations- und Sprachschwierigkeiten zum Reden – indem sie mit ihnen spielt. Spielen helfe vielen Kindern, eine Blockade zu lösen oder ein Trauma zu verarbeiten, weiss die Fachfrau. Wo, wenn nicht in Durmüllers Arbeitszimmer, müsste man es also finden, das optimale Spielzeug? Bauklötze und die Briobahn aus Holz liegen ganz selbstverständlich auf dem Regal neben Schwertern, Feuerwehrautos, einem Piratenschiff mit Bomben und vielen Tieren – letztere allesamt aus Plastik. «An echt aussehenden Tieren haben Kinder viel mehr Freude als an Holztieren», sagt Dürmüller, selber aufgewachsen in den 80ern, als Barbies tabu waren und die Überzeugung galt: «Plastik gleich böse». Und sie verteidigt auch gleich das Waffenarsenal auf dem Spielzeugregal: Gerade Waffen gehörten zu den Lieblingsspielzeugen vieler Jungen, sagt sie. Allerdings gehe es nicht ums Töten an sich – was besorgte Eltern oft befürchten – sondern darum, sich mit Stärke und Zielgerichtetheit auseinanderzusetzen; ein wichtiger Teil der Persönlichkeitsentwicklung. Den Kindern Spielzeugwaffen vorzuhalten, bringe nichts: «Kinder sind erfinderisch. Notfalls wird eben einfach das Geleis der Briobahn zum Schwert umfunktioniert.»
Spielzeug hat keine Moral
Zentral an der Spieltherapie ist, dass die Kinder selber entscheiden, womit sie spielen wollen «Ein Kind lernt nur dann wirklich, wenn es sich für etwas interessiert», so Dürmüller. Wolfgang Bergmann ging noch einen Schritt weiter. Seiner Meinung nach behindern Eltern, die ihr Kind zum pädagogischen Spiel zwingen, sogar die kindliche Intelligenz: «Eine Art intellektuelle Misshandlung der Kleinen», sei das. Das Lernen dürfe nicht das erste Ziel eines Spiels sein, sonst gehe es schief.
Tatsächlich hängt man heute jedem Spass ein pädagogisches Mäntelchen um: Selbst fürs Seifenblasen oder Gärtnern gibt es mittlerweilen Experimentierkästen, die pädagogischen Mehrwert bieten sollen. Ob dieser auch ankommt sei dahingestellt. Denn Tatsache ist zudem, dass Kinder beim Spielen auch ohne Masterplan viel über die Welt lernen, in der sie leben. Kleinkinder etwa nehmen jeden Gegenstand in den Mund, weil sie dabei im wahrsten Sinn des Wortes begreifen, wie etwas aussieht und schmeckt. Ob Schwingbesen oder Ball ist für die kleinen Entdecker einerlei. Die zweite Spielstufe nennt sich «So tun als ob». Dabei bauen sich die Kinder eine Fantasiewelt auf: Der Sirup wird zum Zaubersaft und der Baum zur Haltestelle. Später folgt das Rollenspiel, bei dem sich die Kleinen in verschiedensten Berufskategorien und Geschlechterrollen versuchen. Ob nun die Barbie Frau Doktor spielt oder die Puppe aus Stoff ist das Einzige, das dabei keine Rolle spielt. Auf keiner einzigen der drei Stufen ist Lernspielzeug nötig. Denn oft sind die Kinder erst im Kindergartenalter bereit für Stufe vier: die Regelspiele. «Eltern tun ihren Kindern keinen Gefallen, vorher Brett- oder Kartenspiele zu kaufen», sagt Claudia Dürmüller. Selbst in Kindergärten, die ja durchaus einen Bildungsauftrag zu erfüllen haben, ist nicht das Förderspiel, sondern noch immer das Freispiel das zentrale Element. Welche Spielsachen angeboten werden, entscheidet jede Lehrperson selber. Meist gehören didaktische Spielsachen dazu wie Puzzles oder Würfelkästen, Bauklötze, Malsachen, Bilderbücher, Instrumente und Material für Rollenspiele, aber auch wertloser Abfall wie WC-Papier-Rollen.
«Grundsätzlich kann das Kind beim Spielen immer lernen, egal, ob es das mit Lernspielzeug tut oder mit einem Alltagsgegenstand », sagt Brigitte Hilty Haller, Rektorin der Kindergärten Basel. Die Kindergärtnerin Regula Bachofner aus Thalwil findet es zwar wichtig, dass Spielzeug im Kindergarten auch pädadogisch Sinn macht. Sie baut aber auch mal eine Figur aus den Medien ins Spiel ein und verbannt auch den PC nicht aus dem Zimmer.
Die Meinung, Kinder mit Spielzeugen läutern zu können, scheint heute passé. «Man sollte Spielsachen nicht moralisch überbewerten. Sie haben an sich keinen Wert oder Unwert», sagt denn auch Thomas Jaun, Leiter der höheren Fachschule für Kindererziehung in Zug. Und erinnert daran, dass Spielen und Spass haben zu den wenigen Tätigkeiten gehören, die Eltern dem Nachwuchs nicht vorschreiben können. Es gibt kein selbstvergessenes Spiel auf Befehl und keinen Spass auf Kommando. Kinder spielen nicht, um zu lernen. Sie lernen, wenn sie spielen.