Benimm
Anstand? Ja, bitte!
Wer Kinder hat, kennt das: Der kleine Ben bekommt von der Verkäuferin an der Kasse ein Bonbon. Doch statt Danke zu sagen, wuselt er am Papier rum. «Sag bitte Dankeschön», mahnt Papa. Doch der Vierjährige streicht sich stumm mit dem Ärmel den Rotz auf die Backe und steckt sich die Süssigkeit in den Mund. Der Vater, nun ungeduldig, befiehlt: «Sag jetzt Dankeschön!» Ben verkrümelt sich stumm hinter Papa. Vor der Kasse staut sich die Schlange, die Leute glotzen auf Ben und Papa. «Er ist halt ‹äs bitzli schüüch›», sagt Papa hilflos, packt Sohn und Einkauf und verkrümelt sich.
Wer Kinder hat, ist bestimmt auch schon der einen oder anderen Lotta begegnet. Wenn Lotta, sie ist acht Jahre alt, auf dem Schulweg die Nachbarin trifft, schaut sie lieber zu Boden als ihr ins Gesicht. «Grüezi» sagen, findet Lotta unnötig. Das findet Mama zwar nicht. Aber trotzdem ist sie unsicher: Muss sie das dem Kind wirklich aktiv beibringen? Lottas Mutter bezeichnet sich selber als Individualistin, und eigentlich will sie ihrem Kind keine gesellschaftlichen Zwänge weitergeben. Sie will, dass Lotta, wenn sie grüsst, es freiwillig tut. Auf diese Weise erspart sie sich das öffentliche Spiessrutenlaufen, wenn der Spross partout den Mund nicht aufmachen will.
Anstand zeugt von Respekt
Zugegeben: Auch ein Platz im Kinderkniggekurs wird wohl nicht verhindern, dass die Zwölfjährige auf die abgedroschene Frage: «Wie heisst denn das Zauberwort?», statt des erwarteten «Bitte» mal ein «Aber dalli» antwortet. Das hat anfangs sogar noch einen gewissen Unterhaltungswert. Und Mütter, die ihr Kind mit einem scharfen «wie säit me?» anfahren, noch bevor die Kleine das «Fleischrölleli» vom Metzger in der Hand hält, gelten auch nicht als die grossen Sympathieträger.
Aber: Wundern wir uns nicht selber über das Nachbarskind, wenn es uns düster und stumm anglotzt, statt ein schlichtes «Hallo» zu sagen? Oder ärgern uns gar, wenn die Tochter der besten Freundin, kaum zur Tür rein, «wott Sirup» schreit, sich über den Kuchen hermacht und die Smarties obendrauf abklaubt? Finden wir das nicht alle ziemlich befremdend, um nicht zu sagen unanständig, erst recht, wenn die Mutter nicht dran denkt, einzuschreiten? Und garantiert bleibt einem die Spucke weg, wenn der Freund der Teenagertochter sich einfach mal so aus dem Kühlschrank bedient, ohne zu fragen.
Sind wir deswegen verstaubt und konservativ, zu wenig locker?
«Nein», findet Annette Cina, Psychologin am Institut für Familienforschung und -beratung der Uni Fribourg. «Da darf man sich schon daran stören.» «Anstandsregeln braucht es für ein angenehmes Zusammenleben. Egal, ob in der Familie oder in der Gesellschaft», sagt Melitta Steiner, Sozialpädagogin bei der Kinderberatungsstelle Pinocchio in Zürich. Regeln würden meist von der älteren an die neue Generation weitergegeben und somit die kulturellen Werte einer Gesellschaft sichern. «Danke sagen, nicht auf dem Zugpolster die Schuhe deponieren, jemandem den Vortritt lassen, drückt Respekt aus», so Steiner. Und darum gehe es letztendlich. Individualismus, sagt Steiner, sei okay für Erwachsene, die keine Kinder hätten. «Hat man aber Kinder, kann man sich nicht um alle Regeln und gesellschaftlichen Normen futieren.» Man tue Kindern keinen Gefallen, wenn man ihnen gewisse Regeln nicht beibringe. «Schwierigkeiten sind meist vorprogrammiert », so Steiner, «und diese müssen letztlich die Kinder aushalten.»
So wie der fünfjährige Luca. Seine Mutter erzählt, dass er sich wahnsinnig auf den Kindergarten gefreut habe. «Doch bereits nach kurzer Zeit ging er nicht mehr gerne hin.» Die Lehrerin sei nicht lieb, erzählt er der Mutter. Als die im Kindergarten nachfragt, erklärt die Lehrerin, dass sich Luca anderen gegenüber äusserst rücksichtslos verhalte, sich ungefragt nehme, was er wolle und oft üble Worte gebrauche, wenn er etwas nicht bekomme. Luca müsse erst lernen, sich in die Gruppe zu integrieren.
Kleine Rüpel leiden zuerst
«Spätestens im Kindergarten und der Schule wird ein Kind mit klaren Regeln konfrontiert», so Melitta Steiner. «Hat es gewisse Anstands- und Umgangsregeln nicht gelernt, eckt es an, weiss dann aber oft gar nicht warum.» Dies führe zu unnötigen Spannungen und Verunsicherungen. «Kinder nämlich möchten ihre Sache in der Regel gut machen und bei anderen gut ankommen», sagt Steiner. Sie können nichts dafür, wenn unhöfliches Benehmen von den Eltern nie sanktioniert wurde. Natürlich kann Hans noch lernen, was Hänschen nicht gelernt hat. Das gilt auch für den Anstand. «Einfacher aber ist es, wenn man den Kleinen von Anfang an vormacht und vorlebt, wie man in unseren Breitengraden miteinander umgeht», empfiehlt Psychologin Annette Cina. «Die Familie ist das beste Übungsfeld », so Cina. Kinder seien nämlich Spezialisten im Beobachten und Nachahmen. Modell-Lernen sei deshalb extrem effizient. Dass es dabei aber Pannen gibt, dass es nicht immer klappt mit «Danke und Grüezi» sagen, findet Cina «absolut normal, das gehört dazu».
Bleibt die Frage: Wie viel Benimm gehört zur elterlichen Erziehungsaufgabe? Und wann beginnt die Dressur?
Viele Eltern tun sich nämlich schwer damit, zu entscheiden, welche gesellschaftlichen Konventionen sie ihrem Kind weitergeben wollen und welche nicht. Das beobachten auch Fachleute: «Man spürt zwar eher wieder die Tendenz, dass Eltern ihre Kinder bewusst leiten und begleiten wollen», so Annette Cina. Doch die Verunsicherung sei generell sehr gross. «Die Spannbreite, wie man sich verhalten darf oder kann, ist heute sehr weit», sagt Melitta Steiner. Früher war es selbstverständlich, dass man einem älteren Passagier im Tram seinen Sitzplatz angeboten hat; heute bleibt die Mehrheit, nicht nur die Jugend, sitzen. Dafür feilt man sich im Zug die Nägel und plaudert am Handy über Intimitäten. Soll ein Stringtanga für alle sichtbar sein oder nicht? Ist das Tragen einer Mütze im Schulunterricht schon respektlos oder bloss ein Ausdruck modischer Identität? Dass Vandalismus und Gewalt sich nicht gehören, das würden wohl alle unterschreiben. Da aber hört die Einigkeit schon auf. «Wir leben in einem Vakuum an Konventionen », so Steiner.
Welche Anstandsregeln sind heute noch verbindlich? Annette Cina formuliert den kleinsten gemeinsamen Nenner: «Kinder sollten lernen, wie man auf andere Menschen zugeht, sie grüsst, ihnen in die Augen schaut und die Hand gibt, wie man mit anderen Menschen kommuniziert», so Annette Cina. Das zu können, gebe ein gutes Gefühl und Selbstvertrauen. Zum kommunikativen Anstand gehört auch, dass man nicht einfach zuschlägt oder Schimpfwörter austeilt, wenn man etwas nicht bekommt. Auch ein Bitte oder Danke und gute Tischmanieren gehören zur Grundausstattung in Sachen Benimm. Und zu guter Letzt sollte man sich hinstellen und sich entschuldigen können, wenn man einen Fehler gemacht hat. Auch wenn es nicht Absicht war.
Humor und viel Übung
- Wissen, was man will: Eltern müssen sich klar werden, welche Werte sie vermitteln wollen. Nur wer weiss, welche Regeln in der Familie als verbindlich gelten sollen, kann diese auch durchsetzen.
- Auf Regeln bestehen: Will man, dass die Kinder beim Tisch sitzen bleiben, dass sie nicht schmatzen, rülpsen, schreien oder singen, gilt es konsequent darauf zu bestehen. Das braucht Zeit und Geduld. Bei Kleinkindern Ess-Sitz-Zeiten kurz halten, nach und nach verlängern. Ab etwa fünf bis sechs Jahren sollten Kinder sitzen bleiben können. Keine Regel ohne Ausnahme. Doch wo jeden Tag neue Regeln gelten, gelten bald keine mehr.
- Modell-Lernen: Benehmen Sie sich so, wie sie gern hätten, dass das Kind sich benimmt. Mutter und Vater sind die wichtigsten Vorbilder. Wichtig: Kinder höflich und respektvoll behandeln, sonst leidet die Glaubwürdigkeit.
- Üben, üben, üben: Bei kleineren Kindern immer wieder sanft nachhelfen: «Sag noch Dankeschön», oder «Komm, wir geben die Hand beim Grüezisagen.» Weigert sich das Kind, locker bleiben, einspringen und die Handlung übernehmen. In einem ruhigen Moment das Thema wieder ansprechen, erklären, warum Grüssen und Danken wichtig ist. Motivieren, es das nächste Mal wieder zu versuchen.
- Rollenspiele: Ist das Kind sehr scheu, braucht Anstand mehr Zeit, Geduld und Feingefühl. Mit Druck ist nichts gewonnen. Manchmal helfen Rollenspiele weiter: Man übernimmt die Rolle des Kindes, grüsst und kehrt die Rolle dann um. Das hilft dem Kind, die Handlungen einzuüben.
- Diskutieren: Mit älteren Kindern kann man gut über den Sinn von Anstand und Regeln diskutieren. Sie schätzen es, wenn ihre Meinung gefragt ist, und man staunt manchmal, wie wichtig für Kinder Werte und Regeln sind.
- Humor: Das Thema mit Humor, Lust, Lob und Anerkennung angehen, die Schwere rausnehmen. Das schafft Luft und mehr Leichtigkeit. Nicht vergessen: Vor der Erziehung kommt immer die Beziehung.
Anstand bringt weiter
Wie viel Anstand einem Kind in welchem Alter zuzumuten ist, ist von seiner Entwicklung abhängig. Klar ist: Das Kleinkindalter ist die Zeit des Trainierens und Übens. «Im Vorschulalter sollte ein Kind wissen, dass man keine Fluch- oder Schimpfwörter gebraucht; es sollte am Esstisch sitzen bleiben können, bis alle fertig sind, die wichtigsten Tischmanieren kennen, wissen, wie man jemanden grüsst und dass man nicht einfach zuschlagen darf», sagt die Psychologin. Ungefähr ab acht Jahren bleiben die Kids dann schon mal freiwillig bei Tisch, weil sie sich anfangen, für die Erwachsenengespräche zu interessieren. Auch das Grüssen, Danken und Entschuldigen sollte in diesem Alter sitzen, findet die Familienpsychologin.
Und wenn das Kind dann endlich nett zu Mensch und Umwelt ist, kommt die Pubertät. Dann kann schon passieren, dass aus dem anständigen Mädchen plötzlich ein rotzlöffliger Teenager wird, der sich am Familienfest bewusst unfreundlich und frech benimmt. Was dann? Mehr als dem Teenager auf der Gefühlsebene klarmachen, wie er auf andere Leute wirkt und welche Konsequenzen sein Verhalten auf die Beziehung zu diesen Menschen haben kann, könne man dann nicht mehr tun, sagt Cina. Es liege dann in seiner Verantwortung, wie er sich seinen Mitmenschen gegenüber präsentieren wolle. Sicher aber ist es erlaubt, sich zu überlegen, ob man den Miesepeter weiterhin mitnehmen und sich ärgern will, oder ob man ihn nicht lieber zu Hause lässt und einen schönen, entspannenden Tag hat.
Kinderberatungsstelle Pinocchio Zürich: www.pinocchio-zh.ch
Institut für Familienforschung und -beratung Fribourg: www.unifr.ch/iff/