100% Bedeutung, 100% Aufmerksamkeit
Von Caren Battaglia
Sind Kinder heute wirklich so unkonzentriert? Nicht, wenn ihnen etwas wichtig ist. Nur – wer bestimmt eigentlich, was wichtig ist?
Ein Bauer braucht für 10 Kühe sechs Ballen Heu, er kauft drei weitere Kühe…» Statt die Heuballenmenge auszurechnen, steht Mia von ihren «Ufzgi» auf und holt sich einen Saft. Ein Bauer braucht… Sie blickt aus dem Fenster. Ein Bauer… Haben die Meerschweinchen eigentlich noch Wasser? Mia ist nicht bei der Sache. Sie ist unkonzentriert. Typisch.
Die Klage «Kinder können sich nicht mehr richtig konzentrieren» zieht sich liturgisch durch Zeitungen, Zeitschriften, Erzieher- und Lehrergespräche. 40 Prozent der deutschen Mütter und Väter bemängeln in einer Infratest-Umfrage, ihr Kind habe Konzentrationsprobleme. Schweizer Zahlen dürften ähnlich aussehen. Längst hat der Markt begeistert darauf reagiert: Bücher mit Titeln wie «Konzentrationsschwäche – Wie Eltern helfen können», «3 Minuten Konzentration – Übungen für zwischendurch» und «Konzentration trainieren, Gedächtnis schulen » füllen Regalmeter. Medikamente, die dem Übel chemisch beikommen sollen, bringen Milliardenumsätze. Allein der Verbrauch der Pille Ritalin stieg innerhalb von 10 Jahren weltweit um 700 Prozent.
Doch ist die allgegenwärtige Behauptung von der grassierenden Unkonzentriertheit in ihrer Pauschalisierung überhaupt richtig? Nein. Denn was und wer da alles grosszügig mit dem Label «Konzentrationsschwäche » versehen wird, hat oft ähnlich viel gemein wie Stöckelschuh, Appenzeller Milchkuh und Volleyball gemein haben, die ja auch alle irgendwie aus Rindshaut sind.
Das Schlüsselwort heisst: Interesse
Da ist der zweijährige Sebastian, von dem seine Mutter findet, er müsste doch länger als eine halbe Stunde allein in seinem Zimmer spielen können. Die fünfjährige Alina, die genau weiss, welches Znüni Rebekka im «Chindsgi» hatte, aber nicht, wo ihre Handschuhe sind. Und da ist der 14-jährige Lukas, der im Unterricht wibbelt und hibbelt, aber abends stundenlang still an der X-Box sitzt. Alles Kinder mit Konzentrationsproblemen? «Ungünstig an der ganzen Konzentrationsschwäche- Diskussion ist schon mal der Begriff», erklärt Gerald Hüther, Professor für Neurobiologie an der Universitätsklinik Göttingen. Konzentration suggeriere Objektivität, lege nahe, dass es um etwas gehe, das man trainieren könne, das einer mehr, der andere weniger habe. «Aufmerksamkeit ist der bessere Begriff. Aufmerksamkeit beinhaltet das Subjektive. Nämlich, dass etwas für eine Person bedeutsam sein muss, damit die Aufmerksamkeit überhaupt dahin wandert.»
Eine Unterscheidung, die auf den ersten Blick als wissenschaftliche Haarspalterei erscheinen mag. Doch auf den zweiten lohnt es hinzuschauen, was für diesen Menschen bedeutsam ist – oder eben nicht. Für Sebastian ist seine Mama vielleicht im Augenblick wichtiger als seine Spielsachen, für Alina ist die neue Freundin wichtiger als die Handschuhe und Lukas hat mit der Schule ohnehin seit Monaten abgeschlossen. Kassiert ja eh nur Dreier. Aber abends beim Counter Strike, da ist er ein Held.
«Was 100 Prozent bedeutsam für uns ist, bekommt 100 Prozent Aufmerksamkeit », sagt Gerald Hüther. «Konzentrationsprobleme sind häufig Bedeutsamkeitsprobleme. » Statt zu fragen, wie die Konzentration der Kinder zu pushen sei, müsse man vielmehr fragen: Interessiert sie die Sache überhaupt? Ist ihnen die Relevanz für ihr Leben klar? Und – ist das überhaupt wirklich wichtig? Gesundheit ist wichtig. Und Schulnoten. Und beim Reitturnier nicht Letzter zu werden und – laut Schlagzeilen – Jörg Kachelmanns Liebesleben. Fleissig Geige zu üben ist wichtig, findet Mama. Keinen Pickel zu haben, sagt die Werbung, schlank zu sein, das richtige Auto zu fahren, später viel Geld zu haben, wer bei «Popstars» gewinnt; und zu wissen, was «weisse Maus» auf französisch heisst, behauptet der Lehrer.
Wo alles wichtig wichtig ist, nur nie die echten Bedürfnisse der Jungen und Mädchen, da klinken sich Kinder aus. Und was interessiert, worauf sie sich konzentrieren mögen, variiert mit dem Alter. Klingt selbstverständlich, wird dennoch nur wenig beachtet.
Das zeigt etwa eine Studie der Michigan State University an 12 000 Kindern. Im Rahmen der Untersuchung stellte der Wissenschaftler Todd Elder nämlich fest, dass die jeweils Klassenjüngsten der Primarschulen eine um 60 Prozent erhöhte Wahrscheinlichkeit haben, ein «Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom» (ADS) bescheinigt zu bekommen. Auch in der 8. Klasse waren die Jüngsten angeblich doppelt so oft krankhaft aufmerksamkeitsgestört wie die Ältesten und wurden entsprechend doppelt so oft mit Medikamenten behandelt. Offenbar wird schnell intellektuelle und emotionale Unreife oder altersbedingt noch fehlendes Interesse für einen bestimmten Unterrichtsstoff mit pathologischer Konzentrationsschwäche gleichgesetzt. Für einen entwickelten 12-Jährigen ist Aufklärungsunterricht hoch spannend, für seinen 11 Monate jüngeren Klassenkameraden vielleicht einfach nur «Wäh». Da wird die Fliege am Fenster faszinierender als das Procedere eines Eisprungs, die Hirnaktivität wird auf Standby runtergefahren. Denn nur wenn genügend Motivation für einen Stoff vorhanden ist, wird im Gehirn der Botenstoff Noradrenalin ausgeschüttet, der die Aufmerksamkeit schärft.
Durchhalten, Selbstdisziplin, Geduld
Dazu kommt die simple Tatsache, dass jüngere Kinder auch gedanklich nur kürzer bei einer Sache verweilen können. 6-Jährige schaffen das im Schnitt 15 Minuten, 9-Jährige 20 und 12-Jährige 30 Minuten am Stück; eine Schulstunde dauert 45 Minuten.
Die und noch viel länger durchzuhalten erfordert Selbstdisziplin und Geduld. Nur: Wer hat die heute noch? Erwachsene, die im Zug gleichzeitig telefonieren, dem Schaffner das Billett zeigen und nebenher in einer Pendlerzeitung blättern? Eltern, die morgens im Stehen Kaffee trinken und dabei Schulbrote schmieren? «Der Gesellschaft fehlt eine Ordnung des Wartens», so der Hannoveraner Kinderpsychiater Wolfgang Bergmann gegenüber Focus online. Kaum ein Kind erfahre noch zu Hause, dass viele Dinge einfach Zeit brauchen und nur durch Anstrengung zu haben sind. «Das beginnt damit, dass Kinder lernen müssen, am Mittagstisch so lange sitzen zu bleiben, bis alle fertig sind.» Struktur beugt Action-Hopping vor.
Natürlich gibt es Kinder, deren Aufmerksamkeitsfähigkeit wirklich krankhaft gestört ist. Selbstverständlich sorgen Therapie und gegebenenfalls Medikamentierung bei den betroffenen Familien für enorme Erleichterung.
Viele der vermeintlichen Krankheiten haben jedoch ihren Ursprung darin, dass der Zappelphilipp derzeit im Zentrum des Interesses steht und – oft sind sie hausgemacht.
So kommen, laut einer Untersuchung der Physiologin Denise Amschler von der Bale University in Indiana, 62 Prozent der Fünftklässler mindestens zweimal wöchentlich unausgeschlafen in den Unterricht. Mit Jetlag-artigen Symptomen: Müdigkeit, Lernschwierigkeiten, Konzentrationsschwäche. Bewegung im gesunden Zwischenreich zwischen überforderndem Leistungssport und einem Dasein als Couch-Potatoe wird zur Rarität. Schulunterricht voll toller Freiarbeit, in dem es ähnlich trubelig zugeht wie auf dem Pausenhof, überfordert ablenkbarere Kinder. Eine Erziehung des «anything goes» sorgt dafür, dass ein Kind jede Richtung ausprobiert, in die man gehen könnte. Und für das «alles so schön bunt hier» bietet die Elektronikindustrie jede Menge Angebote: Computer, Fernsehen, Playstation…
Tiefschlaf im Klassenzimmer
Teufelswerk in den Augen vieler Hirnforscher und Pädagogen. «Verschenken Sie eine Playstation und Sie verschenken schlechte Noten und Schulprobleme», sagt Manfred Spitzer, Professor für Psychiatrie in Ulm. Nachweisbar – und unabhängig von Schichtzugehörigkeit und Intelligenz – sinke die Schulleistung mit der Länge der Zeit, die vor dem Bildschirm verbracht wird. Ebenso proportional sänken die sozialen Fähigkeiten; denn wenn jemand wie etwa ein durchschnittlicher 18-jähriger Amerikaner, schon 32 000 Morde im Fernsehen gesehen hat, von dem ist allzu viel Empathie und Anrührbarkeit nicht zu erwarten. Zudem verderbe die Playstation die Preise. Gehirnscanns Freiburger Wissenschaftler ergaben, dass Kinder zwar über Schulstress klagen, ihre Gehirnaktivität im Klassenzimmer aber derjenigen des Tiefschlafs sehr ähnlich ist, während es dagegen im Gehirn funkt und blitzt, wenn sie am Computer «gamen». Im Wettbewerb um die begrenzte Aufnahmekapazität der 100 Milliarden Nervenzellen des Gehirns haben es unregelmässige Verben gegen Spiele schwer.
«Die Hysterie um die vermeintliche Konzentrationsschwäche heutiger Kinder ist nicht gerechtfertigt», so Spitzer. Aber völlig gerechtfertigt seien sehr ernsthafte Gedanken um die Rahmenbedingungen, unter denen Kinder heute leben.
Freude am Lernen, Spass daran, sich ab und an selbst zu überwinden, um etwas zu erreichen, Ausdauer, Durchhaltewillen… Das seien, so Spitzer, Tugenden, die dringend entstaubt werden müssten. «Zeigen Sie einem Kind wie schön es ist, aus eigener Kraft auf einen Berg zu klettern, statt die Seilbahn zu nehmen. Lassen Sie es in einer Band ein Instrument spielen – und Sie behandeln sehr wirksam seine Aufmerksamkeitsstörung.»